Man möchte nicht in der Haut von Paul Stainer stecken. Was sein Autor Thomas Ziebula dem erst seit wenigen Wochen wieder im Dienst tätigen Leipziger Kriminalinspektor alles zumutet, würde auch Männer ohne Kriegstrauma an die Grenzen ihrer Möglichkeiten bringen. Aber das Jahr 1920 war auch im Leipzig kein ruhiges und friedliches Jahr. Im Gegenteil.
Ziebulas Romanreihe um Paul Stainer ist auch ein Versuch, die Dramatik dieser frühen Jahre der Weimarer Republik, ihre Konflikte und ihre Gewalt sichtbar zu machen. Und gerade dieser Band macht deutlich, wie wenig präsent gerade die Märztage 1920 im Leipziger Gedächtnis überhaupt noch sind.
Und Ziebula hat ganz bestimmt nicht damit gerechnet, dass sein Buch ausgerechnet in einer Zeit erscheint, in der in europäischen Städten wieder Barrikaden gebaut werden und blutige Straßenschlachten stattfinden. Auch wenn das im März 1920 nicht annähernd so zerstörerisch stattfand wie heute in den Städten der Ukraine.
Aber der Geist ist einem auf einmal wieder schrecklich vertraut. Auch der Geist der dekorierten Männer, die glauben, ihre Vorstellungen von der Welt Anderen mit Gewalt aufdrücken zu können, so wie es am 13. März 1920 General Walther von Lüttwitz mit Unterstützung Erich Ludendorffs in Berlin versuchte, wo sie den Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp zum neuen Regierungschef machen wollten.
Vier Tage hielt der Kapp-Putsch Deutschland in Atem. Ein landesweiter Generalstreik machte ihm letztlich den Garaus. Und eigentlich hätte dieser Putsch auf Berlin beschränkt bleiben können. Doch das zwielichtige Verhalten einiger wichtiger Reichswehroffiziere außerhalb Berlins sorgte dafür, dass es auch andernorts zu blutigen Zwischenfällen kam, so auch in Leipzig.
Die zwielichtige Rolle des Generals von Pilsach
Hier war es das uneindeutige Verhalten des hier stationierten Kommandanten der Reichswehrbrigade 19 General Bodo Senfft von Pilsach, das aus einem Sonntag mit 18 angekündigten Demonstrationen gegen den Kapp-Putsch einen Blutsonntag werden ließ. Ein Ereignis, das die Historiker bis heute verwirrt, denn während die linken Parteien den Generalstreik befürworteten und zu sternförmigen Demonstrationen ins Zentrum der Stadt aufriefen, ließ von Pilsach scheinbar in Furcht vor einem Aufstand der „Spartakisten“ die ganze Innenstadt abriegeln und mit Reichswehrtruppen und Einheiten der Zeitfreiwilligen besetzen – alle schwer bewaffnet.
Der vierte Band der Leipziger Stadtgeschichte (wo Bodo Senfft von Pilsach leider mit Maximilian Senfft von Pilsach verwechselt wird, der damit gar nichts zu tun hatte) zeigt ein Foto mit Zeitfreiwilligen, die mit Maschinengewehr fröhlich lachend in einem Hauseingang liegen.
Als dann die Demonstrationszüge mit wohl mehr als 100.000 Teilnehmen auf die Barrikaden am Augustusplatz trafen, fielen Schüsse, starben 15 Demonstrationsteilnehmer und zwei Zeitfreiwillige und in Leipzig begann eine Konfrontation, die die Stadt eine Woche lang in Angst und Schrecken versetze und quasi mit der Erstürmung und Inbrandsetzung des Volkshauses in der Zeitzer Straße (heute Karl-Liebknecht-Straße) endete.
Zumindest symbolisch. Denn die eigentliche Arbeit, die kämpfenden Parteien an einen Tisch zu bekommen und zur Einstellung der Kampfhandlungen zu bewegen, leistete der SPD-Politiker und Reichstagsabgeordnete Richard Lipinski.
Den Thomas Ziebula natürlich erwähnt. Genauso, wie er den erzkonservativen von Pilsach auftreten lässt, der mit seiner arroganten Weise, „Ruhe und Ordnung“ in der Leipziger Innenstadt zu sichern, erst dafür sorgt, dass es zu blutigen Kämpfen kommt.
Ziebulas Krimi ist auch ein Versuch, diese Leipziger Blutwoche sehr lebendig werden zu lassen und vor allem so in die Handlung des neuesten Kriminalfalls einzuflechten, dass seine Akteure immer wieder mitten in die Schusslinie geraten. Was natürlich kaum zu vermeiden ist, wenn überall im Stadtgebiet Barrikaden die Straßen abriegeln und gleichzeitig auch noch Messe ist und die Stadt voller Besucher von auswärts.
Die zwielichtige Rolle des Generals von Pilsach
Und mitten in diesen sowieso schon chaotischen Verhältnissen treibt auch noch ein Mörder sein Unwesen, dessen Taten schon in ihrer blutigen Ausführung verraten, dass man es hier wohl mit einem jener seelisch zutiefst Lädierten aus dem ja gerade erst beendeten Krieg zu tun haben kann. Dass Stainer unter den Albträumen des Krieges leidet, hat man ja schon in den beiden Vorgängerbänden miterleben können. Und beinah hätte ihn das ja schon seinen Job bei der Leipziger Kriminalpolizei gekostet.
Aber er ist eben nicht der Einzige, der den Krieg im Kopf nicht losgeworden ist. Und es ist auch nicht nur von Pilsach allein, der den alten autokratischen Zeiten nachtrauert und nur zu bereit ist, die demokratisch gewählte Reichsregierung für illegitim zu erklären und sich den Putschisten anzuschließen.
Der alte Geist steckt auch noch in den Köpfen anderer Offiziere und auch einiger von Stainers Kollegen. Und dass Rechtsradikale schon seit geraumer Zeit wieder Waffenhorte anlegen, das war ja schon Thema im letzten Band „Abels Auferstehung“.
Ziebula, der eigentlich in Karlsruhe lebt, versucht wirklich sehr akribisch, das Leipzig dieser Nachkriegszeit zu erfassen. Eine Stadt, die er sogar zu seiner Lieblingsstadt erklärt hat. Die aber auch 1920 nicht davor gefeit war, zum Tummelplatz der neuen Rechtsradikalen zu werden, die die junge Republik von Anfang an bekämpften und darin immer auch Unterstützung durch die alten konservativen Kreise fanden.
Es ist auch die Zeit, in der in diesen erzkonservativen Kreisen die Parole in Umlauf kam, die Republik sei gerade von den Linken bedroht und diese planten immerzu den bewaffneten Aufstand. Eine Parole, die ja geradezu zur Paranoia wurde und bis heute in immer neuen Verwandlungen auftaucht.
Eine Stadt im Bürgerkrieg
Man betrachtet ja die Weimarer Republik meist nur von ihrem Ende her, als wäre sie einzig durch das Agieren der Radikalen gescheitert. Und man vergisst dabei, mit welcher seelischen Last das Land tatsächlich gestartet ist, wie kriegsversehrt die Überlebenden der Schützengräben auch dann meist waren, wenn sie das Gemetzel körperlich heil überlebt haben.
Dazu gehört eben auch, wie leicht Waffengewalt für all diese Überlebenden des Krieges auch als Lösung für die politischen Probleme des Alltags infrage kam. Bei den Barrikadenkämpfen im März 1920 standen sich auf beiden Seiten Männer gegenüber, die ihr Soldatenhandwerk im Krieg gelernt hatten, auch wenn es wohl eher die Zeitfreiwilligen waren, die mit ihrer fehlenden Erfahrung zuerst die Nerven verloren.
Das Ergebnis bedeutet im Rahmen dieser Geschichte eben ein Leipzig, in dem tagelang geschossen wird und die Polizei selbst gar keine Chance hat, die Lage zu befrieden. Sodass auch Stainer und seine Kollegen riesige Umwege fahren müssen, um heil an die Tatorte zu kommen. Oder zu den Menschen, die sie lieben. Oder dann eben ins Städtische Krankenhaus St. Jakob, wo die Verwundeten und Sterbenden angeliefert werden und der diensthabende Arzt im Fließband operiert.
Manchmal wird es Stainer da tatsächlich zu viel und er ist kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Aber man merkt auch, wie Ziebula tickt. Denn er mag friedliche Menschen, die an den Schrecken der Welt leiden. Er ergreift Partei. Mit Typen wie dem steifen von Pilsach und seiner Militär-Arroganz kann er nichts anfangen. Dafür lässt er Stainer eine neue Liebe entdecken, oder gar zwei.
Wer liebt, gibt sich nicht auf. Der kämpft und rafft sich immer wieder hoch. Der handelt möglicherweise auch so wie der Oberstleutnant von Herzberg, den Ziebula als Gegengewicht zum opportunistischen General von Pilsach gezeichnet hat. Der aber dann doch zum letzten Opfer des Mörders wird, niedergemetzelt bei heldenhafter Rettungstat.
Blutiges Leipzig, könnte man sagen. Gespickt wieder mit rasenden Fahrten mit den damals verfügbaren Automobilen und Krafträdern durch die Stadt, selbst auf Strecken, auf denen man auch damals gut zu Fuß vorankam. Ein paar PS weniger wären vielleicht nicht schlecht gewesen. Und ein bisschen weniger Personal im Showdown im Abtnaundorfer Park.
Irgendwie ging da mit Thomas Ziebula dann doch der Dramatiker durch, der noch einmal eine große Bühne aufbauen wollte und vielleicht ein bisschen Angst davor hatte, die Geschichte ganz unspektakulär enden zu lassen. So, wie die meisten Polizeifälle enden, auch wenn der Sonntagabendkrimi im TV etwas anderes erzählt.
Die gewaltbereiten Totengräber der Republik
Aber vielleicht war es auch nur der eine Handlungsstrang zu viel, den er gar nicht gebraucht hätte, auch wenn „ein alter Bekannter“ schon im vorhergehenden Band für die Brutalität jener Leute stand, die die junge Republik, verachteten und bekämpften. Und zwar von Anfang an mit Gewalt und Fememorden.
Ein Phänomen, das Thomas Ziebula jedenfalls sehr wichtig ist, es mit markanten Strichen und Figuren zu zeigen, weil man es meistens ausblendet oder übersieht, wenn man über die Weimarer Republik, erzählt und glaubt, sie sei am Fehlen von Demokraten gestorben. Nein, sie ist am gewaltsamen Denken jener Leute gestorben, die immer geglaubt haben (und bis heute glauben), dass Gewalt Recht gebiert und die Macht ihnen allein gehört.
Wozu dann auch ein Kult bedingungsloser Männlichkeit gehört, den Ziebula gerade mit den diversen Uniformträgern in der Geschichte thematisiert. Und der hier auftretende General von Pilsach ist nur zu typisch für dieses im preußischen Geist erzogene Militär, das auch ab 1930 die Strippen zog, um den Machtwechsel einzuleiten.
Bis zuletzt nicht bereit, eine Republik zu akzeptieren, in der auch die Habenichtse Reichspräsident werden konnten. Und das gehört ja nun tatsächlich auch zur Leipziger Geschichte in dieser Zeit. Zur deutschen Geschichten natürlich erst recht. Da wird wohl auf diesen eigentlich all der blutigen Kämpfe müden Paul Stainer noch einiges zukommen. Vielleicht auch ein paar Fälle, in denen er nicht wie wild von Tatort zu Tatort hetzen muss.
Thomas Ziebula Engel des Todes, Wunderlich Verlag, Hamburg 2022, 20 Euro.
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