Es ist ja ein Zeichen unserer Zeit: Alles muss schnell gehen. Immer haben wir es eilig, sind eigentlich immer schon weg, bevor wir richtig da sind. Was ja ein paar clevere Leute auf die Idee brachte, uns Eiligen alles, was etwas länger dauern könnte, in Kompaktversion aufzukochen. Aber manchmal kommt dabei etwas ganz anderes heraus als nur eine Instant-Version. Einen „Luther für Eilige“ hat Fabian Vogt schon vorgelegt. Aber Jesus?
Aber wer Luther schafft, in ein schmales Bändchen zu packen, und dabei auch noch Spannendes an dem Reformator und Bibelübersetzer entdeckt, Seiten, die den Mann auch 500 Jahre später noch interessant machen, der schafft das auch mit Jesus. Gerade dann, wenn er es wie der studierte Theologe, Radiopfarrer und Kabarettist Fabian Vogt macht und mit einer Neugier an die Sache geht, die viele Theologen, Pfarrer und Bibelausleger in den vergangenen Jahrhunderten vermissen ließen.
Wenn die Botschaft unter Brimborium verschwunden ist
Und oft auch heute. Denn nicht ohne Grund sieht Kirche heute so aus, wie sie oft aussieht – verlassen regelrecht. Erstarrt in Ritualen und Strukturen, auch oft in Phrasen und Botschaften, mit denen nicht einmal Gläubige noch etwas anfangen können. Als wäre das nie eine wirklich lebendige Bewegung gewesen. Amts- und Würdenträger begreifen fast nie, dass es um sie und ihre kläglichen Ausreden eigentlich nie geht. Auch damals nicht ging.
Und deshalb ist Fabian Vogts Büchlein nicht nur etwas für gläubige Eilige, sondern auch für vollkommen Ungläubige, selbst all jene, die mit Auferstehung und Wundern nichts anfangen können. Die sich aber sehr wohl dafür interessieren, was für ein Mann das eigentlich war, der damals als Wanderprediger durch Galiläa lief und Dinge erzählte, die – wenn man sie mit unverstelltem Blick betrachtet – noch heute wirken und wichtig sind. Heute sogar noch viel mehr, da wieder einige verbissene alte Männer meinen, ihre Ansichten der Welt mit Gewalt einprügeln zu müssen.
Wobei ja nicht erst ein Krieg vom Zaun gebrochen werden musste, um mal wieder zu merken, wie verbissen die Stimmung längst wieder ist, wie aggressiv und gestresst. Als ginge ein Menschenleben auf dieser Erde ohne Groll, Grimm und Gewalt nicht. Nicht ohne Parteiung, Ausgrenzung und Selbstgerechtigkeit.
Was war das wirklich für eine Type?
Aber Vogt hat die Evangelien nicht mit theologischen Augen gelesen. Er hat versucht, diesen Jesus selbst zu fassen, der darin ja vorkommt, aber eben gespiegelt durch die Augen der Erzähler.
Und es sind nicht nur Bibelforscher, die ein Problem damit haben, dass die vier Evangelien wohl eben keine Augenzeugenberichte sind, sondern Sammlungen von Erinnerungen, Anekdoten, Gleichnissen und markanten Szenen, die in den Urgemeinden überdauert haben und irgendwann kanonisiert wurden.
Dass man es hier nicht mit „historisch belastbaren Texten“ zu tun hat, ist Fabian Vogt nur zu klar.
Aber warum beschäftigt man sich trotzdem mit dem Mann – auch nach 2.000 Jahren noch. Ist an seiner Botschaft also etwas dran, was man eine „zeitlose Wahrheit“ nennen kann, wie Vogt schreibt? Natürlich.
Und da hilft es erstaunlicherweise, dass Vogt mit den biblischen Texten umgeht, als wären sie einfach in einem völlig veralteten Stil geschrieben, mit mystischem Brimborium überladen und endlich mal reif, wieder in moderner, jugendlicher Sprache auf den Kern gebracht zu werden. Darf der das? Er macht es einfach.
Und um nicht wieder in den ganzen mythischen Zinnober zu verfallen, der viele Jesus-Erzählungen so ungenießbar macht, entspeckt er die Erzählungen, wirft alles aus dem Kostümfundus, was die Sicht auf den Mann aus Nazareth verstellt – und auf einmal wird das ein Mensch, den man so auch in Hamburg, Berlin oder München treffen könnte, gern ohne Heiligenschein und ätherische Vergeistigung.
Denn wenn man sich nicht auf das heilige Brimborium konzentriert, sondern auf das, was der Mann tatsächlich getan hat, dann entdeckt man einen geselligen Menschen, der gern mit anderen feierte, der gern Geschichten erzählte, gern deutlich wurde, wenn ihm das wichtig war, und der auch etwas gegen Vorurteile hatte. (Und auch die eigenen korrigieren konnte.)
Vielleicht das wichtigste seiner Anliegen: Sich nicht immer nur um die Wohlhabenden und Dazugehörenden zu kümmern, sondern auch um die Schwachen, Ausgestoßenen und Diskriminierten.
Wo ist das Himmelreich?
Wer die Evangelien so liest, entdeckt eine Gesellschaft, die genauso unter Blindheit, Dummheit und Selbstgerechtigkeit litt wie die unsrige. Von der römischen Besetzung und der Kollaboration der Mächtigen in diesem Fall ganz zu schweigen. Es kochte ja nicht grundlos in diesem Judäa.
Und dieser Wanderprediger aus Galiläa fiel wohl auch deshalb auf, weil er nicht wie andere einfach das nächste Armageddon prophezeite und Weh und Ach über Israel ausrief. Von ihren Ängsten waren die Leute wohl eh schon besessen. Aber stattdessen lief er herum und predigte just das Gegenteil des alten, jähzornigen Gottes: die Liebe.
Und zwar nicht die süßliche Liebe, die einem heute oft in spirituellen Kuschelkursen angedreht wird, sondern eine grundlegende Liebe. Was zum Beispiel in der Formel steckt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Was ja die meisten in der Doppelforderung überlesen.
Für Vogt ist aber klar: Wer sich nicht selbst lieben kann, der kann auch niemand anderen lieben. Und auch Gott nicht, der ja im Ersten Gebot zu finden ist. Wobei Vogt auch alle möglichen Türen öffnet, denn ihm ist sehr bewusst, dass viele Jüngere heute mit Gott nicht viel anfangen können.
Auch wenn es selbst in den Evangelien Angebote gibt (einige zitiert Vogt auch), in denen Gott mit seiner Schöpfung und seinen Geschöpfen identifiziert wird. Weshalb man das Himmelreich, von dem Jesus spricht, auch nicht im Himmel suchen muss, sondern auf Erden.
Da spürt man selbst, wie Vogt hadert mit all den alten Legenden einer von ihrer Macht besessenen Kirche, die den Menschen jahrhundertelang einredete, den Lohn für das Gute gäbe es erst nach dem Tod – in einem Himmelreich, in das nur all die kämen, die sich genug angestrengt hätten, christlich und „gottesfürchtig“ zu leben.
Und weil das augenscheinlich nicht half, erfand man dann im Mittelalter auch noch eine Hölle, mit der man die Gläubigen erst recht in Angst und Panik versetze. Wie Propaganda geht, das wusste die Kirche schon sehr gut.
Ein Synonym für Liebe
Aber das hat nicht wirklich viel mit dem Mann zu tun, der vor fast 2.000 Jahren durch Galiläa wanderte und seine Zuhörer immer wieder daran erinnerte, dass Gott eigentlich ein Synonym für Liebe ist. Und dass man Wunder tun kann, wenn man mit sich und seinen Mitmenschen liebevoll umgeht. Auch Wunder für sich selbst.
Denn das vermuten ja nicht nur Wissenschaftler, die sich intensiv mit den ganzen wundersamen Ereignissen im Neuen Testament beschäftigt haben, dass dahinter jede Menge Psychologie steckt. Wobei Fabian Vogt auch immer wieder daran erinnert, was eigentlich damals als normales religiöses Verständnis galt, was die Menschen eigentlich erwarteten von ihren Göttern und in welche Erwartungen sich einer wie Jesus einordnen musste.
Und natürlich erwarteten sie Wunder und Zeichen. So wie selbst unsere gebeutelten Zeitgenossen Wunder von Ärzten und Psychotherapeuten erwarten. Von Pfarrern ja bekanntlich schon weniger, auch wenn einige Sekten noch immer eifrig mit Wundern und Erleuchtungen werben.
Aber die eigentliche Kraft dieses Jesus sieht Fabian Vogt gar nicht in den Wundern, sondern in der Wirkung seiner Reden und Handlungen. Dieser Jesus fiel völlig aus dem üblichen Raster und seine Reden müssen gezündet haben, etwas ausgelöst haben, was seine Zeitgenossen so nicht kannten.
Was aber jeder selbst erleben kann, wenn er sein Leben ändert. Wenn er sein Schneckenhaus verlässt und sich wieder mutig auf Mitmenschen einlässt, Liebe gibt und Liebe zulässt. Worin dann, wie Vogt zu Recht feststellt, ein Zündfunke liegt, der die Welt verändern kann.
Ein völlig anderer, als ihn etwa die Römer erwarteten, wenn sie Aufrührer am Kreuz hinrichteten. Mit Gewalt können die Mächtigen immer umgehen. Die hat ihren Platz in ihrem platten Denken von Freund und Feind, Gut und Böse.
Die Fülle des Lebens
Aber die Mächtigen sind hilflos, wenn Menschen auf Gewalt verzichten und die Liebe zum Mittelpunkt ihres Seins und Tuns machen. Was eben auch das Erkennen einschließt, dass selbst noch der Arme und Beladene ein reich Beschenkter sein kann.
Noch so eine Stelle, an der Vogt die Kirche über die Jahrhunderte beim Lügen erwischt, denn nirgendwo fordert Jesus Armut, Kargheit, Dürftigkeit und Verzicht. „Jesus predigt weder von Verzicht noch von Selbstkasteiung oder irgendeiner Art von Selbsteinschränkung, sondern ganz klar von Fülle“, schreibt Vogt.
Man merkt schon: Eigentlich geht er mit den Evangelien um wie Luther. Aber er liest nicht ganz dieselben Sachen heraus, sondern sucht eigentlich den Jesus, den er als Mensch begreifen kann, als ganz heutigen Menschen. Und er nimmt ihn beim Wort.
Denn wenn man erst einmal diese Fülle annimmt, merkt man schnell: Hier geht es ums ganze Leben. Und zwar das Leben, das uns geschenkt ist und auf das wir immerfort verzichten, weil wir glauben, wie die Hamster im Rad rotieren und uns permanent mit der Aufdringlichkeit der (Konsum-)Welt beschäftigen zu müssen, die uns einredet, dass wir immer zu wenig haben und uns alles fehlt.
So gesehen entdeckt Vogt auch einen Jesus, der seine Zuhörer/-innen daran erinnert, dass ihnen allen das ganze Leben geschenkt ist und sie diese Fülle mit allen Sinnen genießen können, dürfen und müssen. Denn damit sind sie schon in Gottes Reich. Erst recht, wenn sie es mit Freude und in Liebe tun. Und sich selbst auch wieder lieben.
Denn das ist wohl die Krankheit, die uns heute noch immer plagt: Dieser stille Selbsthass, dieses Ungenügen und immerwährende Unzufriedensein, das durch die ganzen Vergleichsportale erst recht angefacht wird. Denn mit Neid und Unzufriedenheit kann man Menschen auch hörig und unglücklich machen.
Für wen ist der Sabbat da?
Aber nicht nur die Botschaft der Liebe und der Fülle findet Vogt (und die entsprechenden Sätze stehen tatsächlich in den Evangelien), sondern auch die der Freude, des Miteinanders und der Verantwortung.
Und natürlich die des Gesetzes, denn natürlich ging es Jesus zu seiner Zeit mit der Verknöcherung der jüdischen Religion schon genauso, wie es Luther 1.500 Jahre später ging und Fabian Vogt heute: Die Hohen Priester haben die ganze Glaubensgeschichte vollgepackt mit Normen, Regeln und Verboten, die am Ende alle Freiheit, alle Freude ersticken.
Was ja unter anderem in den großen Sabbat-Streit mündet, bei dem sich Jesus mit den strengen Gesetzeshütern richtig zofft und ihnen entgegenschleudert, dass der Sabbat nicht für Gott (oder die Gesetze) gemacht wurde, sondern für die Menschen.
Vogt findet also einen Jesus, der seine Zuhörer/-innen nicht nur dazu ermutigt, ein selbstbestimmtes Leben in Liebe und Verantwortung zu leben, sondern auch dazu auffordert, ihren Einklang mit sich und der Welt nicht durch das penible Einhalten sinnloser Regeln zu suchen, sondern durch ein tätiges Leben in Liebe und Zuwendung. Auch zu sich selbst.
Was immer wieder betont werden muss, denn für Vogt liest sich ganz klar die Dreieinigkeit der Liebe aus den Evangelien: zu Gott (und seiner Schöpfung), zum Nächsten und zu sich selbst. Wer so lebt, merkt ziemlich bald, dass die Freiheit in ihm selbst liegt. Und das funktionierte auch über den Tod des Menschensohnes, wie er sich nannte, hinaus.
Eine Botschaft in Gleichnissen
Da kann man zwar all die Geschichten von Wiederauferstehung für wundersame Erfindungen nehmen. Aber was ja als Kern tatsächlich bleibt, ist nun einmal die Tatsache, dass sich die kleine Gruppe der Jünger und Jüngerinnen dann dennoch aufraffte, das, was sie von all dem verstanden hatten, weiter in die Welt zu tragen. Ob es noch genau dasselbe war, was sich der Bursche aus Galiläa wirklich gedacht hat, kann sowieso niemand sagen.
Aber Fabian Vogt hält die meisten Gleichnisse durchaus für authentisch. Sie bewahren für ihn tatsächlich noch im Kern, was dieser Jesus tatsächlich gesagt und gewollt hat. Und weil sie so ungewöhnlich waren für diese Zeit, haben sie sich bewahrt und wurden zum Grundbestandteil der Evangelien. Und es steckt etwas in ihnen, das bis heute berührt. Da muss man nicht mal in die Kirche gehen.
Und es tangiert eben auch unser heutiges Verhältnis zu uns und der Welt. Denn so, wie wir mit uns umgehen, gehen wir auch mit der Welt um. Eigentlich eine ganz alte psychologische Erkenntnis, zu der sich viele aber einfach nicht durchringen können. Auf einmal wird die ganze Lehre des Wanderpredigers aus Galiläa auch zur einer Vermittlung von Lebenskunst, wie Vogt schreibt. Es geht um einen „elementaren Perspektivwechsel“, schreibt er.
Und versucht dann noch irgendwie den „Glauben“ gegen die Aufklärung zu rechtfertigen. Aber die Aufklärung hat mit all dem nichts zu tun. Und ohne sie wäre auch dieser Vogtsche Jesus nicht zu entdecken, der – wenn man genau hinschaut – auch ohne alle Wunder und Zeichen funktioniert. Als wäre er ein ganz moderne Influencer, der seine „Follower“ begeistert, weil er ihnen in mitreißenden Geschichten klarmacht, dass alles in ihnen liegt und sie selbst alles in der Hand haben: die Liebe, das Tun, das Himmelreich und die Veränderung der Welt.
Fabian Vogt Jesus für Eilige, Edition Chrismon in der Evangelischen Verlagsanstalt, Leipzig 2022, 12 Euro.
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