Es liest sich, als hätte Gottfried Böhme das Buch genau auf diese Tage geschrieben, in denen ein enthemmter Autokrat die Freiheit in der Ukraine mit Stiefeln tritt. Aber das hat Gottfried Böhme natürlich nicht. Das Thema treibt den Mann, der 1992 als Lehrer aus der Schwäbischen Alb nach Leipzig kam, seit Jahren um. Denn nicht nur Autokraten zerstören Freiheit und Demokratie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Auch heutige Philosophen haben ein ganz akutes Problem mit der Freiheit.

Und nicht nur sie. Schon 2020 hat Gottfried Böhme mit „Der gesteuerte Mensch“ eine fundierte Kritik an der modernen Denkweise über die Segnungen der schönen neuen Digitalwelt veröffentlicht. Besonders besorgte ihn der Übergriff der großen Digitalkonzerne auf Schule und Lerninhalte. Eine Kritik, wie sie nur ein Lehrer schreiben konnte, der weiß, wie junge Menschen lernen, wie Bildung und Souveränität entstehen. Aber das Entsetzen hat sichtlich nicht ausgereicht. Am Bildungssystem und seiner Besessenheit von den Segnungen digitaler Entmündigung hat das Buch jedenfalls nichts geändert.

Aber das Problem betrifft ja nicht nur die Schulen. Es betrifft die ganze Gesellschaft. Und es hat mit unserem Denken über Freiheit zu tun. Instinktiv weiß jeder irgendwie, was Freiheit ist und warum sie so ein hohes Gut ist, das es nicht nur zu erringen, sondern auch zu verteidigen gilt. Denn Freiheit ist immer auch eine Entmachtung der Mächtigen, ein Störfaktor, eine Infragestellung der Etablierten. Das ist unbequem. Und für einige hochstudierte Leute schlicht unbegreiflich.

Die selbst ernannten Gedankenleser

Auch für Hirnforscher, die ja von Prahlerei nicht ganz frei sind und gern mal behaupten – wie John-Dylan Haynes und Matthias Eckoldt in „Fenster ins Gehirn“ –, man könne zuschauen, wie Gedanken entstehen und sie gar lesen. Obwohl ihr Ausflug in die moderne Hirnforschung zeigt: genau das kann man nicht. Man kann Aktivitäten im Gehirn messen, sie lokalisieren und bildlich darstellen. Aber man kann sie nicht lesen.

Aber wenn schon Neurowissenschaftler ihre Forschungsergebnisse überinterpretieren, muss man sich nicht darüber wundern, wenn das Medien, Programmierer und Philosophen dann noch weiter dehnen und für bare Münze nehmen, um dann dem gläubigen Zuschauervolk zu erklären, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis die Künstliche Intelligenz (KI) überall die Vorherrschaft übernimmt.

KI würde sowieso alles besser machen. Und vor allem nicht unter all den Fehlern menschlichen Denkens leiden, seiner Unvollkommenheit und Unberechenbarkeit. Willkommen in der „Schönen neuen Welt“, könnte man sagen. Aber der Sarkasmus ist auch Böhme längst vergangen. Denn die großen amerikanischen Konzerne, die mit dieser Philosophie die digitalen Märkte beherrschen, denken tatsächlich so. Und dahinter steckt ein Bild vom Menschen, das ihn als komplett auslesbar, berechenbar und steuerbar beschreibt.

So agieren diese Konzerne ja, auch wenn man das Wort „steuerbar“ in Gänsefüßchen setzen darf. Denn wie das menschliche Denken tatsächlich funktioniert, interessiert die Big Bosse der großen Digital-Konzerne nicht die Bohne. Ihnen reicht Statistik ganz allein. Die Masse macht’s, könnte man sagen. Denn auch wenn die Algorithmen alle möglichen digitalen Spuren auslesen und speichern und daraus Profile der jeweiligen Nutzer bauen, können Menschen noch lange nicht auf Knopfdruck gesteuert werden.

Der Überwachungstraum der Autokraten

Aber man kann ihre Welt verändern, erst recht, wenn „smarte“ Geräte aus dem Leben der Menschen nicht mehr wegzudenken sind und fast alle Kommunikation über diese smarten (die Auguren dieser Technik reden ja sogar von „intelligenter Technik“) Geräte läuft und der Nutzer gar nicht mehr merkt, wer seine Informationsströme in welcher Weise beeinflusst.

Das allein wäre ein fettes Buch über Freiheit und die Bereitschaft der Menschen, aus Bequemlichkeit ihre Freiheit herzugeben, wert. Ganz neu ist das Thema ja nicht. Im Grunde schwelt die Diskussion seit einem halben Jahrhundert, markant besetzt mit den beiden Buchtiteln „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley und „1984“ von George Orwell. Beide stellen zwei mögliche Szenarien dar, wie totalitäre Systeme einmal aussehen könnten, wenn die Mächtigen die komplette Kontrolle über das Denken der Menschen erreichen sollten.

Und es ist ja nicht so, dass heutige Autokraten es nicht genau so versuchen. Es ist kein Zufall, dass Böhme im zweiten Teil seines Buches ganz explizit auf die Methoden eingeht, mit denen moderne Regime ihre Bevölkerung komplett zu überwachen und zu manipulieren versuchen. Mit fatalen Folgen. Der Titel des entsprechenden Kapitels bringt es auf den Punkt: „Wer dem Menschen die Freiheit nimmt, zerstört ihn“.

Es ist auch kein Zufall, dass der Leipziger Bürgerrechtler Uwe Schwabe ein sehr emotionales Vorwort für das Buch geschrieben hat. Denn die Friedliche Revolution war ein leuchtendes Beispiel dafür, wohin es führt, wenn Menschen es wagen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen (Kant) und das scheinbar Unmögliche als denkbar in die Wirklichkeit bringen.

Das falsche Paradies auf Erden

Denn Potentaten möchten eigentlich, dass alle ihre Untertanen denken, der augenblickliche Zustand ihres Landes sei „die beste aller Welten“ und alternativlos sowieso. Böses Wort, ich weiß. Aber es ist nun einmal das Wort, an dem man erkennt, wann seine Sprecher/-innen begonnen haben, Freiheit einzuhegen und für reguliert zu erklären. Oder für determiniert und damit vorgezeichnet und unausweichlich.

Eine Denkhaltung, die einfach nur weh tut. Und die mit Freiheit nichts zu tun hat.

Weshalb sich Gottfried Böhme im ersten Teil des Buches erst einmal die Mühe macht, Freiheit überhaupt auf den Grund zu gehen. Eine Herkulesaufgabe, mit der sich Philosophen seit über 2.000 Jahren beschäftigen. Und meistens zu keinen akzeptablen Ergebnissen kommen, weil ja ganz offensichtlich Freiheit immer bedingt ist. Sie muss Grundlagen haben.

Wer sich mit dem Menschsein beschäftigt, kommt um die Frage der Freiheit nicht herum. Der muss erklären, was uns eigentlich von Tieren und Maschinen unterscheidet. Ob uns überhaupt etwas von ihnen unterscheidet und was das ist und wo es stattfindet. Eine Frage, die bei Luther genauso wieder auftauchte wie bei den Denkern der Aufklärung, wo es ja bekanntlich Julien Offray de La Mettrie gedanklich auf die Spitze trieb mit seinem Buch „L’Homme-Machine“.

Ein Buch, das im Grunde das Denken heutiger IT-Konzerne und mancher Forscher vorwegnimmt, die nicht nur überzeugt sind, dass der Mensch komplett entschlüsselbar und damit berechenbar ist, sondern dass er auch einfach wie ein Netzteil behandelt werden kann – nur zu bereit, sich vollkommen von der Technik und den Wohlfühl-Angeboten der „schönen neuen Welt“ abhängig zu machen.

Alles schon vorausbestimmt?

Es stimmt schon: Genau diese schöne neue Konsumwelt stellt die Frage nach der Freiheit. Und natürlich die Frage danach, was aus unserem Selbst als Mensch wird, wenn wir uns und unsere Entscheidungen immer mehr diversen Algorithmen überlassen, von denen wir nicht wissen, wer sie wie programmiert hat.

Und dann sind da noch die Forscher, die mit ihren Forschungen versuchen, ihre eigenartigen Vorstellungen von der „Maschine Mensch“ zu belegen. Was ja in all den Versuchen steckt, menschliche Gedanken „lesen“ zu wollen, in das menschliche Gehirn also hineinschauen zu können wie in einen Computer, den man beliebig programmieren kann. Wie nah diese Gedanken an dem sind, was die chinesische KP als Überwachungs-System in China etabliert hat, kann man im zweiten Teil des Buches nachlesen.

Aber wo steckt denn nun die Freiheit? In welchem Moment ist der Mensch frei? Oder ist er es gar nicht? Das scheint die Kernfrage der Philosophie zu sein, wenn es um die eigentlich unvereinbaren Vorstellungen von freier Willensentscheidung auf der einen Seite und der vollkommenen Determiniertheit der Welt ausgeht, die Theologen seit Jahrhunderten fast ein unumstößliches Dogma war. Auch dagegen opponierte ja Luther und versuchte den bis heute eindrucksvollen Spagat in der „Freiheit eines Christenmenschen“.

Der sich dann kaum noch als Widerhall in jüngeren philosophischen Konstrukten wiederfindet, die versuchen, die Determiniertheit menschlichen Handelns irgendwie mit Freiheitsdenken unter einen Hut zu bekommen. Kompatibilisten nennt sie Böhme und seziert einige von ihnen mit fröhlicher Bravour. Denn in der Regel arbeiten sie mit völlig irrealen Konstrukten und vermeiden mit auffallender Beharrlichkeit auch nur darauf einzugehen, was Menschen im realen Leben tatsächlich täglich tun.

Denn natürlich entscheiden Menschen jeden Tag alles Mögliche.

„Unbefriedigende Versuche, Freiheit dingfest zu machen“, nennt Böhme die Kopfstände dieser Leute, die scheinbar vor nichts mehr Angst haben als davor, dem Menschen tatsächlich die Freiheit zuzugestehen, völlig unabhängige und nicht-determinierte Entscheidungen treffen zu können, also frei zu sein davon, zwanghaft das tun zu müssen, was vorher schon feststeht – sei es durch göttliche Festlegung (Prädestination), sei es durch unerbittlich wirkende Naturgesetze, in denen alle Dinge in einer unausweichlichen Kausalkette ablaufen.

Das falsche Bild von Gut und Böse

Natürlich ist man genau da bei der Frage der menschlichen Besonderheit, warum gerade dieses Wesen mit seinem großen Gehirn herausfällt aus dem naturgesetzlichen Gezwungensein und warum es Dinge tut, auf die ein von Instinkt getriebenes Tier nie kommen würde. Denn menschliche Kultur und Zivilisation sind das Ergebnis freien Denkens. Der Mensch ist durch seine Fähigkeit, freie Entscheidungen treffen zu können, herausgetreten aus den Zwängen eines komplett von der Natur bestimmten Lebens. (Und auch aus Gottes ahnungslosem Paradies, wie Böhme auch zu Recht feststellt.) Mit auch fatalen Folgen.

Das ist es ja, was alle Religionen bis heute beschäftigt: dass der Mensch auch fähig ist zu dummen und bösen Entscheidungen. Was natürlich alle Theologen immer dazu brachte, lieber darüber nachzudenken, was menschliches Handeln einschränkt, regelt und zivilisiert. So kamen Moral und Ethik in die Welt. Natürlich auch nicht von Theologen erfunden. Die haben nur die Regeln in Worte und Gebote und Verbote gefasst. Und in die Grundlagen der Religion den von Philosophen so geliebten und gehassten Dualismus von Gut und Böse eingeschrieben.

Ein Dualismus, der wahnsinnig machen kann. Weil er falsch und dumm ist. Er reduziert die Welt genau auf das Dilemma, das Religionen derart fanatisch und fundamentalistisch machen kann. Denn wenn der (gläubige) Mensch nur die Wahl zwischen Gut und Böse hat, hat er eigentlich keine Wahl und ist immer fremdbestimmt, egal, für welches Absolutum er sich entscheidet.

Aber so funktioniert unsere Willensbildung nicht. Und das empört Gottfried Böhme natürlich zu Recht an all diesen falschen philosophischen und „naturwissenschaftlichen“ Interpretationen. Denn wer über Kausalitäten und Determination falsch denkt, der macht das menschliche Denken von vornherein zu einem maschinellen, reduziert es auf genau den binären Code, mit dem schon Leibniz versuchte, die ganze Sache mathematisch zu begründen. Und natürlich scheiterte. Das Seltsame aber ist, dass die von Böhme zitierten Leute heute noch immer so denken. Und oft sogar von sich selbst glauben, dass sie so denken.

Menschen sind keine digitalen Automaten


Er bringt an dieser Stelle die „zweite Zeit“ ins Spiel, einen Ansatz, den er in einem weiteren Buch („Die zweite Dimension der Zeit“) näher erläutert. Denn das Grundproblem aller Deterministen ist, dass sie versuchen, die menschliche Freiheit in einem starren Modell von linearer Zeit unterzubringen, in dem ein Ereignis immer nur streng auf ein vorhergehendes Ereignis erfolgen kann – den Menschen also zwingt, innerhalb einer eindimensionalen Kausalkette zu entscheiden und zu agieren.

Das ist natürlich Quatsch. Auch wenn wir natürlich immer aus unserer ganz konkreten Lebenssituation heraus entscheiden. Aber wir entscheiden nicht nur mit den Fakten des Augenblicks, müssen also nicht wie blöde Schafe zwischen Null und Eins wählen. Denn wenn wir Entscheidungen treffen, denken wir unsere bisherigen Erfahrungen immer mit. Wir leben nicht nur im Jetzt, sondern immer auch im Wissen um unser ganzes bisheriges Leben und im Vorausdenken der Zukunft. Denn wir können uns auch vorstellen, welche Folgen jede einzelne unserer Entscheidungen hat. Und wir können mehr als zwei Varianten der Entscheidung denken, oft einen ganzen Strauß faszinierender Möglichkeiten, was uns oft ja sogar in Verzweiflung setzt, weil wir uns nicht entscheiden können.

Ganz, ganz selten nur haben wir die simple Wahl zwischen Ja und Nein, Gut und Böse, Eins und Null. Dass die Philosophen derart windige Konstrukte bauen, um zu beweisen, dass der Mensch auch dann nicht frei entscheidet, wenn er das scheinbar tut, hat genau damit zu tun. Freiheit entzieht sich der Logik von Null und Eins. Und damit auch dem alten theologischen Dualismus, an dem ja eigentlich auch Luther verzweifelte. Denn wo ist Freiheit zu finden, wenn von Gott alles vorherbestimmt ist?

Das Erziehungsideal der Autokraten

Religion steckt voller Denkfallen. Denkfallen, die ihre eigene Logik haben. Oft auch Erleichterung waren, weil sie scheinbar erklärten, was im normalen menschlichen Leben so verwirrend ist. Aber man darf dabei nicht stehen bleiben. Das ist fatal. Denn es verstellt den Blick darauf, dass unser Menschsein sich gerade darauf begründet, dass wir aus den Zwängen der Kausalität heraustreten können und sogar andere Werte, Ziele und Wünsche zur Grundlage unserer Entscheidungen machen können als die platten Dualismen, die für Autokraten die Handlungsmaxime sind. Denn die lieben natürlich eine Welt, in der sie selbst allein für das Gute stehen und alle, die nicht mit ihnen sind, böse sind, ausgemerzt und umerzogen werden sollen.

Ein Thema, das Böhme im Zusammenhang mit Stalins Russland, China, Nazi-Deutschland und auch der DDR besonders diskutiert. Denn wenn Umerziehung, die „Schaffung eines neuen Menschen“, die Erziehung der gesamten Gesellschaft zur staatlichen Maxime werden, geht es an den Kern unseres Menschseins, das, was uns eigentlich souverän macht als Mensch. Nichts hassen Autokraten so sehr wie den souveränen, unangepassten Menschen. Und dass diese Souveränität die Macht einer allein seligmachenden Partei sehr schnell infrage stellen kann, hat ja der Herbst 1989 zur Genüge gezeigt.

Umso fataler ist es natürlich, wenn dasselbe Denken über den steuerbaren und aufs Funktionieren reduzierten Menschen auch in den demokratischen Gesellschaften des Westens um sich greift, vorangetrieben von riesigen Digitalkonzernen, die Manipulation, Überwachung und Entmündigung zu ihren Geschäftsfeldern gemacht haben. Und viele Menschen lassen sich sehr leicht und sehr gern entmündigen und merken bald gar nicht mehr, wie sehr ihre eigene Souveränität in der digitalen Welt verkümmert.

Sie sind dann scheinbar das schlagende Argument dafür, dass die Schöpfer der digitalen Algorithmen ja recht haben: Man kann den Menschen um-programmieren, ihn zum Teil der digitalen Maschine machen und dann funktioniert er prächtig und ohne Murren. Ein feuchter Traum für alle Regime und in China schon fast allumfassende Wirklichkeit. Es sei ja nur gut für die Menschen, wenn sie so mit digitaler Rundumüberwachung dazu gebracht werden, sich in die Harmonie eines komplett überwachten Staates zu fügen und jeden Gedanken an Rebellion, Unangepasstsein oder Ungehorsam aufzugeben.

Das Märchen von der Alternativlosigkeit

Da sieht es einfach nur noch peinlich aus, wie auch heute Philosophen noch versuchen, in wortakrobatischen Thesen zu begründen, dass wir der Determination nicht entkommen und selbst die Entscheidungen, die wir meinen, selbst und frei zu treffen, vorausbestimmt und vollkommen determiniert sind.

Aber das kann nicht einmal die Gehirnforschung nachweisen, auch wenn sie in sehr schönen Gehirnscans zeigen kann, wo es leuchtet und feuerwerkt in unserem Gehirn, wenn dort Gedanken und Entscheidungen reifen. Aber die dazugehörenden Experimente sind so eindimensional, dass das mit freien Entscheidungen nichts zu tun hat.

Und was für Kopfschmerzen uns Entscheidungen bereiten können, weiß jeder selbst. Spätestens, wenn er im Supermarkt vorm Joghurt-Regal steht und dort eben nicht nur eine Sorte steht, sondern zehn oder hundert. Das ist zwar eine Verschwendung, aber ein sehr anschauliches Bild für unser ganz normales Leben, in dem wir bei jeder Entscheidung immer auch alle möglichen Folgen mitdenken. Und alle möglichen Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit schon mit solchen Entscheidungen gemacht haben.

Wir sind eben keine Automaten, in denen sich das System immer von Null zu Eins durchklickt, sondern denken stets in einer Wolke von Möglichkeiten, die unterschiedlich attraktiv und verlockend sind. Wir können sogar das Verrückteste denken und ausprobieren – oder die Finger davon lassen, weil uns die Erfahrung sagt, dass es gefährlich ist. Wir haben Bauchgefühle, alte Ängste und frohe Erwartungen. Und wir wissen auch noch, dass wir, wenn wir eine Entscheidung treffen, mindestens zehn andere mögliche Entscheidungen nicht mehr treffen können.

Meist hat das eine Logik – nämlich unsere ganz persönliche. Es ist unsere moralische Vorstellung vom Richtigen, die uns zu bestimmten Entscheidungen drängt. Es ist das Wissen um unsere Fähigkeiten und die Gangbarkeit der gewählten Wege. Und wir denken eben nicht so einfache Sätze, wie sie die Philosophen so gern unterstellen, dass wir sie denken.

Meist entstehen unsere Entscheidungen aus einer ganzen Wolke von Assoziationen, Gedankenbruchstücken, Gefühlen und Bildern, die in weniger als Sekundenschnelle aufflackern, unser Gehirn zum Feuerwerken bringen und dann in Entscheidungen münden, die in ihrem Entstehen viel komplexer sind, als es jedes dualistische Konstrukt ausmalen kann. Manchmal endet das Ganze sogar in einer Nicht-Entscheidung, wenn unser Kopf feststellt, dass die Aufgabe schlicht nicht überschaubar ist.

Die Freiheit zur Unvernunft

Das ist die „zweite Zeitdimension“, die Böhme aufruft. Ohne die wir auch keine Musik erkennen und keine Bücher lesen könnten. Im Grunde haben alle Pädagogen jeden Tag damit zu tun, in den Kindern diese „zweite Dimension“ lebendig werden zu lassen. Denn in ihr werden wir erst wir selbst, erkenne die Welt, finden ein moralisches Maß und damit eine Orientierung, innerhalb derer wir Entscheidungen treffen können. Gern auch rationale. Aber nicht alle Entscheidungen sind rational, nicht alle logisch und vernünftig.

Zur Freiheit gehört eben auch die Freiheit, das Dumme, Falsche und Böse zu tun. Erst hier taucht es auf. Nicht das Gute und Böse determiniert uns. Da haben sich alle Theologen geirrt seit 2.500 Jahren. Das Gute und Böse taucht erst auf, wenn wir unser Handeln moralisch auf seine Folgen hin bewerten. Von denen uns aber Autokraten und Konzernbosse nur zu gern entlasten würden. Denn das gibt ihnen Macht über uns, wenn wir so funktionieren, wie sie sich das wünschen.

Denn wenn der Mensch alle Möglichkeiten hat, sich frei zu entscheiden, dann entscheidet auch nicht der Machthaber, was gut und was böse ist. Dann kommen die eigene Würde und das eigene Wissen um das Gute und Menschliche zum Tragen. Und die Legitimationsgebäude der Machthaber geraten ins Wanken.

Und so ist Böhmes Buch auch ein vehementer Appell, den Begriff der Freiheit nicht den Digitalkonzernen und auch nicht den vom Determinismus besessenen Philosophen zu überlassen, sondern ihn wieder zurückzuerobern als Kernvokabel der Demokratie. Denn ohne Freiheit (in all ihren Dimensionen) ist eine Demokratie nicht denkbar.

Menschenwürde aber auch nicht. Die Demokratie ist kein künstliches Konstrukt, das nun auf einmal im Wettbewerb mit perfekten Autokratien steht. Sie ist das Ergebnis einer langen und verlustreichen Suche der Menschen nach einer Gesellschaft, in der Freiheit möglich ist. In der sich die menschliche Freiheit entfalten kann.

Für Geld nicht zu kaufen

Und so gesehen müssen wir auch die Gefahren sehen, die ihr drohen, wenn manipulierende Konzerne versuchen, wieder einen falschen Freiheitsbegriff zu lancieren und eine „schöne neue Welt“ versprechen, in der wir alle wieder so unmündig werden wie die Kinder.

Wobei: Kinder sind nur ganz am Anfang unmündig. Kindheit und Jugend sind die Zeit, in der Kinder lernen, sich selbst als freie und selbstständige Menschen zu begreifen. Auch darauf geht Böhme kurz ein, der als Lehrer nur zu gut weiß, welche Räume sich auftun, wenn wir lernen, alles Mögliche mitzudenken und aus unseren Erfahrungen heraus einen Strauß von alternativen Entscheidungen zu entwickeln, von denen wir dann meist eine wählen, die gut zu uns und unseren Gefühlen passt.

Erst in der freien Entscheidung sind wir Mensch, werden wir ganz selbst, was wir sind und sein wollen. Und genau das gilt es zu verteidigen gegen alle, die uns nur zu gern zu einer funktionierenden Maschine machen wollen. Das betont auch Uwe Schwabe in seinem Vorwort.

Im letzten Kapitel geht Böhme dann auch noch darauf ein, wie schwer sich die evangelische Kirche damit tut, die Folgen des „digitalen Kolonialismus“ und der Illusion vom „steuerbaren Menschen“ überhaupt wahrzunehmen. Aber nicht nur die Kirche tut sich schwer damit.

Es ist eigentlich das zentrale Thema unserer Zeit. Auch bei uns in Deutschland. Denn die philosophischen Kopfstände beim Versuch, die Determination irgendwo doch wieder in den Freiheitsbegriff hineinzupressen, haben auch mit einer Schieflage unserer Prioritäten zu tun, wie Böhme in Bezug auf die Politik gegenüber China feststellt: „Freiheit und Menschenrechte lassen sich nicht mit Geld kaufen – das ist die bittere Lehre, die aus dem Scheitern dieser Politik gezogen werden muss. Jetzt muss Deutschland einen hohen Preis zahlen, wenn es die Menschen- und Freiheitsrechte wieder über die wirtschaftlichen Interessen stellen will.“

Gottfried Böhme Verschattete Freiheit, Die Graue Edition, Zug / Schweiz 2022, 20 Euro.

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