Leipzig kommt auch drin vor, könnte man meinen. Aber Leipzig und Clara Zetkin verbindet viel mehr, als man auf den ersten Blick sieht oder mit dem großen Park im Herzen der Stadt verbindet, der seit 1955 den Namen Clara Zetkins trägt. Denn in Leipzig wurde Clara Eißner erst zu jener Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin, als die sie in die Geschichte einging.
Hier lernte sie den im Exil lebenden Ossip Zetkin kennen, Mitglied der russischen Narodniki-Bewegung, der vor der zaristischen Polizei ins Ausland fliehen musste. Eigentlich war er sogar Ukrainer, Spross einer begüterten Familie aus Odessa, der freilich auf allen Reichtum verzichtete und sich lieber mit kümmerlichen Einkommen durchschlug.
In Leipzig zum Beispiel als Tischler. Beide lernten sich in der Zeit des Bismarckschen Sozialistengesetzes kennen, zu einer Zeit, zu der Clara Zetkin auch längst Bekanntschaft mit Auguste Schmidt gemacht hatte, einer der führenden Vertreterinnen der deutschen Frauenbewegung.
In ihrem Lehrerinnenseminar hatte Clara einen Platz bekommen und arbeitete später auch kurz als Lehrerin, bevor sie sich für den Rest ihres Lebens völlig der politischen Arbeit widmete und mit Ossip erst einmal nach Paris ging. Sie nahm zwar seinen Nachnamen an, geheiratet haben die beiden aber nie.
In Paris wurden die beiden Söhne Maxim und Kostja geboren. In Paris aber starb auch Ossip, durch sein Leben in Armut körperlich völlig geschwächt. 1886 kam Clara noch einmal kurz nach Leipzig zurück, bevor sie für die Arbeit an der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift „Die Gleichheit“ nach Stuttgart ging.
Wenn authentische Erinnerungen fehlen
Felix Huby und Hartwin Gromes lassen sie bei der Gelegenheit auf dem Leipziger Hauptbahnhof von versammelten Arbeitern bejubeln, denn längst war sie in der linken Arbeiterbewegung berühmt, war mit Friedrich Engels, Karl Kautsky und August Bebel bekannt.
Passiert ist das so ganz bestimmt nicht, schon weil es den Hauptbahnhof damals noch gar nicht gab. Auch den Tischler Mosermann, wo die beiden Autoren Ossip Zetkin unterkommen lassen, sucht man in den Adressbüchern der Zeit vergeblich. Es sieht ganz so aus, als würden die existierenden Biografien zu Clara Zetkin hier nicht weiterführen. Wahrscheinlich fehlt die direkte Forschung in Leipzig noch.
Denn ihre Lebenserinnerungen hat Clara Zetkin selbst nie geschrieben. Da wäre vielleicht all das Persönliche sichtbar geworden, das in den vielen parteilichen Schriften, die sie zeitlebens verfasst hat, nicht vorkommt.
Schriften, aus denen die beiden Autoren immer wieder zitieren, sodass die Leser dieser Romanbiografie, die auch die späteren Schicksale von Claras Söhnen (und Schwiegertöchtern) umfasst, zumindest ein Gefühl dafür kriegen, wie hart und wortgewaltig der politische Streit damals ausgetragen wurde.
Auch mit welchen Träumen und Illusionen. Man mag ja die heutige SPD kaum noch daran erinnern, mit welchem revolutionären Pathos sie damals gegen das Kaiserreich, die Ausbeutung und den Krieg kämpfte und wie sie noch bis in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg tatsächlich die Weltrevolution und den Systemwechsel in Deutschland forderte.
Dass die stärkste Fraktion im Reichstag dann so schnell einknicken würde, als es um die Kriegskredite für Wilhelm II. ging, das hatte auch eine Clara Zetkin nicht erwartet. Und sie war nicht die einzige, die das als Verrat empfand.
Gerade in dieser Zeit ist ihr Leben aufs Engste verflochten mit dem von Rosa Luxemburg, der anderen großen Frau der linken Arbeiterbewegung, die dann aber die kaiserlichen Behörden vorsorglich in Festungshaft nahmen, genauso wie Karl Liebknecht, weil sie die Beharrlichkeit, mit der die beiden gegen den Krieg agitierten, tatsächlich für gefährlich hielten.
Revolutionäre in der „Villa Zundel“
Dass aber die Schärfe der Auseinandersetzung nicht daran hinderte, miteinander zu reden, macht Clara Zetkins lebenslange Freundschaft mit dem Erfinder und Fabrikbesitzer Robert Bosch deutlich, der auch half, wenn Not am Mann war – in Claras Fall Not für den jungen Maler Georg Friedrich Zundel, der von der Akademie geflogen war, nachdem die Kunststudenten nach sozialdemokratischem Vorbild gestreikt hatten.
Man erlebt dann Liebe und Heirat der beiden mit und den Aufbau eines richtig bürgerlichen Haushalts samt „Villa Zundel“, die der Maler deshalb finanzieren konnte, weil er gutgängige Porträts für das Stuttgarter Bürgertum (und einen italienischen Mäzen) malte – und auch für Bosch und seine Töchter.
In der „Vila Zundel“ aber empfing ihrerseits Clara die Berühmtheiten der sozialdemokratischen Bewegung – unter anderem auch Wladimir Iljitsch Lenin, dem sie später in Moskau wiederbegegnen würde, als sie längst die SPD verlassen hatte und konsequenterweise erst zur USPD und letztlich zur KPD gegangen war, für die sie zuletzt auch noch Reichstagsabgeordnete wurde und 1932 sogar Alterspräsidentin des Reichstags.
Obwohl sie da schon schwer unter all den Krankheiten zu leiden hatte, die sie ihr Leben lang lieber verdrängte, weil ihr „die Arbeit“ das Wichtigste war.
Der Versuch einer Lebensrekonstruktion
Natürlich kann so ein Roman immer nur der Versuch einer Rekonstruktion sein, der umso schwerer fällt, je weniger persönliche Dokumente zugänglich sind. Ist die Frau tatsächlich so sehr eins mit den Reden und Schriften, die dann auch nach ihrem Tod gesammelt veröffentlicht wurden?
Dass die Sache schwierig ist, wissen Huby und Gromes und thematisieren es besonders mit Clara Zetkins letzten Lebenstagen in der Sowjetunion, wo Clara Zetkin nach der Machtergreifung der Nazis Zuflucht gefunden hat und in einem Sanatorium noch einmal Heilung sucht.
Aber in Moskau regiert eben nicht mehr Lenin, mit dem sie sogar befreundet war, sondern dessen grausamer Nachfolger Stalin, den Clara Zetkin aus gutem Grund fürchtete und hasste. Es ist längst die Zeit, dass sie als Ikone der proletarischen Frauenverehrung ikonisiert war. Damit aber auch unter besonderer Beobachtung stand.
Moskauer Machtgelüste
Dass sie schon 1919 in Lebensgefahr war, thematisieren Huby und Gromes natürlich auch. Genauso wie Lenins durchaus zwielichtige Rolle in der Frage, ob Revolutionen auch in andere Länder exportiert werden sollten. Eine Stelle im Buch, die man mit dem aktuellen Krieg Putins gegen die Ukraine im Hinterkopf völlig anders liest, denn dann liest man auch Lenins Worte auf dem 2. Weltkongress der Komintern 1920 mit anderen Augen.
Damals stand die sowjetische Armee kurz vor Warschau und Lenin propagierte tatsächlich, die Revolution auch nach Ungarn, Italien, in die Tschechoslowakei und nach Rumänien zu exportieren, während gleichzeitig beschlossen wurde, dass sich sämtliche kommunistischen Parteien der Moskauer Zentrale der Komintern unterzuordnen hatten und nur noch Sektionen der Komintern sein sollten, damit immer Moskau unterstellt.
Und erkärungsbedürftig ist durchaus, dass sich Clara Zetkin 1922 auch missbrauchen ließ, die Anklägerin in einem Prozess gegen 47 Mitglieder der Sozialrevolutionären Partei in Moskau zu werden. Und auch wenn sie nur die Anklagerede schrieb, bleibt die Frage, die ja durchaus eine zutiefst persönliche ist: Wie konnte sie nur?
Dass Clara Zetkin vor der 1920 geplanten Moskaureise wieder einmal richtig krank wurde, interpretieren Huby und Gromes durchaus psychosomatisch und liegen damit wahrscheinlich nicht falsch.
Die Tragödie der Linken
Wahrscheinlich kann man die Biografien all der enthusiastischen Verteter/-innen der damaligen Linken nur als Tragödie schreiben, als das Scheitern eines großen Traums von einer wirklich gerechten Gesellschaft, der in einem riesigen Schlachthaus endete.
Ein Schlachthaus, das schon in der Gnadenlosigkeit angelegt war, mit der Lenin und Trotzki die „reformistische Spreu vom revolutionären Weizen trennen“ wollten (Trotzki) und damit die Weichen stellten für all das, was Stalin mit rücksichtsloser Eiseskälte anrichten sollte.
Und zumindest Claras Sohn Kostja entging wohl wirklich nur knapp der Erschießung, als er sich erst in die Tschechoslowakei und dann nach Frankreich absetzte, um letztlich nach dem Zweiten Weltkrieg lieber in den USA und zuletzt in Kanada zu bleiben, möglichst weit weg von Moskau, während sein Bruder Maxim als Arzt Karriere machte und als Herausgeber eines Medizinischen Wörterbuchs in der DDR auch noch ein Stück Medizingeschichte schrieb.
Ein gescheiterter Traum, der natürlich auch eine Menge mit den Wortungetümen zu tun hat, mit denen ja selbst die Linken in Deutschland aufeinander eindroschen. Auch das thematisieren die Autoren, lassen Clara Zetkin noch richtig heftige Angriffe gegen die SPD schreiben, während sie in der KPD eine der Letzten ist, die für die „Aktionseinheit von Kommunisten und Sozialdemokraten“ eintraten. Aber wie will man miteinander kämpfen, wenn man die anderen als „Sozialfaschisten“ niedermacht?
Natürlich ist hier „der lange Arm Moskau“ zu bemerken, der schon beim Hamburger Aufstand 1923 sichtbar wurde, als der brave Genosse Thälmann in der Hafenstadt einen Aufstand inszenierte, der nicht den Hauch einer Chance hatte. Auch das ist ja nicht mehr neu, dass die Mächtigen in Moskau nicht wirklich wissen, wie es anderswo tatsächlich aussieht.
Die doppelte Entrechtung der Frau
Natürlich ist da nicht zu erwarten, dass eine Clara Zetkin all diese Konflikte zu Papier gebracht hätte. Dazu wusste sie wohl zu genau, wie argwöhnisch sie auch von der Moskauer Geheimpolizei beobachtet wurde. Aber Fakt ist nun einmal auch, dass selbst die menschlichste Bewegung ihre Menschlichkeit verliert, wenn Zentralkomitees und Geheimdienste „die Sache“ in die Hand nehmen und alle „Abweichler“ ausmerzen.
Was dann mit „der Sache“ meist nichts mehr zu tun hat, dafür jede Menge mit der Angst der Mächtigen vor der Unberechenbarkeit der Menschen. Sie wollen dann in der Regel einen „neuen Menschen“, der wie ein Roboter die Befehle ausführt, die der Große Führer gegeben hat.
So gesehen hatte Clara Zetkin ein gewisses Glück, dass sie 1933 starb und nicht mehr in die Großen Säuberungen geriet. Ihr Begräbnis an der Kremlmauer muss eine Dimension gehabt haben, die dem Begräbnis Lenins nicht viel nachstand. Die sowjetischen Menschen verehrten sie tatsächlich – und das wohl auch zu Recht.
Denn sie ergriff wie keine andere – vielleicht mit Ausnahme von Rosa Luxemburg – das Wort auch für die Befreiung der Arbeiterinnen aus ihrer doppelten Gefangenschaft.
Denn auch die Herren Genossen in Deutschland vertraten noch lange ein paternalistisches Weltbild, das eine Unterordnung der Frau unter den Mann für selbstverständlich annahm, und kämpferische Frauen, wie es Luxemburg und Zetkin waren, durchaus mit Vorsicht betrachteten. Oder gar mit gefährlichem Besitzanspruch, wie die Szenen mit Leo Jogiches, der Rosa Luxemburg nicht für Claras Sohn Kostja aufgeben wollte, zeigen.
Die Sprachlosigkeit in der Diktatur
Wäre alles anders gekommen, wenn die KPD nicht den bürokratischen Ernst Thälmann, sondern die deutlich populärere Clara Zetkin zur Kandidatin bei der Reichspräsidentenwahl gemacht hätte? Wahrscheinlich nicht, auch wenn die Reichstagsabgeordnete auch für beobachtende Zeitgenossen als weniger radikal und um Zurückhaltung bemüht galt. Was hätte das geholfen in einer Partei, die sich nie wirklich den Weisungen aus Moskau entziehen konnte und damit gar nicht koalitionsfähig war mit der SPD?
Im Kapitel „1938 – die Zeiten ändern sich“ skizzieren Huby und Gromes die Sprachlosigkeit, die eintritt, wenn eine nicht mehr durchschaubare Macht wahllos Menschen zu Staatsfeinden erklärt und verschwinden lässt. Da ist für eine wirklich wissenschaftliche Werkausgabe für Clara Zetkin kein Platz mehr. Selbst der Gedächtnisband zu ihrem Tod ist längst im „Giftschrank“ verschwunden.
Und so ist auch der Blick auf diese Frau, die in Leipzig den Weg in die Politik fand, bis heute lückenhaft, eine Skizze, die nur ahnen lässt, welche Persönlichkeit tatsächlich hinter all den kämpferischen Reden und Artikeln stand. Dass es eine faszinierende Persönlichkeit gewesen sein muss, ahnt man zumindest.
Und wahrscheinlich auch eine, die nicht wirklich deckungsgleich ist mit all den Porträts und Inszenierungen um Clara Zetkin. Und ob sie stolz darauf gewesen wäre, auf einem Geldschein abgebildet zu werden, darf man bezweifeln.
Felix Huby; Harwin Gromes Clara Zetkin und ihre Söhne, Verlag Akademie-der-Abenteuer, Berlin 2022, 28,90 Euro.
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