So schnell kann das gehen. Kaum sind Fotos und Buch fertig, entschwindet Erna Primula aus Leipzig. Noch einmal gibt es bezaubernde Bilder vom Garten hinterm Friedhof, faszinierende Blumenbouquets und ein mit Tipps angereichertes Plรคdoyer fรผr die Slowflower-Bewegung. Und schon lautet die Anschrift nicht mehr Leipzig, sondern Schwรคbisch Hall. Aber bei Slowflower geht es nicht nur um nachhaltigen Schnittblumenanbau.
โIm Zuge der Globalisierung hat sich der Preisdruck verschรคrft und die Produktion von รผber 90 % aller Schnittblumen, die in Deutschland verkauft werden, wurde ins Ausland verlegt. Heute versinnbildlichen Blumen etwas, wofรผr sie selbst kaum mehr stehen: Schnittblumen sind zur Massenware geworden: billig, uniform und jederzeit verfรผgbarโ, zieht die kleine Gruppe von Slowflower-Engagierten ihre Bilanz zum heutigen inakzeptablen Zustand unserer Blumen-Welt. Es geht also auch um Fairness, Regionalitรคt und die Tatsache, dass man sich keine Prise Gift in die Nase saugt, wenn man an einem Strauร Blumen riecht.
Dass die Blumenproduktion in ferne Lรคnder abgewandert ist und dort mit umweltschรคdlichen Methoden billige Blumen fรผr den europรคischen Markt produziert werden, hat freilich nichts damit zu tun, dass heimische Blumen teuer oder unbezahlbar sind.
Es hat nur mit dem Dumping-Denken einer immer mehr von Monopolen dominierten Wirtschaft zu tun, in der die Konkurrenz mit Billigpreisen in die Unwirtschaftlichkeit gedrรคngt wird. Dass dafรผr massive Klima- und Umweltschรคden produziert werden, sieht ja der Kunde im Laden in Deutschland nicht.
Zurรผck zur heimischen Blumenpracht
Und natรผrlich sieht er auch die vielen Gรคrtnereien nicht mehr, die meistens schon kurz nach der โWendeโ verschwunden sind, weil sie gegen die Billigblumen aus รbersee nicht ankonkurrieren konnten.
Aber genauso wie in der Landwirtschaft, wo junge Menschen lรคngst wieder begonnen haben, nachhaltig, umweltschonend und regional fรผr eine Kundschaft zu produzieren, die bereit ist, diese auch klimaschonende Weise der Nahrungsmittelproduktion wieder zu unterstรผtzen, hat sich mit der Slowflower-Bewegung auch eine Bewegung gebildet, die dasselbe fรผr unsere heimischen Schnittblumen und all jene tut, die wirklich wieder ohne Angst einen herrlichen Blumenstrauร in der Hand halten mรถchten.
Und welche Wucht heimische Blumen entfalten, zeigen die Bilder, die Grit Hartung fรผr dieses Buch aufgenommen hat. Bilder, die einen geradezu frappierend an die grandiosen Stillleben der niederlรคndischen Malerei erinnern, als dort die Begeisterung fรผr Blumenpracht gerade in ihren Anfรคngen steckte und die Faszination der Hollรคnder fรผr eine ganz bestimmte Blumensorte 1637 sogar zum ersten groรen Bรถrsenkrach in der Geschichte fรผhrte โ der โTulpenkriseโ. Ein berรผhmter Blumenmaler dieser Zeit war z.B. Jan Davidsz. de Heem.
Wieder Natur mit allen Sinnen spรผren
Und nicht vergessen darf man ja, dass sich auch die Deutschen ihre Blumen noch vor einer รผberschaubaren Anzahl von Jahren nicht aus dem Laden holten, sondern im eigenen Bauerngarten wachsen lieรen. Weshalb das dazu benรถtigte gรคrtnerische Wissen zum Glรผck nicht verschwunden ist, sondern schon seit einigen Jahren in diversen Bรผchern wieder Verbreitung findet. Und zwar schon einige Jahre vor Beginn der Corona-Krise. Wovon ja auch Yadegar Asisis grandioses Panorama-Bild โCarolas Gartenโ zeugt, das noch bis Mรคrz im Leipziger Panometer zu sehen ist.
Diese Faszination fรผr die lebendige, blรผhende und farbenfrohe Welt vor unseren Augen und unserer Nase teilen lรคngst viele Menschen โ auch kรถrperlich. Denn unsere Abtrennung von der lebendigen Natur macht uns krank, ist der Grund fรผr viele seelische Erkrankungen und unser Unbehagen an einer zunehmend virtualisierten Welt, in der wir mit der lebendigen Umwelt kaum noch in Berรผhrung kommen.
Und da war es ganz und gar nicht รผberraschend, wie es die im Lockdown eingesperrten Menschen nach dessen Lockerung in Scharen in die Parks und Wรคlder zog. Und wie die Schrebergรคrten, die in den Groรstรคdten noch als โfreiโ zu finden waren, binnen kurzer Zeit neue Pรคchter fanden. Zumeist natรผrlich alles Menschen, die zuvor noch nie ein Beet angelegt haben. Und die dennoch die Faszination erlebten, wieder mittendrin zu sein in der โ wenn auch eingezรคunten โ Natur. Und nun?
Das aufregende Jahr der Gรคrtner
Die literarisch Belesenen werden sich an die herrlichen Gartenfeuilletons von Heinz Knobloch und Karel Capek erinnert haben. Andere werden just mit einem der neueren Bรผcher losgezogen sein, die dem unerfahrenen Groรstรคdter das Leben und Schaffen im Garten wieder nahebringen.
Und wer es ausprobiert hat, weiร, wie viel Freude und Faszination darin steckt โ vom ersten Gestalten des Gartens bis zu den ersten blรผhenden Blumen und reifenden Frรผchten. Kaum irgendwo sonst wird erlebbar, wie alles lebt und wรคchst und selbst in den naturfernsten Menschen wieder die Begeisterung erweckt am Reichtum der Natur.
Eine Begeisterung, die nicht nur in Grit Hartungs Fotos nachzuempfinden ist, sondern auch in den Texten steckt, die Chantal Remmert geschrieben hat, um ihren Leser/-innen die Pforte zu รถffnen in die Welt der โwilden Gรคrtenโ und โungezรคhmten Bouquetsโ. Optisch stimmt ja beides. Aber bevor es โwildโ zugeht, muss alles seine Ordnung haben.
Denn wirklich zur Blumenpracht wird der 2.300 Quadratmeter groรe Garten erst, wenn die Gรคrtnerin das nรถtige Handwerkszeug hat, den Boden kennt und auch weiร, wo man Samen fรผr Blumen bekommt, die ohne Pestizide und Gentechnik gewachsen sind. Die Quellen dafรผr stehen alle hinten im Buch. Wer sich ins blรผhende Abenteuer stรผrzt, beginnt nicht mehr bei null, sondern wird Teil einer Bewegung, die sich auch gegenseitig stรผtzt und berรคt.
Der Wissenskosmos Garten
Und natรผrlich ist das eine Wissenschaft. Jede Gรคrtnerin weiร das. Eine Wissenschaft, die einmal ganz selbstverstรคndlich zum Alltagswissen unserer Vorfahren gehรถrte, als Gรคrten die Hauptquelle fรผr alles waren, was in unsere Kรผchen kam. Man staunt eher beim Blรคttern, wie viel Wissen darin steckt. Wissen, das die groรen Landwirtschaftskonzerne und unsere Schulbรผcher gern als รผberflรผssig deklarieren, weil man doch alles fertig im Laden kaufen kann.
Und wenn es dort fertig mit Preisschild steht, macht man sich ja keine Gedanken mehr darรผber, wie es eigentlich entstanden ist, welche Schรคden diese vor unseren Augen verborgene Produktion tatsรคchlich in der Welt anrichtet.
Und mancher heimische Gรคrtner auch hier bei uns, weil Gedankenlosigkeit zum Einkaufspaket gehรถrt. Da kauft man dann eben das XXL-Dรผngerpaket und den Schnecken- und โParasitenโ-Vernichter gleich mit dazu.
Natรผrlich sind das Sorgen, die sich Gรคrtner machen. Knobloch und Capek haben ja auch schon darรผber geschrieben โ รผber (Un-)krรคuter, Mรคuse, Schnecken, Kรคfer und Milben und was da noch so eindringt in das verlockende Refugium. Und natรผrlich geht auch Chantal Remmert an den entscheidenden Stellen darauf ein. Denn natรผrlich mรผssen auch Blumen geschรผtzt werden.
Was man aber auch vรถllig ohne Chemiekeule tun kann. Dazu muss man natรผrlich wissen, wie so eine komplexe Gartenwelt funktioniert, was die Pflanzen vertragen, wovon sich Schnecken ablenken lassen oder welche nรผtzlichen Aufgaben ein Igel im Garten erledigen kann.
Ein Leben mit den Jahreszeiten
Und natรผrlich gehรถrt das Wissen um den Jahreslauf dazu. Den Gรคrtner/-innen natรผrlich so intensiv erleben, wie es Groรstรคdtern sonst praktisch unmรถglich ist. Deswegen ist das Buch auch schรถn in alle vier Jahreszeiten geteilt, mit all den Tรคtigkeiten, die so eng mit dem Jahreslauf und dem Wetter verbunden sind. Es stecken sechs Jahre praktische Erfahrung drin, denn ihr Blumenstudio โErna Primulaโ hat Chantal Remmert 2016 in Leipzig gegrรผndet und auch die Slowflower-Bewegung mitgegrรผndet.
Und sie erzรคhlt nicht nur, wie man sich die Blumenfreude im Garten anlegen kann, sondern zeigt auch, wie wirklich natรผrliche und prachtvolle Bouquets entstehen. Mit lauter Blumen, die hier bei uns wachsen und fรผr die es auch jedes Mal eine eigene Doppelseite als Portrรคt gibt.
Wer also das Gefรผhl hat โDas will ich auchโ, bekommt hier genau die Tipps, die auf den Weg zum naturnahen Blumen-Gรคrtnern fรผhren. Natรผrlich auch mit allerlei Ratschlรคgen, wie man nicht nur auf Chemikalien verzichten kann, sondern auch auf all den Plastikmรผll, der heute scheinbar zur โBlumenfreudeโ dazuzugehรถren scheint.
Denn fast alles, was sonst so gedankenlos an Plastik mit eingepackt wird, ist durch recyclingfรคhige Materialien ersetzbar. Und was nicht ersetzbar ist, kann oft immer wieder verwendet werden. Wer mit Slowflower beginnt, verinnerlicht im Grunde von Anfang an den Gedanken, dass selbst mit der kรผnstlich gestalteten Natur im Garten behutsam und rรผcksichtsvoll umgegangen werden kann. Und dass es fรผr alle โProblemeโ, die auftreten, natรผrliche Lรถsungen gibt.
Die unerwarteten Gรคste im Garten
All diese Probleme sind nรคmlich nur in unserem Kopf Probleme, uns regelrecht als Problemsicht auf โSchรคdlingeโ und โUnkrรคuterโ anerzogen, obwohl auch diese โEindringlingeโ in unsere โheileโ Gartenwelt hier ihren ganz natรผrlichen Platz haben.
Jeder Garten ist ein Kosmos, in dem unzรคhlige Arten heimisch sind โ von der Bodenfauna bis zu den Insekten in den Blรคttern. Sie suchen und finden genau den Platz, den sie brauchen zum Leben. Und wenn wir sie โbekรคmpfenโ, zerstรถren wir ein komplexes Gefรผge, das wir nicht mal zu รผberschauen vermรถgen.
Dabei haben erfahrene Gรคrtner/-innen gelernt, auf diese โStรถrungenโ im scheinbar geregelten Gartenjahr zu reagieren. Oft hat das mit einem รผberdรผngten Boden zu tun, mit falsch gewรคhlten Standorten oder fehlenden Alternativangeboten im Garten. Man bekommt so ein kleines Gefรผhl dafรผr, wie die Gรคrtnerin ihr Sensorium fรผr ihr kleines Gartenreich entwickelt hat. Und wie sie gelernt hat, รผber die Jahre hinaus zu planen, Samen von den schรถnsten Blumen selbst zu sammeln und zu trocknen, um sie fรผr die nรคchste Blรผtenpracht wieder auzusรคen.
Man schaut ihr beim Pflanzen und Stecklinge-Zรผchten zu, beim Winterfestmachen und beim sparsamen Bewรคssern im Sommer. Mal ist sie selbst mit prรคchtiger Blumenernte im Bild, mal die Hรผndin Erna, fรผr die der Garten ebenso ein Abenteuer ist.
DIY
Und natรผrlich sind die Anleitungen unter dem lรคngst Furore machenden Kรผrzel DIY gesammelt: Do it yourself. Was eigentlich den grรถรten Reiz an dieser Welt ausmacht. Denn auch das war fรผr Viele in den Corona-Jahren eine neue und erfรผllende Erfahrung: Dass wir unserer lebendigen Natur nicht machtlos gegenรผberstehen, sondern im Gรคrtnern und Uns-die-Hรคnde-schmutzig-Machen auch Erfรผllung finden. Die Erfรผllung, dass wir Dinge tun kรถnnen, die uns gut tun und am Ende mit einer farbenfrohen Ernte beschenken.
Und das aus einem Garten, der auf den ersten Blick nur wild und mรคrchenhaft aussieht, auf den zweiten aber zeigt, dass auch diese wilde Blรผtenpracht geplant und sorgsam angelegt ist. Da wird auch manch gestandener Gรคrtner sagen: Das kann ich auch. Das Buch hilft dabei, es einfach in die Tat umzusetzen. Denn unsere Welt verรคndern, das liegt in unseren Hรคnden. Und wenn es erst einmal nur ein Stรผck Garten ist, dem wir eine Blรผtenpracht entlocken, die mancher von uns tatsรคchlich nur noch von alten Gemรคlden kennt.
Chantal Remmert, Grit Hartung Slowflowers, Haupt Verlag, Bern 2022, 34 Euro.
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