Er ist der unbekannteste unter den großen Malern der deutschen Renaissance: der Maler Mathis, den die Kunstwissenschaft so selbstverständlich Matthias Grünewald nennt, obwohl völlig unklar ist, ob er sich selbst tatsächlich so genannt hat. Wo wurde er geboren? Wo starb er? 2001 machte ihn die in Leipzig geborene Autorin Ines Thorn zum Helden eines ihrer ersten Romane.
Den hat jetzt der St. Benno Verlag mit in seine Reihe historischer Romane übernommen, in denen biblische und religiöse Gestalten im Mittelpunkt stehen. Denn natürlich haben sich viele Autor/-innen in den vergangenen Jahrhunderten mit diesen Themen auch literarisch intensiv beschäftigt. Sie regen die Fantasie an, animieren geradezu, die Menschen früherer Epochen verstehen zu wollen in ihrem Handeln, in ihrer tiefen Gläubigkeit und in ihrer Eingebundenheit in die Welt.
Ein neues Menschenbild
Und die Maler der Renaissance scheinen sich ja geradezu anzubieten, mit ihnen auch die Entwicklung des modernen Menschenbildes nachzuzeichnen, stehen Künstler wie Dürer, Holbein oder Lucas Cranach ja auch für den selbstbewussten Renaissance-Menschen, der sich seines eigenen Wertes auch als Künstler bewusst wird. Nach einem Zeitalter der praktisch namenlosen mittelalterlichen Malerei machen sie sich im ganzen Sinn des Wortes einen Namen, betreiben berühmte Werkstätten und formen mit ihrer Kunst auch eine völlig neue Sicht auf den Menschen in der Welt.
Mathis, der Maler aus Aschaffenburg, fällt da deutlich aus dem Rahmen. Angefangen damit, dass nicht mal sein Geburtsort eindeutig zu klären ist. Oder ist es doch Würzburg? Ines Thorn bietet ein Nest namens Grünberg-Neustadt an, macht ihren Matthias zum Sohn eines dort ansässigen Malers. Sie lässt ihn 1532 in den Diensten der Grafen von Erbach im Odenwald sterben – vergessen von seinen Zeitgenossen. Die biografische Notiz, die der Verlag dem Buch gegeben hat, bevorzugt den Sterbeort Halle an der Saale, wo er 1528 gestorben sein soll.
Seit 1989 erinnert dort am Mühlberg eine von Gerhard Geyer geschaffene Plastik an den berühmten Maler, der im Dienst des Bischofs Albrecht von Brandenburg gestorben sein soll. Die Wissenschaft diskutiert bis heute, ob sich hier nicht die Schicksale zweier verschiedener Künstler biografisch vermengt haben. Was es natürlich auch Autorinnen nicht leichter macht, eine mögliche Künstlerbiografie daraus entstehen zu lassen. Vor allem auch eine, die erklärt, warum der Mann so schwer zu fassen ist. War er tatsächlich so schüchtern oder gar so tief religiös, dass ihm an der eigenen Vermarktung in einer Zeit, in der ein Name schon einen Wert hatte, so gar nichts gelegen war?
Immerhin ist es der Grundkonflikt, den Ines Thorn ihrer Geschichte zugrunde legte. Schon als Knabe übertrifft er seinen Vater und die Gesellen in dessen Werkstatt deutlich, was seine Kunstfertigkeit betrifft. Im Kloster der Antoniter erweckt er damit die Aufmerksamkeit der Mönche, die ihm den Weg ebnen nach Frankfurt, wo er erstmals Kontakt bekommt zu den großen Meistern seiner Zeit – zu Hans Holbein und Jörg Ratgeb. Sie ermöglichen ihm den Kontakt zu Tilman Riemenschneider und Lucas Cranach. Sein Können würde ihm eigentlich den Weg bereiten zu einer eigenen Werkstatt und zum Meistertitel.
Wie entsteht große Kunst?
Aber dieser Matthias, den Ines Thorn zeichnet, will das nicht. Er versteht seine Kunst als Dienst an Gott – und das im doppelten Sinn. Es ist auch eine Suche nach dem Kern des Künstlerseins, die Ines Thorn hier gestaltet: Woher nimmt große Kunst eigentlich ihre Wucht? Wie bringt sie die Menschen, die davor stehen, zum Weinen? Reicht dazu denn nicht Meisterschaft? Und warum beeindrucken die heute Grünewald zugeschriebenen Malereien noch immer, fallen auch auf, wenn man sie neben die Arbeiten seiner berühmten Zeitgenossen hält? Als hätte er mit besonderer Intensität Leid und Verzweiflung, Hoffnung und Vertrauen gemalt?
Braucht es dazu das, was Thorn ihren Helden immer wieder erleben lässt: Zeiten tiefer Krisen, der Infragestellung des eigenen Glaubens und des eigenen Könnens? Die Unfähigkeit, auch nur malen zu können, wenn dieser Maler sich nicht von Gott berührt glaubt?
Oder sind das Krisen, die eigentlich alle großen Künstler erleiden? Zumindest weiß man es von diesem Matthias Grünewald nicht, der noch ganz im mittelalterlichen Verständnis hinter sein Werk zurücktrat. Vielleicht auch zurücktreten wollte. Vielleicht war ihm das Selbstbewusstsein der Dürer und Cranach tatsächlich fremd. Da muss er nicht einmal ein besonders getriebener Mensch gewesen sein, wie ihn Ines Thorn zeichnet. Man darf ja nicht vergessen, dass der Reformation in Deutschland auch eine regelrechte Endzeitstimmung vorausging, verbunden mit einem tiefen Krisenempfinden, das sich schon ab 1493 in den süddeutschen Bauernaufständen sichtbar machte, die später als Bundschuh-Bewegung bezeichnet wurden.
Endzeitstimmung, Ablass und Bundschuh
Grünewalds Malerfreund Jörg Ratgeb sollte im Ergebnis dieser Unruhen wegen Hochverrats die Hinrichtung durch Vierteilung erleiden. Und Tilman Riemenschneider verlor so nicht nur sein Amt und die Hälfte seines Vermögens. Dass ihm die Hände gebrochen wurden, ist freilich eine Legende. Aber Ines Thorn lässt durchaus ahnen, in welche Zeit ihr Maler Matthias da hineingeboren wurde. Und dass die Konfliktlinien eben nicht nur zwischen den armen Bauern und den reichen Adligen verliefen.
Und die Position der Künstler war mitten in der Veränderung begriffen. Noch sind vor allem Kirchenherren und Klöster die Auftraggeber für Matthias, auch wenn ihn Ines Thorn mehrfach den reichen Frankfurter Kaufleuten begegnen lässt. Aber auch die heute noch Matthias Grünewald zugeschriebenen Werke erzählen ja davon, dass er zeitlebens kirchlichen Auftraggebern verbunden blieb. Sein Hauptwerk sind Altäre, das berühmteste der Isenheimer Altar. Und in ihnen lässt sich durchaus jene Zeitstimmung sehen, die auch den jungen Luther zur Verzweiflung brachte. Woran ja bekanntlich die Kirche in Rom nicht ganz unschuldig war, als sie den Ablasshandel in Deutschland befeuerte.
Gerade Ratgeb bringt den Frust über dieses Verhalten der Kirche zum Ausdruck, wenn er regelrecht wütet über diese Dauerpredigt des schuldigen Menschen, der sich von seiner Schuld nur durch Ablass freikaufen kann. Es verwundert ganz und gar nicht, dass das tatsächlich viele Menschen in dieser Zeit zutiefst verängstigte und gleichzeitig wütend machte, denn vor ihren Augen lebten auch die Kleriker ein Leben, das dem Prunk und Protz der adligen Feudalherren in nichts nachstand.
Die Kraft der Liebe?
Fühlte auch dieser Matthias so? Versuchte er dieses ganz persönliche Leiden in seine Bilder zu malen? Wir wissen es nicht. Für Ines Thorn ist es trotzdem die Linie, die durch das Leben ihres Helden verläuft, den sie sich in die zur Prostitution gezwungene Magdalena verlieben lässt, der er immer wieder begegnet und mit der er dennoch nie einen Hausstand gründen wird. Eine Geschichte über eine unmögliche Liebe in einer Zeit, in der Standesgrenzen bestimmten, wer wen heiraten konnte. Aber um mit einer derartigen Wucht wie dieser Maler Matthias malen zu können, braucht es doch eine immense Liebe, die Fähigkeit, mit allen Kräften zu lieben und zu verzweifeln.
Und so steht natürlich die Frage: Endete das Leben dieses Malers tatsächlich tragisch? So ganz in Verzweiflung, wie Thorn ihren Helden den Tod suchen lässt, obwohl er eigentlich Erlösung sucht nach dem Verlust all seiner Lieben?
Was sich natürlich nur im vom Winter umklammerten Odenwald so dramatisch inszenieren lässt, nicht in Halle, wo er vier Jahre früher gestorben sein soll, auch wenn man dort von keiner Grabstelle weiß.
Für Ines Thorn war dieser Maler ein Getriebener, der ganz für seine Kunst lebte und im Schaffensprozess seine Nähe zu Gott fand. Und der dann auch nichts mit der ihm angetrauten Frau anfangen konnte, die ihm der Frankfurter Kaufmann Heller besorgt hatte. Ein Außenseiter aus eigenem Willen, einer, der sich in Gesellschaft Anderer nicht wohlfühlte und erst aufblühte, wenn ein Bild in ihm Gestalt annahm und vor seinem Auge zu leben begann.
Das Leid der Zeit sichtbar machen
Aber ist das nicht auch ein eher modernes Kunstverständnis? Eine gute Frage, die sich so schwer beantworten lässt, gerade weil dieser Maler so schwer greifbar ist und so seine Bilder für ihn sprechen müssen. Was sie gewiss auch tun. Denn das ist unverkennbar, dass er nicht nur eine für seine Zeit neue Sichtweise auf das menschliche Leiden und die markanten Szenen aus der Bibel suchte und fand, sondern weil er mit Gewissheit auch seine Zeitgenossen abbildete, vielleicht nicht porträtierte. Aber Thorn hat natürlich recht, dass die Intensität seiner Bilder nur erklärbar ist, wenn man davon ausgeht, dass er die Orte des Leidens in seiner Zeit nicht mied – nicht die Hinrichtungsstätten und auch nicht die Krankenasyle.
Der frühe Tod gehörte zu seiner Zeit zum Alltag. Die tiefe Gläubigkeit um 1500 hat auch mit der steten Gegenwart von Krankheit und Tod zu tun. Und auch dieser Matthias ist ja nicht alt geworden, egal, welche biografischen Daten man dafür zur Grundlage nimmt. Ein Roman über sein Leben kann nur der Versuch sein, sein Wirken mit viel Fantasie zu imaginieren und dabei die Lebensbedingungen seiner Zeit und die Arbeitswelt damaliger Maler zu berücksichtigen, die sich selbst zumeist noch als Handwerker verstanden. Auch wenn Zeitgenossen wie Dürer und Cranach diesen Rahmen schon sprengten.
Aber genau hier verschwindet dieser Matthias Grünewald im Schatten, selbst die Selbstporträts, die man ihm zuschrieb, waren nicht wirklich welche. Aber wissen möchte man schon, wie ein Maler dachte, der diese beeindruckenden Altäre schuf. Ines Thorn hat es auf ihre Weise versucht. Und es ist zumindest eine mögliche Annäherung an einen Künstler, der die Leiden seiner Zeit so eindrucksvoll in Altarbilder bannte, wie es auch seinen berühmten Zeitgenossen nur selten gelang.
Ines Thorn Der Maler Gottes, St. Benno Verlag, Leipzig 2022, 14,95 Euro.
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