Der Sax-Verlag feiert in diesem Jahr seinen 30. Geburtstag. Und das feiert er nicht nur mit einer großen Buchpräsentation am 3. März im Literaturhaus mit Alberto Schwarz „Leipzig um 1850“. Das feiert er auch mit einem Buch, in dem Verlagsgründer Lutz Heydick gleich zwei Dinge versucht: das Programm des Sax-Verlags zu erklären und gleichzeitig herauszubekommen, was eigentlich Mitteldeutschland ist. Denn genau hier verortetet sich ja der Verlag.
Und auch wenn die Diskussion über Mitteldeutschland seit 100 Jahren anhält, hat dieser Ort nicht aufgehört, ein diffuser Ort zu sein, auch wenn er sich geografisch gut eingrenzen lässt. Auf den ersten Blick zumindest. Auf den zweiten wird es schon komplizierter, denn als die Diskussion um dieses Mitteldeutschland begann, reichte Deutschland im Osten noch bis Ostpreußen und Königsberg. Und umso verwirrender war es, als nach der deutschen Wiedervereinigung dieser alte Begriff aus der Versenkung geholt wurde, um nun auf einen Landesteil angewendet zu werden, der aus west- und süddeutscher Sicht eindeutig Ostdeutschland ist.
Aber so einfach ist die Sache nicht. Denn vieles, was diese Region vereint, ist über Jahrhunderte entstanden, eigentlich sogar seit über 1.000 Jahren, als die Ostexpansion des von ottonischen Königen und Kaisern regierten Reiches ihren Einfluss über Elbe und Saale hinaus ausdehnte und bis dahin sorbisch besiedeltes Gebiet zum Teil Deutschlands machte. Ein Moment, in dem das Herrschaftsgebiet der Ottonen selbst tatsächlich in die Mitte rückte und für über 100 Jahre das Herz des jungen deutschen Reiches wurde. Und dessen Hauptorte gehören heute allesamt zu jenen Bundesländern, die man mit Mitteldeutschland assoziiert: Magdeburg, Halberstadt, Quedlinburg, Merseburg, Eisenach.
Es war ja auch ein Autor, der im Sax-Verlag schon veröffentlicht hat, der diese gemeinsame Geschichte der drei Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen versuchte in einem Buch zusammenzufassen: Steffen Raßloff in „Mitteldeutsche Geschichte“. Ein wahrscheinlich unersetzliches Buch für die Gegenwart, da den meisten Bewohnern der Region nicht mal die eigene Geschichte vertraut ist. Aber wer nicht weiß, wie eine politische Region entstanden ist, ist auch politisch blind. Der sieht nicht, welches die Grundstrukturen sind und auch nicht die geografischen Rahmenbedingungen, die Wohl und Wehe der ganzen Region bestimmen.
Denn der Blick auf Geografie und Geologie zeigt natürlich, welche prägende Rolle seit Jahrtausenden die begrenzenden Mittelgebirge Erzgebirge, Thüringer Wald und Harz gespielt haben, die fruchtbaren Böden der Leipziger Tieflandsbucht, oder wie die großen Flüsse Saale und Elbe von Anfang an die Siedlungsknotenpunkte und die Handelswege bestimmten.
Und das schon zu Zeiten, als hier das erste greifbare Reich entstand, jenes Reich der Himmelsscheibe, das Harald Meller und Kai Michel in „Griff nach den Sternen“ beschrieben haben. Es ist damit das erste auch durch Artefakte greifbare Reich in dieser Region. Erst viel später wird das Reich der Thüringer greifbar, das dann vom Merowingerreich geschluckt wurde.
Und endgültig greifbar wird die mitteldeutsche Geschichte dann mit dem Aufstieg erst der Ekkehardiner zu Markgrafen in Meißen, dann mit dem Aufkommen der Wettiner, denen es bis ins 15. Jahrhundert gelang, fast die gesamte Region unter ihre Herrschaft zu bringen. Es war der Zeitpunkt, zu dem sie endgültig unter die ersten Reichsfürsten aufstiegen, die Kurwürde erwarben und damit den alten sächsischen Herzogstitel, dessen Wanderung elbaufwärts Lutz Heydick natürlich auch kurz streift.
Im Grude ist sein Buch ein Versuch, alle Basiserzählungen zu Mitteldeutschland zusammenzutragen. Wozu ja nicht nur die diversen politischen Grenzen gehören und das Auf und Ab der Dynastien. Es gehört auch die Sprache hinzu, die ja gleich mit drei Vorgängen verbunden ist, in denen – von Mitteldeutschland aus – die Herausbildung einer gemeinsamen deutschen Hochsprache vorangetrieben wurde.
Eigentlich müsste Heydick gar nicht erzählen, was für eine geschichtsträchtige Landschaft das ist. Aber die Aufteilung in drei eher kleine Bundesländer sorgt eben auch dafür, dass auch immer nur die kleine Landesgeschichte vermittelt wird. Und damit der Blick dafür verloren geht, wie hier spätestens im 18. Jahrhundert auch eine gemeinsame reiche Kulturlandschaft entstanden ist, die das literarische und musikalische Leben in ganz Deutschland beeinflusste.
Und spätestens mit der Industrialisierung ab Beginn des 19. Jahrhunderts rückt die ganze Region ins Zentrum der deutschen Wirtschaftsentwicklung – mit dem makabren Höhepunkt der Kriegswirtschaft im NS-Reich, wie Heydick natürlich auch betont. Aber hier wurde nun einmal die erste deutsche Ferneisenbahn gebaut, sorgte die Kohle für den Brennstoff der ersten Industrialisierung und entstand der erste Schwerpunkt der Chemieindustrie. Auch das ist reine vereinende Klammer – bis hin zu den Erfahrungen mit der massiven Deindustrialisierung nach der deutschen Wiedervereinigung. Denn aus dieser einstigen wirtschaftlichen Stärke bezogen viele Bewohner der Region auch ihren Stolz.
Logisch, dass sich der 1992 gegründete Verlag schon ab 1992 Gedanken darüber machte, worin eigentlich das Selbstverständnis dieses Mitteldeutschland bestehen könnte. „Tragende Säule der gesamten Verlagsarbeit ist der durch die beiden Gründer und Lektoren Erika und Lutz Heydick formulierte Anspruch, einen geschichtswissenschaftlichen Verlag für den zunächst sächsischen und inzwischen mitteldeutschen Raum zu schaffen“, betont der Verlag noch heute.
Und Lutz Heydick erzählt natürlich auch, wie er sich selbst in dieser Landschaft verortet – geboren in Artern, einer Stadt an der Unstrut, die er bei seiner kenntnisreich geschilderten Radtour unstrut-abwärts natürlich auch berührte. Mal gehörte die Stadt zu Thüringen, mal zu Sachsen-Anhalt. Und in Sachsen lebt Heydick ja nun seit Jahrzehnten, hat in Beucha mit seiner Frau Erika den Verlag gegründet, der damals auch eine Lücke zu füllen hatte, die durch die DDR-Zeit und das „Verschwindenlassen“ der alten Länder entstanden war.
Entsprechend groß war die Nachfrage nach landeskundlicher Literatur, die der Sax-Verlag immer versucht hat, auf wissenschaftlicher Grundlage zu befriedigen. Dass dabei viele Gebiete erstmals überhaupt umfassend dargestellt wurden, ist folgerichtig. Manches konnte auch erst jetzt erarbeitet werden – so wie die eindrucksvolle Buchreihe von Lothar Eißman und Frank W. Junge zum Mitteldeutschen Seenland, das überall dort entstanden ist, wo industrielle Ressourcengewinnung beendet wurde – die Tagebauseen in der Kohlelandschaft sind ja nur ein Teil derselben.
Und natürlich prägen diese Seen nun ebenfalls die mitteldeutsche Landschaft, vereinen geradezu das mitteldeutsche Kohlerevier, in dem die Metropolregion Leipzig sich verortet mit Leipzig und Halle als Mittelpunkte einer neuen Technologieregion, die sich zuallererst tatsächlich als mitteldeutsch empfindet. Hier wird sichtbar, dass sich die Seele einer Landschaft zuallererst über Infrastrukturen ausbildet, Transportwege, Knotenpunkte, das, was in Vorzeiten Flüsse und Handelsrouten wie die Via Regia entstehen ließen und in industriellen Zeiten Eisenbahnverbindungen, Autobahnkreuze, Flughäfen und S-Bahn-Netze.
Sie sorgen dafür, dass Wege kürzer werden und sich Regionen verstärkt über ihre Mittelpunkte definieren, die eben nicht nur als Motor empfunden werden – etwa für Wirtschaft, Forschung und Hochschulen – sondern auch als neue Identifikationspunkte, die den Glanz einstiger Residenzen überstrahlen. Denn die Residenzen werden immer mehr zur touristischen und musealen Attraktion, stehen aber nicht mehr im Mittelpunkt einer Entwicklung, in der sich altgewohnte Landesbezüge immer neu definieren.
Denn die Frage, die bei Heydick mitschwingt, ist durchaus berechtigt: Wie stark fühlen sich die Menschen in der Region eigentlich noch ihren jeweiligen Bundesländern verbunden und wie stark ist die Identifikation mit der Gesamtregion, die ja erst dadurch, dass alles zusammenwirkt, mit den Metropolregionen im Westen mithalten kann. Jedes einzelne Bundesland wäre dafür zu klein.
Gibt es also so eine Art mitteldeutsche Identität – die ja durch einige Angebote des Mitteldeutschen Rundfunks auch bedient wird? Oder ist das doch nur eine wissenschaftliche Klammer für eine Gemeinsamkeit, der dann doch noch jene Kaminwärme fehlt, die in der alten Landesgeschichte oft noch zu spüren ist, wenn die Sachsen von ihrem starken August schwärmen, die Thüringer von der heiligen Elisabeth und die Anhaltiner vom Alten Dessauer oder Albrecht dem Bären … aber schon wenn man die Namen aufzählt, merkt man, dass Heydicks Frage wohl nur zu berechtigt ist. Die alte Geschichte ist oft wirklich nur noch Stoff für Fernsehfilme.
Die Gegenwart schöpft, wie Heydick zumindest andeutet, viel eher aus Traditionen des Erfindergeistes, der Unternehmenslust und der Liberalität, die ja in Mitteldeutschland auch historisch verortbar ist – von der bürgerlichen Revolution 1848/1849 über den Beginn von Arbeiter- und Frauenbewegung bis hin zur Friedlichen Revolution, die nicht grundlos im rußigen mitteldeutschen Industrierevier begann.
Alles Fragen, die eben nicht nur das zurückliegende Verlagsprogramm des Sax-Verlags beleuchten, sondern auch Anregungen für alle Weitere liefern. Den diese Frage nach der (empfundenen) Mitte Deutschlands wird weiter im Raum stehen. Und ganz gewiss einige Autoren dazu bringen, ihren Blick auf Region und Geschichte zu weiten, die größeren Strukturen und Entwicklungslinien zu suchen, die eine Region wirklich dauerhaft prägen und in gewisser Weise unverwechselbar machen.
Lutz Heydick Gefühlt: mitteldeutsch, Sax-Verlag, Beucha und Markkleeberg 2022, 12 Euro.
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