Der Verlag war gleich ganz forsch und stellte Domenico Müllensiefens Roman in die Tradition von Wolfgang Hilbig und Clemens Meyer. Aber vielleicht hat er damit sogar recht. Denn diese Tradition enthält ein Erzählgenre, das in der vom seelengeschwängerten deutschen Mittelstandsroman dominierten „hohen“ Literatur nicht vorkommt: die Welt der Underdogs, die gar keine Zeit haben für Seelenwehwehchen. Dafür ist ihr Leben viel zu ruppig.

Sie sinnieren nicht in schönen Kolumnen darüber, was die politischen Wendemanöver und das Wohlstandsgelaber der Gutversorgten eigentlich mit unserer Gesellschaft anrichten. Die Helden, die hier auftauchen, wissen, wie es da aussieht, wo die Konflikte tatsächlich ausgetragen und abgeladen werden. Denn die Gutversorgten wissen immer, wie man sich den ganzen Schlamassel vom Hals hält.

Sie haben auch schon vor Corona in gut abgeschirmten Welten gelebt. Sie haben ihre hübsch gepamperte Moral. Aber wie man sich fühlt, wenn man schon beim Start ganz unten ist, das wissen sie nicht, wollen sie auch gar nicht wissen. Denn sie verachten diese Leute da unten, die Heikos, Karstens und Thomasse, wie sie hier in Domenico Müllensiefens Roman aus dem Leipzig der Nach„wende“zeit die Helden sind.

Ruppige Helden, die sich nichts geben. Die gelernt haben, dass man erst mal die Klappe hält, bevor man die Regeln begriffen hat, und dass man auch erst mal den Bierholer macht, bevor man den älteren Kollegen gegenüber den Mund aufreißt.

Die unsichtbaren Drecksarbeiter da draußen

Dass der 1987 in Magdeburg geborene Domenico Müllensiefen weiß, wie es da unten aussieht und wie es sich anfühlt, das merkt man schon auf den ersten Seiten. Auch er hat eine Ausbildung gemacht, zwar nicht zum Elektriker wie sein Erzähler Heiko, aber zum Systemelektroniker.

Auch er hat auf Montage gearbeitet und erlebt, wie das ist, wenn man als ostdeutscher Monteur im Westen im Einsatz war. Und sogar als Bestatter hat er während seines Studiums am Literaturinstitut gearbeitet. Dass er die Arbeitsschritte im Beerdigungsinstitut und auf dem Friedhof so detailliert schildern kann, überrascht also nicht.

Und er kennt auch Heikos Zeit des Nicht-Fußfassens, auch wenn er heute als Bauleiter tätig ist, durchaus ungewöhnlich für einen Absolventen des Literaturinstituts. Aber das ist wohl der beste Weg, mit der Wirklichkeit da draußen in Kontakt zu bleiben und nicht die Elfenbeinturm-Mentalität auszubilden, die leider die maßgeblichen deutschen Welterklärer für gewöhnlich haben.

Die in einer Welt leben, in der scheinbar alle Dinge wie von Zauberhand geschehen. Man sieht die Malocher, Drecksarbeiter, Handwerker, Dienstleister und anderen schwitzenden Gestalten nicht, die weitab von hochbezahlten Wohlstandswelten dafür sorgen, dass der Laden einfach läuft.

Raubeinige Gestalten natürlich. Hier herrscht kein feiner Ton. Woher soll der auch kommen? Die jungen Leute, die sich hier begegnen, kennen sich meist schon aus der Schule, wo sie eh schon abgestempelt waren. Denn wer nicht studiert, ist ja nix Besonderes in unserem Land, der gehört zu denen da unten, über deren Sitten, Sprechweise und Kultur man sich naserümpfend äußert, wenn überhaupt.

Von Boom noch nichts zu sehen

Man kann sie auch die Unsichtbaren nennen, obwohl sie – statistisch betrachtet – die Hälfte unserer Gesellschaft ausmachen. Sie bauen unsere Häuser, legen Wasser- und Stromleitungen, putzen die Flure und Fenster, sitzen im Supermarkt an der Kasse wie Jana, Heikos erste Freundin, die er beim Bierholen für seine Kollegen kennenlernt. Oder besser: drauf gestoßen wird, dass sie ihn mag, von allein hätte er sich das nie getraut. So wie damals bei der von allen bewunderten Mandy auf dem Schulhof.

Heiko ist in einer Welt aufgewachsen, in der man früh lernt, sich keine Blöße zu geben, sondern besser den harten oder coolen Hund mimt, wenn man von den Nachbarn und Freunden anerkannt werden will. Hier gibt es keine Statussymbole, keinen von den Eltern geschenkten Reichtum, mit denen man beeindrucken kann.

Das erste Moped oder das erste gebrauchte Auto muss man sich selbst zusammensparen und dafür auch schon mal jobben. Auch wenn es Därmespülen beim Vater von Thomas ist, der sich bis in die frühen 2000er Jahre ganz gut durchgeschlagen hat mit dem familiären Schlachtbetrieb.

Aber da kriselt es schon. Mit Müllensiefen taucht man ein in eine Zeit, in der Leipzig alles andere war als eine fett und prächtig gewordene Boomtown. Wer jung war und es sich zutraute, der packte auch damals noch seine Sachen und ging in den Westen. Nichts deutete darauf hin, dass sich diese gebeutelte Stadt an der Pleiße demnächst fangen würde.

Handwerker wie der Elektriker, bei dem Heiko seine Ausbildung macht, schicken ihre Leute regelmäßig auf den Bau in den Westen. Und es klingt glaubwürdig, wenn Müllensiefen davon berichtet, wie die Entsandten dort als Billigjobber aus dem Osten behandelt wurden.

„… und nimm den Rest von euch mit …“

Und auch, wie das an die Würde ging. Nicht nur das. Mit emotionaler Wucht wird das in einer Szene deutlich, in der der eigentlich vor lauter Menschenfreundlichkeit platzende Schulleiter aus dem Westen die Eltern der drei Freunde in die Schule bittet und am Ende selbst von zwei wütenden Vätern abgekanzelt wird, die ihre ganze Wut über die westdeutsche Eroberermentalität auf den Mann herabprasseln lassen.

Es ist der Vater von Thomas, der dem eingeschüchterten Schulleiter die Worte ins Gesicht schleudert: „Geh dahin, wo du herkommst. Und nimm den Rest von euch gleich mit. Und wenn du zu Hause bist, schickst du unsere Leute zurück. Sie fehlen.“

Da ist er noch ein erfolgreicher Handwerksmeister, dessen Schlachtbetrieb gut läuft. Nicht ahnend, dass ein ganz anders formatierter Westdeutscher aus Schalke in wenigen Jahren dafür sorgen würde, dass die Schlachtbetriebe und Fleischereien in ganz Mitteldeutschland pleitegehen würden.

Die stinkenden Laster mit den fröhlich grinsenden Kühen fahren im Buch immer wieder über die Autobahnen, über die auch Heiko immer wieder fahren muss – zuletzt als Angestellter in einem Beerdigungsinstitut, das mit dem Internet in völlig neue Dimensionen wachsen will. Die Billigheimerei hat am Ende also auch das Bestattungsgewerbe erreicht.

Da ist er Jana schon lange los, auch wenn das durchaus hätte klappen können, hätte er nicht eines Tages Janas alkoholabhängigen Vater verdroschen. Auch das so eine Szene, an der man merkt, wo eigentlich all die gläsernen Decken eingebaut sind, die die von ganz da unten erst überwinden müssen, wenn man in ruhigeres Fahrwasser kommen will.

Was ja bildlich untertrieben ist, denn ganz da unten sind finanzielle Nöte immer präsent. Da gibt es keine Goldenen Zweige und keine Rücklagen. Auch nicht bei den Meiers, als ihnen „der Schalker“ praktisch das komplette Gechäftsfeld zerstört.

Freunde fürs Leben

Und deshalb erzählt Müllensiefen die Geschichte, wie die drei Freunde im Grunde den Lebenstraum von Thomas schlachten in den Wänden des leergeräumten Schlachtbetriebes, ganz am Ende – parallel zur Beerdigung von Thomas, der sich wenige Tage zuvor totgefahren hat.

Und erst nach und nach merkt man, dass man sich anfangs durchaus falsche Vorstellungen von diesen drei Freunden gemacht hat – vom glücklich nach Amerika ausgewanderten Karsten und vom quasi enterbten Fleischersohn Thomas, der nie wirklich Tritt fasst nach dem Ende von Vaters Betrieb und auch zu Heiko den Kontakt verloren hat, der seine Vergangenheit sowieso erst zusammenbauen muss aus lauter Fragmenten, denn so ganz zufällig sind die Kontakte damals nicht abgerissen.

Aber er weiß auch genau, dass er nie andere Freunde hatte als eben Karsten und Thomas. Freunde, die man sich nicht aussucht danach, ob sie einem nützen im Leben oder beim Karrieremachen. Noch so ein Begriff aus der Wohlstandswelt.

Die einfach da sind, wenn man sie braucht. Und mit denen man auch die verrückten Sachen machen kann, die einem zumindest für eine Weile das Gefühl geben, dass man am Leben ist und dass es was zu erleben gibt in dieser Welt – jenseits von pünktlichem Arbeitsbeginn, versifften Monteursunterkünften und Anschissen von Chefs, die sich auch noch als Wohltäter fühlen, wenn sie einen saumäßig schlecht bezahlen.

Mit 2.000 Euro weiß Heiko zwar nichts anzufangen. Aber was man mit Geld anfangen kann, lernt man sowieso erst, wenn man welches übrig hat. Deswegen ist das Gejammer in unserer Gesellschaft, das die Headlines füllt, reines Wohlstandsgejammer von Leuten, die immerzu das Gefühl haben, irgendjemand will an ihre Unterwäsche, obwohl sie eigentlich schon lange nicht mehr wissen, was sie mit der ganzen Knete noch anfangen sollen – außer sie noch mehr Knete hecken zu lassen.

Kein Platz für Seelentrost

So ein hochemotional, herrlich ruppig und rücksichtslos geschriebener Roman, wie ihn Müllensiefen hier vorgelegt hat, macht sogar fühlbar, dass das schon lange kein Riss mehr ist, der quer durch unsere Gesellschaft läuft. Die Gutbetuchten, die sich auch auf der Arbeit die Hände nicht schmutzig machen müssen, leben nicht nur geistig in einer völlig anderen Welt. Sie leben auch in anderen Stadtvierteln, die sich die Kinder aus dem Plattenbau sowieso nie leisten können. Wo sie sich auch nicht wohlfühlen würden.

Dass Heiko doch irgendwie zwischen den Welten verloren ist, merkt man immer dann, wenn er darüber nachgrübelt, warum all das so gekommen ist. Er „hat seinen Kopf eingeschaltet“, wie es ihm mehrere Protagonisten in der Geschichte ins Gesicht sagen.

Mal in der großkotzigen Geste von Ausbildern, die ihre Lehrlinge eher wie dumme Kinder behandeln, die eh zu blöd sind für die simpelsten Jobs, aber auch von seinen Freunden hört er es, die viel früher merken, dass Heiko so ein verdammter Grübler ist, der vor lauter Grübeln seine Chancen nicht sieht.

Denn in der Welt von Thomas und und Karsten, Maik und Raik, Markus und Mike ist kein Platz zum Grübeln. Da funktioniert man, macht, was einem gesagt wird, spurt, wie das so schön in LTI heißt. Und hält ansonsten die Klappe, wenn der Chef einen zusammenstaucht. Oder geht über peinliche Situationen mit derben Sprüchen hinweg.

Die Arbeitsmarktpolitik der Reichen

Und da Müllensiefen das Leipzig der Jahre 1999 bis 2014 als Hintergrund wählt – inklusive zweier Fußball-Weltmeisterschaften, die wichtig sind für die Dramaturgie der Geschichte –, bekommt man auch ein Gefühl dafür, wie sich diese Stadt damals anfühlte, wenn man zu den Kindern „aus armen Verhältnissen“ gehörte, die die Segnungen der „neuen Arbeitsmarktpolitik“ vor die Nase gesetzt bekamen und auf eine völlig aus dem Ruder laufenden Arbeitswelt trafen, in der mit den Beschäftigten umgegangen wurde, als wären sie wirklich nur billiges „Humankapital“, von dem es beim Amt oder an der Stellenbörse haufenweise billigen Nachschub gab.

Durch einige Leipziger Stadtviertel wehte ein sehr rauer Wind – tut es oft noch heute, auch wenn die Trinker unten vorm Wohnblock weniger geworden sind und auch die vielen Kneipen, in denen sich die Durstigen trafen, deutlich seltener geworden sind, verdrängt von einer Gentrifizierung, die im Buch noch nicht vorkommt, die aber die direkte Folge dieser Wild-West-Zeiten ist, die eben nicht mit den „Wilden Jahren“ endete, die Clemens Meyer in seinen großen Romanen beschrieben hat.

Was passiert mit den Kindern dieser Welt, wenn sie den Aufstieg nicht schaffen? Wenn sich die Wut in Verachtung und Hass verwandeln? Wut über die genommenen Chancen, die Verlogenheit eines Systems, das von „Fördern und Fordern“ schwafelt, wenn es eigentlich blinden Gehorsam und Klappehalten verlangt?

Das am Ende so dramatisch endende Leben von Thomas in Heikos altem Auto hat eine gewisse Folgerichtigkeit, auch wenn zuletzt lauter unbeantwortbare Fragen bleiben. Denn Heiko hat lieber die paar wenigen Chancen genutzt, die sich ihm boten, auch wenn sie ihn nie auf einen grünen Zweig gebracht haben und noch mit 30 vor der Frage stehen lassen, ob er nicht endlich die Kraft findet, eine Familie zu gründen.

Das Leistungsprinzip der Wohlversorgten

Nichts liegt Müllensiefen ferner als ein weiterer deutscher Bildungsroman. Seine Helden machen keinen dieser verlogenen Reifungsprozesse vom wilden Köter zum glücklichen Aufsteiger durch.

Und trotzdem ist die Geschichte voller Spannung, ist man hin und her geschleudert zwischen den Erzählebenen, spürt man auch den Zeitdruck auf diesem Heiko, ein Zeitdruck, der typisch ist für diese Zeit des völlig entfesselten Arbeitsmarktes, als das deutsche Bürgertum die Lasten der fälligen Transformation wieder bei denen ganz unten ablud. Das ist geübt. Das passiert quasi von allein.

Und man muss es auch nicht wahrnehmen, egal, in welcher Statistik es auftaucht. Wer keine Stimme hat, der wird auch nicht bedauert. Der soll sich lieber anstrengen, herrscht doch in unserer Gesellschaft das absolute Leistungsprinzip. Von dem freilich meist nur diejenigen reden, die eh schon in Watte gepackt sind. Während sie die Knappgehaltenen auch noch mit smarten Sprüchen antreiben, noch eine Nummer zuzulegen im Galopp.

Ein Galopp, den man in vielen Szenen in diesem Buch durchaus spürt. Auch wenn Heiko am Ende kurz davor ist, den ganzen Bettel hinzuschmeißen. Oder was bedeutet es, wenn er das Diensthandy gleich mal mit ins Grab legt, bevor er es zuschaufelt?

Der Roman hat Dampf. Im doppelten Sinn. Und zwar gerade deshalb, weil er in kompakter Atemlosigkeit erzählt, wie sich das Leben anfühlt, wenn man sich durchbeißen muss und keiner einem dabei helfen kann. Außer da zu sein, wenn’s mal zu dicke wurde und man jemandem zum Saufen und gemeinsamen Austicken braucht.

Ach ja, wir ticken ja nicht aus. Wir sind ja wohlerzogen.

Wenn Sie sich beim nächsten Roman nicht langweilen wollen, lesen Sie den. Da geht’s ums wirkliche Leben – das außerhalb der Wohlfühlblase. Wenn Sie sich trauen.

Domenico MüllensiefenAus unseren Feuern, Kanon Verlag, Berlin 2022, 24 Euro.

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