In Halle gibt es das Interdisziplinäre Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA). 2016 und 2019 hat man dort den Pariser Philosophen Bertrand Binoche zu Vorträgen eingeladen. Einer dieser beiden Vorträge stellte die vollauf berechtigte Frage „Was sind die Lumières (und nicht die Aufklärung)?“ Denn DIE Aufklärung gab es nie.

Wahrscheinlich nicht mal in Deutschland, wo man dieses „epochale Projekt“ so bezeichnet – zumindest Wikipedia tut das und liegt damit auch nicht falsch.

Wikipedia kommt dann ganz schnell zu Kant und seiner berühmten Formel. Aber dabei verwischt die Tatsache, die Binoche explizit herausstellt: Dass man es im 18. Jahrhundert mit unterschiedlichen „Epochenprojekten“ zu tun hatte. Und dass es falsch ist, sie alle unter den deutschen Begriff Aufklärung zu stellen, auch wenn sie sich in wesentlichen Zielen überschnitten, begegneten und ergänzten.

„Der Begriff Aufklärung ist eng verbunden mit der frühmodernen Verurteilung des Mittelalters als einer Epoche der Dunkelheit und des finsteren Aberglaubens, die im Vergleich zur Antike als rückständig galt“, heißt es im Wikipedia-Artikel.

Aufklärung, Enlightenment, les Lumières

Aber die drei wichtigsten Länder hatten völlig verschiedene Ausgangsbedingungen. Während die Engländer schon die Segnungen einer konstitutionellen Monarchie erlebten (und damit auch eine freie Entfaltung der kapitalistischen Verhältnisse), steckte Frankreich noch in einem starren Absolutismus fest.

Und Deutschland war ein Flickenteppich kleiner Königreiche und Fürstentümer, die unterschiedliche Varianten der Toleranz boten. Und so hatten auch die verschiedenen Bewegungen, die mittelalterliche Dunkelheit zu erhellen, unterschiedliche Bezeichnungen.

Während das deutsche „Aufklärung“ klingt, als ginge an einem Frühlingsmorgen die Sonne auf, so klingt das englische Enlightenment mehr nach Erleuchtung, während es die französische Variante nur in der Mehrzahl gibt: les Lumières, die Lichter, was auch auf die vielen streitbaren Geister verweist, die sich in der französischen Debatte zu Wort meldeten. Und zwar sehr streitbar und sehr radikal.

Kein deutscher Aufklärer hätte sich zu einem Schlachtruf versteift, wie ihn sich Voltaire als Arbeitsmotto zulegte „Écrasez l’Infâme“. Was man übersetzen kann mit „Zermalmt das Niederträchtige“ oder „Zerstört die Berüchtigten“. Wobei es Voltaire vor allem auf die französische Kirche münzte und ihren verheerenden Einfluss auf die Politik der französischen Könige.

Binoche sieht den Spruch geradezu als Schlachtruf der gesamten französischen Avantgarde der Autoren, die sich im Kampf gegen Absolutismus, Aberglauben, Vorurteile und feudale Verlogenheit zu Wort meldeten. Und das deutlich radikaler als die deutschen Aufklärer.

So radikal, dass sie nach den blutigen Exzessen der Französischen Revolution geradezu mitverhaftet wurden für diese Entgrenzungen. Mit dem Ergebnis, wie Binoche feststellt, dass sie in der französischen Philosophiegeschichte praktisch nicht vorkommen.

Die Rolle von Germaine de Staël

Was schon verblüfft, stehen doch Namen wie Voltaire, Rousseau, Diderot, d’Alembert oder Holbein geradezu exemplarisch für europäische Aufklärung und den Mut von Intellektuellen, sich auch mit den finstersten Mächten anzulegen und für Denkfreiheit, Menschenrechte und Gerechtigkeit die Waffe des Wortes zu nutzen.

Einen gewissen Anteil, an dieser Entwicklung hat die streitbare Germaine de Staël, die ausgerechnet mit ihrem 1813 veröffentlichten Buch „De l’Allemagne“ die deutsche Philosophie in Frankreich zum eigentlichen Maßstab aufklärerischen Denkens machte.

Da wunderte sich nicht nur Heinrich Heine. Napoleons Polizeiminister verbot die Schrift 1810 sofort, denn er begriff sehr wohl, warum die kluge Autorin ausgerechnet die Denker aus dem Feindesland derart in den Himmel hob.

Doch was als deutliche Spitze gegen Napoleon, den selbsterklärten „Sohn der Revolution“, gedacht war, hatte in Frankreich Folgen bis heute. Die Binoche in seinem ersten von vier Vorträgen, die in diesem Buch gesammelt sind, erläutert. In seinem vierten Vortrag zu Germaine de Staël geht er dann noch einmal dezidiert auf ihre Interpretation der „Aufklärung“ ein, die natürlich parteiisch war.

Auch die Entwicklung in England stellte sie dem, was in Frankreich geschah, entgegen und betonte, dass die Engländer („von Shaftesbury bis Adam Smith“) zwar einen besonderen Fokus auf Empirismus und Utilitarismus, also die Anwendbarkeit gewonnener Erkenntnisse, legten, dass sie „diese aber nicht mit allen Konsequenzen verfolgten“. Anders eben als ein Napoleon, der ja durchaus so handelte, dass alles, was logisch denkbar war, auch machbar wäre.

Wozu ist Moral da und wer schafft sie?

Ein Punkt, an dem ja selbst Adam Smith ein moralisches Korrektiv überhaupt erst als Voraussetzung dachte, damit ein geregeltes Miteinander (auch auf dem viel zitierten Markt) überhaupt möglich wurde. Was die Anhänger des radikalen Neoliberalismus heute ja vergessen haben. Heute hätte Germaine de Staël ganz bestimmt kein solches Loblied mehr auf England angestimmt.

Dass sie dabei einige Figuren der französischen Lumières trotzdem verdammt hätte, ist natürlich ebenso wahr. Einen dieser Vertreter behandelt Bertrand Binoche ja in seinem dritten Vortrag: „Sade: Die Moral des Citoyen“.

Durchaus berechtigt ist Binoches Kritik an den vor allem französischen Philosophen, die versucht haben, de Sades Phantasien irgendwie für akzeptabel zu erklären oder gar als gute Erklärungen für den notwendigen Individualismus in einer Gesellschaft, die ja durchaus unter dem Despotismus und der heuchlerischen Moral des Absolutismus litt.

Keine Frage. Aber so wie Binoche zeigen kann, dass de Sades Moralvorstellungen im besten Fall genau die heuchlerische Moral eines Adels spiegeln, der seine Machtposition auch dazu nutzte, eine andere Moral zu leben, als sie die Jesuiten und Jansenisten in den Kirchen predigten, so deutlich wird auch, dass de Sade wohl gelungen ist, den moralischen Grenzüberschreitungen von Menschen auf die Spur zu kommen, die eine gewisse Befriedigung sogar daraus gewinnen, die Normen des gesellschaftlichen Miteinanders mit Füßen zu treten. Und zwar nur deshalb, weil sie reich und mächtig genug sind, es zu tun.

„An die Stelle des naturrechtlichen Vertrags zwischen hypothetisch Gleichen tritt so die Hypothese eines despotischen Vertrags zwischen den Mächtigen.“

Was begründet eine Gesellschaft?

Binoche ordnet de Sade trotzdem in die Lumiéres ein, denn damit diskutiert de Sade natürlich dieselbe Frage wie Rousseau und Diderot: Was begründet eigentlich die Moral und die Gesetze einer Gesellschaft? Und wie sollten sie beschaffen sein, damit sie den Menschen selbstgerecht werden?

Beide griffen dabei ja bekanntlich auf das Bild des naturnah lebenden Wilden zurück – und kamen zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen, wie Binoche in seinem zweiten Vortrag „Diderot: Die Moral des Wilden“ darlegt.

De Sade hat er unter „Die Moral des Citoyen“ subsummiert, was durchaus für Irritationen sorgt, denn was wir unter einem Citoyen verstehen, das hat im wesentlichen ja Rousseau geprägt – auch er ein Antipode, was die Position de Sades betrifft.

„Der Citoyen ist ein höchst politisches Wesen, das nicht sein individuelles Interesse, sondern das gemeinsame Interesse ausdrückt. Dieses gemeinsame Interesse beschränkt sich nicht auf die Summe der einzelnen Willensäußerungen, sondern geht über sie hinaus“, zitiert Wikipedia hier die wesentliche Definition Rousseaus, der natürlich davon ausgeht, dass Staaten nur funktionieren als ein gemeinsames Regelwerk, das sich alle Bürger geben.

Während er hier also das Gemeinsame als Ziel setzt, setzt de Sade die völlige Entgrenzung des Egoismus. Was einen dann fatalerweise an so manches in unserer zersplitternden Gegenwart erinnert, in der wir uns durchaus die Frage stellen sollten, wie viel Schuld wir eigentlich auf die Gesellschaft schieben. Oder ob wir die (alten) Machtverhältnisse mit dem tatsächlichen Gesellschaftsvertrag verwechseln.

Etwas, was ja auch Rousseau passiert ist, der die Gesellschaft (und eigentlich hatte ja auch er nur die korrupte und scheinheilige Gesellschaft seiner Zeit vor Augen) für den Ursprung alles Bösen hielt, während Diderot hier die Wurzel für die Scham sah. Eine Scham, die den Bewohner dieser von falschen Regeln dominierten Gesellschaft daran hindert, ihrem naturgemäßen Zustand nach zu leben und glücklich zu werden.

Gretchenfrage auf Französisch

Man merkt schon: Die Vertreter der Lumiéres scheuten sich eben nicht – wie die deutschen Zeitgenossen – die kompletten Grundlagen der als infam betrachten Zeitumstände zu hinterfragen und auch mit literarischer Finesse aufs Korn zu nehmen. Und dabei nahmen sie sich auch des größten Heiligtums an, das zur Zeit des französischen Absolutismus nicht nur die öffentliche Moral predigte und bewachte, sondern auch zensierte: die französische Kirche.

Was einer der Gründe dafür ist, dass gerade Theologen versuchen, diesen Teil der Aufklärung zu ignorieren oder für gar nicht existent zu erklären. Denn sowohl bei den Engländern als auch erst recht bei den Deutschen wurde die Religion selbst nie wirklich infrage gestellt. Sie galt vielen Denkern als Gewähr für ein ethisches Miteinander, das die Gesellschaft zähmte und damit befriedete.

Eine Haltung, die aber die meisten Vertreter der Lumiéres aus eigener Erfahrung ablehnten. Weshalb – wie Binoche feststellt – im Zentrum der Lumiéres vor allem die Frage stand „nach der Bedeutung und Möglichkeit eines echten politischen Atheismus“. Eine Frage übrigens, die alle westlichen Demokratien längst mit „Ja“ beantwortet haben.

Die Kirche ist dort nicht mehr das moralische Korrektiv des Staates, sondern Privatsache. Anders als in Autokratien, wo die scheinheiligen Herrscher á la Putin nur zu gern den Schulterschluss mit der Kirche suchen, um die Leere ihres Herrschens mit religiösem Pathos zu füllen.

Dafür hätten so gut wie alle Vertreter der Lumiéres nur das Wort „infam“ gefunden. Was das Staunen Bertrand Binoches nur verstärkt, warum ausgerechnet die Franzosen ihre Philosophiegeschichte möglichst ohne das ganze Zeitalter der Lumiéres zu schreiben versuchen und lieber staubtrockene deutsche Philosophen bemühen, irgendwie fasziniert von diesen Theoriegebäuden, die ja bekanntlich auch Karl Marx schon verspottete, fest davon überzeugt, dass Philosophen auch die Welt verändern sollten. Damit war er nämlich nicht der Erste. Das war das Bestreben all der klugen Köpfe, die man zu den Lumières rechnen kann.

Im Geiste des Sokrates

Dass sich die Bewahrer des heiligen Glanzes immer wieder an ihnen reiben, hat viele verständliche Gründe. Und einer ist so alt wie die europäische Philosophie, wie Binoche feststellt: „Philosophieren also heißt: den Geist beunruhigen, ihn in Bewegung setzen, und nicht: ihn in Sicherheit wiegen, was nur bedeuten kann, ihn stillzustellen – die Lumières sind eminent sokratisch.“

Und deshalb beunruhigen sie noch heute. Und erzeugen in so manchem Bewahrer des verlogenen Scheins den Wunsch, es hätte sie nie gegeben oder die Aufklärung wäre gescheitert. Oder sie wäre eben an all dem schuld, was heute in der Welt schlecht ist.

Obwohl bei genauerem Hinschauen meist die Infamen höchstselbst an all den Tragödien schuld sind, und eben nicht der beunruhigte Geist. Der schaut nur entsetzt zu, was die alten Schimären und Gespenster anrichten in der Welt.

Bertrand Binoche „Was sind die Lumières (und nicht die Aufklärung)?“, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2022, 12 Euro.

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