Nicht unterkriegen lassen. Das könnte ein gutes Lebensmotto sein. Auch in hohem Alter noch, wenn andere Leute in ihren Erinnerungen verschwinden und mit dem Leben da draußen nichts mehr zu tun haben wollen. Ein Motto, das sowohl auf den Schriftsteller Werner Heiduczek zutrifft als auch auf seine späte Lebensgefährtin Traudel Thalheim.

Letztere kennen viele Leipziger noch aus ihrer Kolumne, die sie bis 2019 für die „Leipziger Rundschau“ schrieb. „Traudel tratscht“ hatte sie die benannt – was schon eine Menge sagt über die Journalistin, die ihr eigenes Tun durchaus mit Augenzwinkern betrachten konnte, dabei aber die Hochachtung vor den von ihr Interviewten nicht verlor.

Als sie 1998 begann, die Kolumne zu schreiben, war sie längst in dem Alter, in dem andere sich ganz auf ihre Oma-Rolle zurückziehen. Wer irgendwann einmal nachforschen will, wer in diesen 20 Jahren in Leipzig als berühmt und wichtig galt, der wird in ihren Kolumnen fündig. Dass ihr 2001 dann auch noch das Glück beschieden war, den ja selbst längst legendären Schriftsteller Werner Heiduczek näher kennenzulernen, hätte sie selbst nie gedacht.

Auf großer Weltreise

In diesem Buch beschreibt sie dieses Kennenlernen und wie daraus eine Lebensgemeinschaft wurde, in der beide sich noch einmal all die Träume verwirklichten, die sie sich zuvor gar nicht getraut hatten, in die Tat umzusetzen. Manchmal braucht man da natürlich jemanden an der Seite, der vielleicht grummelt und zögert – aber am Ende sind dann zwei doch noch auf großer Weltreise unterwegs.

Was man auch symbolisch nehmen kann, denn unser Leben ist nichts anderes. Und meistens werden wir alle erst mutig und abenteuerlustig, wenn wir nicht mehr allein aufs offene Meer hinausmüssen.

Als Ergebnis dieser gemeinsamen Reise erschienen im Plöttner Verlag (den es inzwischen auch nicht mehr gibt, genauso wie die „Leipziger Rundschau“) Traudel Thalheims Reiseerzählungen „Götter, Wodka und Piraten“ und „Zulus, Napoleon und Reise zum Mond“, geschrieben in ihrem unverwechselbaren Kolumnenstil.

So was geht irgendwann ins Blut über. Da fließt es von ganz allein. Erst recht, wenn eine sowieso ihren Laptop mit auf die Reise genommen hat. So bewahrt man sich all die Geschichten, die unterwegs passieren.

Auch das ist Journalismus: das einfach Menschliche und Aufregende festzuhalten, egal wie unwichtig es scheint. Oft merkt man erst viel später, welche Rolle es im Gefüge der Zeit wirklich einnimmt.

421 Schritte

Und so hat sie auch ihr Erinnerungsbuch an die gemeinsame Zeit mit Werner Heiduczek geschrieben – lauter kleine Geschichten, die sie mit ihm erlebt hat, mit seinen Freunden und Bekannten, seinen Geschichten sowieso, die längst ihre Leser/-innen in der Welt gefunden haben und oft schon richtige Legenden sind, so wie „Das verschenkte Weinen“ und „Tod am Meer“.

Die 421 Schritte im Titel beschreiben den Abstand der Wohnungen der beiden. Nachdem Werner Heiduczek sich entschlossen hatte, sein Häuschen am Stadtrand aufzugeben und in Traudels Nähe zu ziehen. Irgendwann zwingt einen das Leben dazu, auf die körperliche Angreifbarkeit Rücksicht zu nehmen.

Was nur beiläufig Thema ist, denn so wie Traudel Thalheim nicht aufhören konnte und wollte, als Journalistin zu arbeiten, so schrieb ja auch Heiduczek bis ins hohe Alter, bis zu dem Tag, an dem er selbst fühlte, dass er sich „ausgeschrieben“ hatte.

Was man als Schriftsteller erst einmal schaffen muss, ohne das als Verlust zu empfinden. Das schafft man wohl wirklich nur, wenn man tatsächlich die Geschichten zu Papier gebracht hat, die einem auf der Seele brannten, das, was einem wichtig war, über das Leben zu erzählen.

Sich finden beim Schreiben

Und dass Heiduczek damit in DDR-Zeiten aneckte, zeugt eben auch davon, dass er sich davon nicht abbringen ließ. Seine Leser/-innen haben es ihm gedankt. Und seine Kinder- und Märchenbücher werden sowieso von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Wer sie liest, spürt, wie intensiv und mitreißend das Leben tatsächlich ist, wenn man sich drauf einlässt und sich nicht von falschen Träumen narren lässt.

„Ich habe lange mit mir gekämpft, mir die Frage immer wieder gestellt: Weiterschreiben oder nicht mehr schreiben? Ich habe geschrieben, um mich zu finden und zu verwirklichen. Jetzt ist es genug“, zitiert Traudel Thalheim den Lebensgefährten, dessen runde Geburtstage die Stadt Leipzig immer wieder festlich zelebrierte, den 85. genauso wie den 90.

Aber so alt wird man wohl tatsächlich nur, wenn man in seinem Leben die Freude an der erfüllenden Arbeit gefunden hat. Das mit dem „sich finden“ ist ja nur ein Teil der Herausforderung. Das Lebendigsein und Teilhaben gehört genauso dazu wie die Neugier auf das noch zu Entdeckende.

Denn das ist ja der Trugschluss im Leben vieler Menschen, dass sie glauben, alles schon zu wissen und zu kennen und auf nichts mehr neugierig sind – satt im Kopf und gefangen in ihren Schleifen.

Nicht unterkriegen lassen

So nebenbei freilich lässt Traudel Thalheim auch ihr Leben als Kolumnistin nicht außen vor. Was will man auch am Ende viel erzählen über eine Zweisamkeit, in der der berühmte Schriftsteller einfach auch zu Recht genoss, nur privat zu sein?

Wobei man durchaus ein paar Dinge erfährt, die einem nur zu vertraut und menschlich vorkommen – wie Heiduczeks Staunen darüber, wie bekannt und gefragt er auch im hohen Alter noch war und mit welcher Hochachtung die Menschen mit seinen Texten umgingen. Da fragte sich selbst der Erfolgreiche: Bin ich wirklich so gut?

Und da merkt man, warum einem dieser Autor und seine Geschichten so wichtig sind, warum sich jeder darin wiederfinden kann.

Man erfährt vom Hadern und Zweifeln des Mannes, der ja selbst mit Verlusten in seinem Leben zu kämpfen hatte. Wahrscheinlich war er zutiefst glücklich, mit Traudl Thalheim eine Partnerin gefunden zu haben, die ganz wie er nach dem Motto lebte:  Nicht unterkriegen lassen. Wir sind nicht zum Trübsalblasen auf der Welt, sondern um was draus zu machen.

Und am Ende macht es Traudel Thalheim, wie sie es in ihren Kolumnen auch gemacht hat: schreibt lauter kleine Kolumnen über den Mann, den sie bewundert und liebt. Und das Schmerzliche und ganz Private spart sie aus. Das gehört nicht in die Zeitung bzw. ins Buch.

Traudel Thalheim 421 Schritte von mir zu dir, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2022, 16 Euro.

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