Schon der erste Band war frech. โ€žDie Sรคuferinnen / Die Sรคuferโ€œ hieรŸ der erste Band mit Philosophen-Portrรคts aus dem Katapult Verlag. Hat ihn Richard David Precht wirklich gelesen, der ja selbst drei Bรคnde zur Geschichte der Philosophie geschrieben hat? Wer weiรŸ. Aber eins macht Katapult auch mit dem neuen Band klar: Philosophen sind Menschen wie wir.

Sie haben nicht nur manchmal eine grรถรŸere Zuneigung zu alkoholischen Getrรคnken. Wie unsereins auch. Es sind ihre menschlichen โ€žFehlerโ€œ, die sie mit dem realen Leben hinieden verbinden.

Philosophen, die nicht mal einen รผber den Durst trinken und nicht leben, kann man nicht รผber den Weg trauen. Sie schaffen meist prรผde, sinnenfeindliche Theorien, mit denen dann Generationen von Studierenden gequรคlt werden, ohne dass es das Geringste zum Wohl und zur Schรถnheit der Welt beitrรคgt.

Wรคhrend die anderen, die philosophieren, dies auch und vor allem als Grundbedingung zur Verรคnderung der Welt betrachten, in der Regel all das erleben, was unangepasste Zeitgenossen immer erleben: Missverstehen, Ausgrenzung, Abwertung. Dabei fรคngt gerade mit ihnen die Freude am Denken an.

Denken als Lebensmittel

Denn sie halten das systematische Nachdenken รผber unsere Welt nicht fรผr eine Disziplin der Denkakrobatik, sondern fรผr ein Lebensmittel. Ein Mittel, das hilft, unser Leben und unser Miteinander besser zu verstehen. Und damit wird es ganz schnell politisch.

Denn nichts fรผrchten Autokraten und andere Sachwalter der Macht so sehr, wie den selberdenkenden und kritischen Menschen, der sich seines Verstandes selbst bedient und die ungerechten Verhรคltnisse infrage stellt.

Und solche Typen fรผllen nun den zweiten Band aus dieser Reihe. Nichts ist ihnen ferner als das Schreiben im Kรคmmerlein. Sie wissen, dass Worte Taten werden. Und sie wollen wirken. Im Guten und โ€“ in einem Fall auch im Schlechten.

Sodass man den Judenhasser Carl Schmitt, der einst den autokratischen Fรผhrerstaat schon lange vor Hitlers Machtรผbernahme logisch begrรผndete und legitimierte, durchaus als einen Kaputten bezeichnen kann. Einen, der auch nach dem Ende des Hitlerreiches nicht aufhรถrte, seine Verachtung fรผr die liberale Demokratie in Schriften zu fassen.

Er ist der Kontrapunkt in diesem Buch, der zeigt, dass sich die Autor/-innen dieser Reihe auch nicht davor fรผrchten, die trรผben Seiten dessen, was manchmal als Philosophie gedruckt wird, zu beleuchten. Denn aus der Welt ist ein Carl Schmitt ja nicht damit, indem man ihn einfach weglรคsst.

Dazu lesen ihn heute immer noch viel zu viele Leute โ€“ am hรคufigsten wohl jene, die wieder von einem Fรผhrerstaat samt gleichgeschalteter โ€žVolksgemeinschaftโ€œ trรคumen. Aber auch linke Denker und Politiker lesen Schnitt. Denn wer nicht weiรŸ, wie der Gegner tickt, steht seinem Treiben und Denken meist ratlos gegenรผber.

Lebendige Philosophie ist kein Blรผmchenfach

Spiegelbildlich gehรถrt dazu das Leben und das Werk von Antonio Gramsci, den einst Mussolini ins Gefรคngnis steckte, weil er diesen brillanten linken Denker ausschalten wollte. Was ihm zum Teil gelang, denn im Gefรคngnis ging Gramsci gesundheitlich kaputt. Aber dafรผr schrieb er dort seine Gefรคngnishefte, in denen er auch die Basis legte fรผr die Schaffung einer Theorie der politischen Hegemonie, die nach und nach zur Verรคnderung der Gesellschaft fรผhrt.

Ein Konzept, das die heutigen Rechtsradikalen fรผr sich entdeckt haben und deshalb alles dazu tun, die Gesellschaft mit ihrer Ideologie nach und nach zu durchtrรคnken. Meist unter dem scheinheiligen Motto des โ€žMuss man ja mal sagen dรผrfenโ€œ.

Man merkt, dass die Autor/-innen dieser kleinen Portrรคts im Buch Philosophie ganz und gar nicht fรผr ein Blรผmchenfach an der Uni halten, sondern sehr genau hinschauen, wie Gedankenwelten wirken und Leben und Politik beeinflussen.

Manchmal dienen diese Konstrukte auch dazu, jahrhundertealte Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen zu untermauern und zu verteidigen. Ja, die herrschaftsdienlichen Philosophen gibt es auch.

Jedes Portrรคt ist mit Grafiken gespickt, die โ€“ ganz nach Katapult-Art โ€“ zeigen, wie die jeweils skizzierten Philosophien die Realitรคt in unserer Welt beschreiben. Oder von ihnen beeinflusst werden.

Das Fortwirken eines Carl Schmitt ist nicht denkbar, ohne die Nachkriegskarrieren selbst hochrangiger Nazis im politischen und gesellschaftlichen System der Bundesrepublik. Eine doppelseitige Grafik macht das sichtbar. Sie trugen zwar keine Uniformen mehr, aber ihr Denken lebte fort.

Aber auch bei Gramsci begegnet man diesen Phรคnomenen. Sehr schรถn dargestellt mit der in Zitate geballten Empรถrung von SPD-Granden und konservativen Medien, als der damalige Juso-Vorsitzende Kevin Kรผhnert das verbotene Wort โ€žVergesellschaftungโ€œ aussprach.

Eine Empรถrung, mit der der slowenische Philosoph Slavoj Zizek natรผrlich nicht rechnen muss. Er ist lรคngst ein Super-Star der linken Philosophie und scheut sich nicht im mindesten, den Linken im Westen vorzuwerfen, dass sie sich lรคngst dem Marktdenken und der kapitalistischen Augenwischerei verschrieben haben und die eigentlichen Probleme nicht mehr anpacken.

Der Mut, nicht wegzulaufen

Die Autor/-innen dieses Buches lieben die Widerspenstigen und Unangepassten. Und sie nutzen die Gelegenheit, den Lesern auch Philosophinnen und Akteure ans Herz zu legen, denen das Vergessen droht, weil sie in die รผblichen Heldenerzรคhlungen nicht passen. Angefangen mit Simone Weil, die dem immerfort nach Grรผnden suchenden Denken die lebendige Tat entgegensetze.

Und dafรผr auch ihren eigenen Tod in Kauf nahm. Weiter geht es mit Liu Xiaobo, dem chinesischen Philosophen, der sich lieber einsperren lieรŸ, als vor der autoritรคren Politik der chinesischen KP zu kneifen.

Mancher wird auch die polnische Sozialistin Rosa Luxemburg neu kennenlernen, wenn ihr kompromissloser Weg erzรคhlt wird, auf dem sie auch die dickfelligen Genossen in der eigenen Partei kritisierte. Von Lenin, Marx und Engels ganz zu schweigen.

Man lernt die Anarchistin Emma Goldman kennen und โ€ždas Sprachgenieโ€œ Ludwig Wittgenstein, die franzรถsische Philosophin Sarah Kofman, die am Ende wohl daran zerbrach, dass sie die Leidensgeschichte ihrer Familie zu erzรคhlen versuchte โ€“ und das Leid nicht ertragen konnte. Mit Angela Davis wird eine der bekanntesten Streiterinnen gegen die Diskriminierung in den USA portrรคtiert.

Das ist ein sehr schรถner Aspekt an diesem Buch, dass darin dem weiblichen Teil menschlichen Denkens und Streitens der ihm gebรผhrende Platz eingerรคumt wird. Was eben auch sichtbar macht, dass die Philosophie nur deshalb so von alten Mรคnnern dominiert erscheint, weil die Frauen immer wieder negiert werden, letztlich doppelt ignoriert.

Als wรคre nur wichtig, was grau gewordene Professoren in langweiligen Systemtheorien zusammengebastelt haben. Und nicht das, was drauรŸen vor den Fenstern tatsรคchlich passiert ist. Und weiter passiert.

Raus aus dem mรคnnerdominierten Kanon

Denn all die schรถnen Kathederreden der Professoren nutzen ja nichts, wenn sie im Leben der gewรถhnlichen Menschen keine Rolle spielen. Und sie รคndern schon gar nichts an ungerechten Verhรคltnissen.

Was ja die kluge Venezianerin Isotta Nogarola schon im 15. Jahrhundert erlebte, als die gelehrte Mรคnnerwelt mit geschlossener Ignoranz klarmachte, dass man mit klugen Frauen ganz bestimmt keinen wissenschaftlichen Disput beginnt. Das war den Herren im Talar vรถllig unter ihrer Wรผrde.

Und in weiten Teilen hat sich das bis heute erhalten. Auch weil die falschen Philosophen weiterhin gefeiert werden und immer wieder zitiert, wรคhrend die, die sich mutig einmischten und Gegenrede wagten, als nicht zum Kanon gehรถrend betrachtet werden.

Und zwar meist genau die, die ihre Thesen und Kritiken an den tatsรคchlichen Missstรคnden der Welt ausrichten, die in den sehr einfรผhlsamen Portrรคts als Karten und Grafiken eingebaut sind. Manchmal bewusst ironisch, etwa wenn eine Karte zeigt, was fรผr Typen noch so in der Wiener Gegend lebten und aufwuchsen, in der Ludwig Wittgenstein lebte.

Oder wenn eine typische Katapult-Grafik im Gramsci-Portrรคt zeigt, wie verbreitet rechtsextreme Einstellungen heute noch immer in Deutschland sind. Oder wenn eine Karte im Luxemburg-Artikel deutlich macht, wie groรŸ das deutsche Kolonialreich war, als die deutsche SPD sich zur kuschelweichen Reformpartei entwickelte. Was ja auch deutlich macht, wie groรŸ der Druck der Anpassung ist. Auch in der Politik.

Wo bleiben da eigentlich noch Freirรคume fรผr wirklich freie Diskussionen, Unangepasstheit und Radikalitรคt? Und womit mรผssen diejenigen rechnen, die sich nicht anpassen, weil damit die ganze Idee verwรคssert und verkauft wird?

Die Verweigerung von Lehrstรผhlen, Gefรคngnis und รถffentliche Diffamierung sind dann oft schon das Normale, was solche kritischen Kรถpfe zu erwarten haben. Das halte mal einer aus. Das รผberlebe eine erst mal. Wobei gerade bei den portrรคtierten Frauen deutlich wird, wie sehr รœberzeugung und Aufrichtigkeit dazugehรถren, wenn man eine Sache fรผr richtig erkannt hat.

Der Mut zum Widerspruch

Das ganze Buch ist eine herzhafte Einladung an โ€žalle bisher Desinteressiertenโ€œ, die eine berechtigte Scheu vor der groรŸen und schwer verstรคndlichen Philosophie hatten. Eine nur zu berechtigte Scheu, weil nach wie vor ausgerechnet die schwer Verstรคndlichen allerseits gepriesen und angebetet werden, auch wenn ihre ausgeklรผgelten Sรคtze nichts und niemandem wirklich nรผtzen.

Dafรผr wird das nach wie vor verachtet, was man praktische Philosophie nennen darf: genau jene Bereitschaft, den Ungerechtigkeiten in der Welt die Stirn zu bieten, die die hier Portrรคtierten (mit Ausnahme Schmitts) alle gezeigt haben. Manchmal, weil sie selbst schon unter starkem psychischem Druck standen (wie Zizek) oder weil sie die offensichtlichen Fehlentwicklungen nicht aushielten und den Getretenen und Verachteten eine Stimme geben wollten.

Wer die Portrรคts liest, merkt, wie eng das Leben der Portrรคtierten mit ihren philosophischen Positionen verknรผpft ist. Und dass eine wirklich gute Philosophie genau hier ihre Wurzeln hat. Wer sich nicht (mehr) empรถren kann รผber den miserablen Zustand der Welt, der wird auch keine mitreiรŸende Philosophie entwickeln, der wird auch seine Leser/-innen nicht begeistern.

Genau dafรผr ist das Buch wieder ein lebendiges Plรคdoyer: Sich die Lust am Denken nicht nehmen zu lassen und Philosophie auch immer als Einmischung zu begreifen. Dann braucht man zwar ein dickes Fell und eine Menge Frustrationstoleranz.

Denn dann merkt man, wie ungern sich die NutznieรŸer alter Provisorien sagen lassen, dass die Welt sich รคndern muss und ganz bestimmt noch nicht fertig ist und schon gar nicht die โ€žbeste aller mรถglichenโ€œ. Aber erst dann wird die Liebe zum Denken wirksam.

Es ist ein schรถn gestalteter Fehdehandschuh, den die Greifswalder hier in den Ring geworfen haben. Philosophie kann so lebendig sein, wenn sie sich ums richtige und irdische Leben kรผmmert. Denn nur was wir begriffen haben, kรถnnen wir auch รคndern.

Die Kaputten und die Kaputtgemachten, Katapult Verlag, Greifswald 2022.

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