Je tiefer die Amtskirchen in Krisen stรผrzen und je mehr Menschen ihren Kirchenaustritt erklรคren, umso klarer wird, dass nicht nur eine Zeit zu Ende geht, in der Religion ohne eine hierarchische Institution nicht gedacht werden konnte. Umso deutlicher wird auch, dass die Institution โKircheโ in der Bibel auch gar nicht vorkommt. Wรคhrend die Gleichnisse auch fรผr heutige Sinnsucher noch immer animierend sind.
Kirchenkrise โ heute wie vor 500 Jahren
Ein solcher Sinnsucher ist auch der Frankfurter Theologe, Schriftsteller und Wandersmann Georg Magirius, der seine Bibel so liest, wie es wahrscheinlich ziemlich viele andere Menschen auch machen, denen lรคngst ziemlich egal ist, was Pfarrer in der Kirche predigen, Kardinรคle fรผr faule Ausreden finden und der Papst in Rom verkรผndet.
Die Krise der groรen Kirchen ist vor allem eine Krise der Hierarchien. Und das geht eigentlich seit 500 Jahren so, seit Martin Luthers groรem Auftritt auf der Leipziger Disputation, nachdem dem wรผtenden Theologieprofessor aus Wittenberg endgรผltig klar geworden ist, dass mit der alten Romkirche nichts mehr anzufangen ist. Und dass alles, was den Sinnsuchenden (die ja Glรคubige meistens sind) helfen kann, tatsรคchlich in der Bibel steht.
Nicht zuletzt, dass der ganze moralische Babel, den Kirchenfรผrsten dem mit Hรถllenbildern in Angst und Schrecken versetzen Volk aufgebรผrdet haben, nichts, aber auch gar nichts mit der Bibel zu tun hat. Aber eine Menge mit dem Drang der Mรคchtigen, die Menschen zu bevormunden und รผber eine autoritรคre Moral klein zu halten. Wer sich immerzu schuldig fรผhlt, permanent zum Sรผnder gemacht wird, der wehrt sich nicht. Der zittert eher vor Schrecken und Verzweiflung, kauft teure Ablรคsse und duckt sich vor der gestrengen Obrigkeit.
Lachen verboten?
Georg Magirius ist nicht der erste, der mit diesem alten, autoritรคren Bild von Kirche hadert. Und zwar โ obwohl er selbst Theologie studiert hat โ von Kindheit an, jener Zeit, da ein strenger Pfarrer den Kindern in der Kirche das Lachen auszutreiben versuchte. Die Geschichte erzรคhlt er im Kapitel โLachen. Vom Aufstand gegen den Ernstโ. Einem von insgesamt 22 Kapiteln, in denen er jene Momente zeigt, die das alte Buch der Bรผcher bis heute mit dem wirklichen Leben der Menschen verbindet.
Denn Religion kommt ja nicht aus dem Nichts. Und auch wenn machtbesessene Mรคnner sie oft genug dazu benutzten, daraus Machthierarchien zu konstruieren, erzรคhlt ja selbst die Jesus-Geschichte davon, dass es gerade um das Gegenteil geht: um die Ermutigung der niedergedrรผckten Menschen zum Leben, zur Liebe, zur Freude.
Georg Magirius hat lauter solche Grundbeziehungen des Menschen zu seinem Leben und zur Welt in den Kapiteln seines kleinen Breviers gesammelt, in denen er erlรคutert, welche Stellen in der Bibel ihm dabei Mut und Trost und Zuversicht gegeben haben. Und ihn ermutigt zu haben, jeden Tag wieder mit erhobenem Haupt in die Welt zu treten. Denn auf Erden โ so liest er die Bibel von der Genesis bis zu den Paulusbriefen โ ist der Mensch, um himmlisch zu leben, sich zu entfalten und aus seinen Gaben und Talenten das Mรถgliche zu machen.
Gott will den Menschen nicht klein, schreibt er, sondern groร. So weit ist es gekommen, seit Luther. Da steckt auch dieses โIch kann nicht andersโ drin. Der kleine Mรถnch, der den Mรคchtigen entgegentritt, ohne sich zu krรผmmen.
Nicht mehr klein machen lassen
Einer, der sich nicht einschรผchtern und kleinmachen lรคsst. Jetzt nicht mehr. Die Bibel, Paulus und Jesus stehen hinter ihm. Da beweise ihm mal einer von diesen Mรคchtigen, dass das so nicht in der Bibel steht. Steht so auch nicht. Und das hat Folgen. Denn Magirius ist heutzutage ja nicht der einzige Theologe, der seine Bibel anders liest. Gerade erst hat ja auch Fabian Vogt seinen โJesus fรผr Eiligeโ geschrieben, der eben auch keine Komprimierung des alten, mythischen Jesus ist, wie er auch in modernen Kinostreifen meist gezeigt wird, sondern die Entdeckung eines lebenslustigen Predigers, der Freude, Liebe und Gemeinschaft predigte โ und lebte.
Das vergisst man oft, wenn man barmende Prediger zรผrnen und wettern hรถrt. Und in gewisser Weise staunt der Bibel-Leser Magirius, dass auch im Neuen Testaments nichts auf diese Strenge und Unbarmherzigkeit hinweist. Auch dieser Jesus hat seine Zuhรถrer/-innen nicht klein gemacht.
Unterm Titel โGipfelglรผckโ schreibt Magirius einen regelrechten Brief an seine Leser/-innen: โNein! Ich rufe dich jetzt nicht zur Mรครigung auf, wie das manche tun, wenn es um die Sehnsucht nach Hรถherem geht. Stattdessen warne ich dich gerade vor diesen Mahnern, die die Sehnsucht schmรคlern wollen. Sie tun es, indem sie sagen: โSei realistisch und erwarte nicht zu viel von dir. Und auch nicht vom Leben. Bilde dir nicht zu viel auf dich und deine Fรคhigkeiten ein. Bleib am besten immer schรถn bescheiden.โ โ Wenn ich das hรถre, spรผre ich eine ungeheure Enge. Und kรถnnte sofort an die Decke springen und noch besser durch die Decke gehen.โ
Aber so lebt die Hรคlfte unserer Gesellschaft. Das ist das Gegenstรผck zu denen, die rรผcksichtslos leben und sich ihrer Macht und Rรผcksichtslosigkeit meist gar nicht bewusst sind. Und auch nicht der Unverfrorenheit, wie ihre Predigten zur Bescheidenheit da unten ankommen bei denen, die bitteschรถn brav funktionieren und nicht aufmucken sollen.
Wie man Autoritรคt untergrรคbt
So sehr verรคndert hat sich menschliches Verhalten ja seit 2.000 Jahren nicht wirklich. Und umso lebendiger sind die Rezepte, die ein Jesus seinen Anhรคngern gab, wie sie der Angst und der Anfeindung begegnen sollen. Beides behandelt Magirius in eigenen Kapiteln. Zwei Kapitel, die zeigen, wie schwer sich die Hardliner in ihren grรถรtenteils stark privilegierten Positionen bis heute tun, รผber wirkliche Lรถsungen fรผr menschliche Konflikte nachzudenken. Sie agieren noch immer in der alten Gewaltmethode.
Dafรผr stehen sรคmtliche Autokraten, Fundamentalisten und Populisten bis heute. Natรผrlich ist fรผr sie diese Botschaft bis heute subversiv. Denn die Nรคchstenliebe untergrรคbt all ihre Machtansprรผche. Sie brauchen die Eskalation und die Stufen der Gewalt, um sich in ihrer Machtposition zu halten.
Und es gibt auch genug Stellen in der Bibel, die zeigen, wie dieses Denken auch diejenigen krank macht und krรคnkt, die gar kleine Macht und keine Privilegien haben.
So nebenbei merkt man wieder, dass das Christentum gerade deshalb so erfolgreich war, weil es im Kern immer eine Religion der Nicht-Privilegierten war.
Was man ja meist nicht mehr merkt, wenn stรคndig Bischรถfe und Kardinรคle in prunkvollem Ornat als Vertreter der Kirche gezeigt werden โ obwohl sie das im biblischen Sinn gar nicht sind. Sie sind nur Amtstrรคger. Die Botschaft selbst steht in der Bibel โ und nicht nur in der Bergpredigt. Sie steckt auch in vielen Gleichnissen, die zu lesen natรผrlich besonders schwer ist, wenn man ihren Kern nicht sehen darf oder soll.
Ein Kern, der den Menschen letztlich in Eigenverantwortung setzt. Den Reichen genauso wie den Armen. Was dann viel mit Mut zu tun hat, einem Mut, den Magirius besonders mit biblischen Frauengestalten verknรผpft, den eigentlich Machtlosen in einer durch und durch patriarchalischen Gesellschaft. Die aber im entscheidenden Moment ihr Herz sprechen lassen und handeln.
Lieben mit Leidenschaft
Natรผrlich ist es ganz allein die Sicht von Georg Magirius auf die Bibel und die Botschaften, die sie fรผr ihn enthรคlt. Aber dass man darin Ermutigung finden kann zum aufrechten Gang, das dรผrfte auch anderen schon Lesefrucht gewesen sein. Und es deutet an, wohin Luthers Anfang gefรผhrt hat. Denn damit hat er die Priester in der Kirchenhierarchie eigentlich fรผr alle Zeiten enteignet. Jeder kann die Bibel lesen โ sogar in der รbersetzung, die ihm oder ihr am besten gefรคllt.
Und niemandem sind all die Gleichnisse und Szenen verschlossen, in denen Magirius Ermutigung und Bestรคrkung gefunden hat. Vielleicht der wichtigste Fund: die leidenschaftliche Liebe, die nicht nur in den Hoheliedern zu finden ist, die natรผrlich all den Verzichts- und Demutsforderungen einer strengen Kirche, wie sie jahrhundertelang war, widerspricht.
Ganze theologische Abhandlungen versuchen ja diesen Widerspruch zuzukitten mit wilden Konstrukten. Aber er lรคsst sich nicht zukitten. Der moralische Anspruch einer Kirche, die von ihren Schafen Demut fordert, passt nicht zu dem, was nicht nur Magirius in der Bibel findet. โKleinkariert wรคre ein Gott, der die Liebe nicht hรถren wรผrdeโ, schreibt er ganz am Schluss.
Womit sich sein Kreis schlieรt, denn zur Liebe gehรถrt das Wort. Wer nicht losgeht und die Anderen anspricht und Kontakt sucht, findet keine Liebe, sondern bleibt einsam und allein. โDas Wort, das Licht in den Tag bringt, kann ein Flรผstern sein. Leise Worte sind ohnehin stรคrker als ein Befehlโ, schreibt Magirius. Was man getrost als Aufforderung lesen darf, die eigene Hรถhle zu verlassen und wieder unter Menschen zu gehen.
Die Einsamkeit ist zwar allgegenwรคrtig und manche sind getrieben davon, diese Leere irgendwie zu ignorieren. Aber da steckt noch allemal das falsche Denken von zwei Jahrtausenden drin, das die Verschreckten und Eingeschรผchterten zum Funktionieren bringen will, wรคhrend alles, was wirklich ein โhimmlisches Lebenโ ausmacht, fรผr wertlos erklรคrt wird. Als hรคtten wir kein Recht, himmlisch zu leben. Aber wer sagt das eigentlich? Die Bibel jedenfalls nicht.
Georg Magirius Meine Bibel. Impulse fรผr das Hier und Jetzt, Coppenrath Verlag, Mรผnster 2022, 14 Euro.
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