Andere Verlage hätten diesem neuen Buch des Münchner Autors Benedikt Feiten ganz sicher das Label „Kriminalroman“ verpasst. Denn natürlich ist es von der Struktur her einer, wenn auch ein verblüffend moderner. Denn eine IT-Forensikerin gehört noch längst nicht zum Repertoire der gestandenen Autoren des Krimigenres. Mit Valerie hat Benedikt Feiten aber genau eine solche ins Zentrum seiner Geschichte gestellt.

Wenn es um die Auswertung von Datenträgern aller Art geht, sind sie und ihr Kollege Markus gefragt. Sie sind nicht selbst die ermittelnden Kommissare, sondern arbeiten den Ermittlern nur zu. Aber dieses „nur“ hat es in sich in einer Zeit, in der praktisch die komplette Kommunikation längst digital ist. Auch bei den Menschen, die sich in den Schwarz- und Graubereichen unserer Gesellschaft aufhalten, dort ihre Geschäfte machen und Absprachen treffen. Weshalb zu guter Polizeiarbeit längst gehört, bei solchen Fällen auch jeden möglichen Datenträger zu sichern und auszuwerten.

Klammer auf: zu schlechter Polizeiarbeit auch. Denn hier werden die Grenzen fließend. Auf den Rechnern der IT-Forensiker landen dann eben nicht nur geschäftliche Daten oder solche, die mit dem Fall zu tun haben, sondern auch jede Menge Einblicke in das Privatleben der Verdächtigten. Und das ist für Valerie schon lange ein Problem, denn schon bevor sie mit dem Mord eines Unternehmers zu tun bekommt, der sein Geld augenscheinlich mit der Ausbeutung illegal beschäftigter Arbeitskräfte aus Südosteuropa „verdient“ hat, ist ihr längst schon bewusst, dass sie eigentlich kein wirkliches Privatleben hat.

Die Wohnung teilt sie sich mit ihrem autistischen Bruder Thomas, der zwar hochintelligent ist, aber immer wieder seine Probleme hat mit der Unordnung der Welt. Partner hat sie eigentlich keinen, dafür taucht sie auf der Arbeit in die privaten Welten anderer Menschen ein, die all das elektronisch gespeichert haben, was sie selbst nicht leben kann.

Die Vereinsamung der Welt

Wobei man nicht recht weiß, ob sie das nicht will. Oder ob es ihr so geht wie immer mehr Bewohnern dieser digitalen Einöde, in der sich das Leben regelrecht in die virtuellen Räume verflüchtigt hat, während wir in der Realität immer mehr vereinsamen und es immer schwerer fällt, Kontakte, Vertrauen und Nähe zu anderen Menschen aufzubauen.

Und es wäre schon eine richtig starke Geschichte, ginge es nur Valerie so. Aber bei ihren Ermittlungen trifft sie mit Cristina und Adrian auf zwei Protagonisten, die auf ihre Art ebenso einsam sind, gestrandet in einem Leben, in dem sich ihre persönlichen Beziehungen radikal reduziert haben. Bei Adrian fast zwangsläufig, ist er ja immerhin einer der Strippenzieher des Netzwerkes, das die illegalen Arbeitskräfte in Rumänien anwirbt, um sie in einem schier undurchsichtigen System in deutschen Firmen arbeiten zu lassen, wo sie in der Regel die Drecksarbeit machen, oft ihr Geld nicht bekommen, und unter Bedingungen arbeiten, die von keiner Arbeitsschutzbestimmung gedeckt sind.

Für Adrian und seine Mitverschworenen – Freunde kann man sie ja nicht nennen – gehört Absicherung zum A und O. Sie wissen durchaus, wozu die Polizei fähig ist, wenn sie ihre Möglichkeiten tatsächlich nutzt. Man merkt schon, dass Feiten sich tief hineingekniet hat in die Materie und mit Leuten vom Fach gesprochen hat. Was Valerie macht, dürfte recht nah an der Wirklichkeit sein. Jedenfalls dann, wenn die IT-Abteilungen der Polizei gut ausgestattet sind. Cristina ist zwar scheinbar dabei, im Netzwerk von Adrian aufzusteigen, aber tatsächlich hat sie sich überhaupt nur auf den Weg nach Deutschland gemacht, um ihre Schwester Loredana zu suchen.

Sprachlos in der Wirklichkeit

Und dass Adrians Ehe schon längst kaputt ist, erfahren wir auch. Sogar sehr genau. Und es ist nicht nur seine Drogensucht, die alles kaputt gemacht hat. Es ist sein zweites Leben, das er nicht teilen kann, in das er so schnell wie möglich wieder zurückkehrt, wenn er die Stunden mit seinem Sohn Paul hinter sich hat. Aber geht es nur Leuten so, die ihre Geschäftsfelder im Schatten unserer Gesellschaft haben, wo die kriminellen Machenschaften sich in verschachtelten Firmengeflechten verstecken, in Subunternehmen von Subunternehmen, sodass die scheinheiligen Auftraggeber so tun können, als hätten sie davon gar keine Ahnung gehabt, wenn es auffliegt? Als wären sie nur von Ganoven ausgetrickst worden, auch wenn die Unglücksfälle in ihrem Betrieb passieren.

Es ist auch die verlogene Kehrseite von „Flexibilität“ und „Optimierung“, mit denen die Cleverles ihre Geschäfte begründen, bei denen sie skrupellos die Not der „Leiharbeiter“ ausnutzen. Und Adrian hat heftig damit zu tun, sich von den durch ihn Vermittelten fernzuhalten und sie möglichst nicht als lebendige Menschen mit Sorgen und Nöten wahrzunehmen. Denn dann beginnt man, Verständnis und Mitleid zu zeigen. Dann funktionieren die Vermittlungsmodelle nicht mehr wirklich, wenn man weiß, unter welchen miserablen Bedingungen diese Leute arbeiten müssen – ohne Absicherung, ohne Krankenversicherung.

Es ist ein Stück der finsteren Rückseite der ach so effizienten deutschen Arbeitswelt, das hier sichtbar wird. Ein Stück, das aber auch zeigt, dass die Vereinsamung nicht erst mit den digitalen Medien begann, sondern schon lange vorher – in eben solchen Denkweisen über den „flexiblen, mobilen und effizienten“ Arbeitnehmer, der für wenig Geld dafür sorgt, dass die Bude läuft und die Drecksarbeit gemacht wird.

Arbeit muss billig sein, haben wir das nicht so gelernt?

Wenn Arbeit alles ist

Aber dass so eine Denkweise eine ganze Gesellschaft korrumpiert, das ahnen zumindest aufmerksame Autoren wie Benedikt Feiten. Denn auch Valerie in ihrem letztlich unausweichlichen Single-Dasein lebt ja in einer Welt, in der eigentlich kein Raum und keine Zeit (mehr) ist, sich ein persönliches Beziehungsgeflecht aufzubauen, das auch abseits der Arbeit funktioniert und trägt. Ihre ganze Kraft fokussiert sie auf ihre Arbeit und auf die Dingfestmachung der Drahtzieher, die hinter dem illegalen Verleihsystem stecken. Und eigentlich gelingt es ihr auch – bis zu dem Punkt, an dem ihr ein cleverer Rechtsanwalt klarmacht, dass digitale Forensik noch viel mehr Absicherung und Kontrolle braucht als die eh schon knifflige Ermittlungsarbeit der Polizei.

Ein fehlender Datenabgleich – und der Angeklagte ist frei. Die ganze klug durchdachte Datenauswertung für die Katz. Das Wichtigste fehlt. Auch Ermittler erleben vor Gericht ihre Tragödien, wenn ihre Beweislage der strengen Befragung nicht standhält. Und was dann? Manche verbeißen sich dann trotzdem in den Fall. So wie Valerie, die diesen Adrian ganz bestimmt nicht von der Angel lassen möchte.

Von nun ab läuft alles auf einen Showdown im schönen Studentenstädtchen Leiden hinaus, in das Benedikt Feiten seine drei einsamen Protagonisten fahren lässt, jeder mit einem Ziel vor Augen, das unbedingt noch erreicht werden muss. Der eine will den Absprung schaffen und die letzten Spuren vernichten, eine hat noch eine Rechnung offen mit Adrian und eine will ihn unbedingt in dem Moment dingfest machen, in dem er die nötigen Beweise vernichten will.

Und am Ende wird tatsächlich geschossen – aber es geht nicht wirklich so aus, wie man es aus den üblichen Krimiserien so kennt. Jedenfalls nicht ganz. Denn eins haben alle drei nicht hinter sich gelassen. Und das ist ihre eigentümliche Rolle als einsame Bewohner einer Welt, in der sie sich nirgendwo wirklich zu Hause fühlen. Wofür in gewisser Weise auch der Buchtitel steht, der ja eigentlich nur den Bahnhof bezeichnet, den die Protagonisten am Ende kurz durcheilen. Ein Transitort, wie er typisch ist für unsere Zeit, modern, clean, ohne Aufenthaltsqualität. Eine Drehscheibe, auf der man schnellstens zum nächsten Zubringer eilt oder in die Stadt, in der man nicht zu Hause ist, sondern nur noch etwas zu erledigen hat.

Und dann?

Was passiert dann?

Dieses „dann“ fehlt allen dreien. So wie es vielen von uns heute Lebenden fehlt, die nicht einmal mehr spüren, was ihnen wirklich fehlt und warum sie so einsam sind. Und warum alles Rennen und Erfolghaben nicht hilft, nicht ausfüllt und auch kein Ziel kennt, außer immer so weiterzumachen. Das muss sich nicht nur Adrian sagen lassen, der das durchaus versteht. Aber dennoch nicht weiß, wie er es ändern soll und seinen Haushalt auflöst, als wolle er tatsächlich für immer verschwinden. Irgendwohin. Auch wenn er nicht mal Cristina gegenüber sagen kann, wo dieses wohin eigentlich hinführen würde.

Eigentlich ein Thema, das viele moderne Kriminalerzählungen trägt, auch wenn es die Autoren dann zumeist als moralisches Drama eines vom Leben gebeutelten Ermittlers beschreiben. Aber die Welten, mit denen es die Ermittler zu tun bekommen, sind ja unlösbar mit unserer scheinbar so schönen intakten Wirklichkeit verbunden. Sie sind Teil unserer Nichtwahrnehmung, unserer Gleichgültigkeit. Und sie funktionieren so, weil die völlige Sinnentleerung des reinen Wirtschaftens zwangsläufig zu Beziehungslosigkeit und Heimatlosigkeit führt, einer Verlorenheit im Orbit des reinen Funktionierens.

Und scheinbar funktionieren die Heldinnen und Helden in Feitens Roman richtig gut, geradezu perfekt, spielen ohne Stocken die richtigen Rollen. Eigentlich perfekte Akteure einer von Perfektionierung besessenen Zeit. So perfekt, dass sie eigentlich nicht wissen, wie das wäre, wenn sie einmal nicht perfekt und dafür verletzlich wären.

Darf man in unserer ach so vom Erfolg besessenen Welt eigentlich noch verletzlich sein und Schwäche zeigen?

Die verzweifelte Suche nach Ordnung

Es ist schon erstaunlich, wohin es einen führt, wenn man verstehen will, warum Valerie, Adrian und Cristina so handeln. Und warum man dennoch im Lauf der sehr flott, temporeich und lakonisch erzählten Geschichte Verständnis für sie aufbringt. Was bleibt von einem Leben, wenn man zwar gelernt hat, perfekt zu funktionieren und die Probleme anderer Leute zu lösen, für die eigene Verlorenheit aber keinen Ausweg weiß? Wie geht das?

Oder ist das nicht tatsächlich die große Sehnsucht unserer Zeit, die sich in den völlig falschen – den digitalen – Gefilden austobt, während die ach so Perfekten in der Wirklichkeit wie ausgeschaltet wirken. Oder sich wie eine Belastung fühlen, selbst für die wenigen Menschen, denen sie sich dann in ihrer Not kurz anvertrauen. Oder zumindest kurz wärmen, bevor sie wieder irgendeine Sache zu Ende bringen. Oder in Ordnung, je nachdem, wie man es betrachtet. Denn eigentlich ist es nicht nur Valeries Bruder Thomas, der ohne eine stringente Ordnung in seiner Welt nicht leben kann. Eine eindeutige Ordnung, die keine Zweifel und Ratlosigkeiten lässt. Unordnung hält nicht nur er nicht wirklich aus.

Am Ende hat alles eine Logik, eine schöne durchprogrammierte Struktur. Und die Ahnung schwingt durchaus mit, dass die Ordnungsstrukturen der digitalen Welt im Grunde nur umsetzen, was auch als Ordnungsprinzip für die Wirklichkeit gelten soll. Denn das steckt ja hinter Begriffen wie Optimierung und Effizienz, die den Menschen zum perfekten Funktionsteil einer logisch strukturierten Maschine machen.

Nur das, was Menschen in Beziehung bringt und Nähe und Vertrauen ermöglicht, das verschwindet dabei. Löst sich auf wie Valeries komplettes Privatleben. Und dann?

Das ist die Frage, die Benedikt Feiten mit „Leiden Centraal“ stellt. Und die muss jeder für sich selbst beantworten.

Benedikt Feiten: Leiden Centraal, Voland & Quist, Berlin/Dresden 2022, 24 Euro.

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