Geschichte lässt einen nicht los, die eigene schon gar nicht. Und: „... die Vergangenheit ist Vergangenheit – und nicht vorbei“, zitiert Ralph Grüneberger seinen Schriftstellerkollegen Friedrich Christian Delius im Leitspruch für dieses Buch. Und irgendwann muss das alles erzählt werden. Und wenn es 30 Jahre dauert und die Corona-Auszeit endlich die Ruhe verschafft, die Geschichte zu Ende zu erzählen. Dabei geht es um mehr als die 17-jährige Lisa.
Das wird spätestens klar, wenn Ralph Grüneberger in den Nachbemerkungen zu diesem Buch Willy Brandts berühmten Spruch zitiert – etwas ausführlicher, als das für gewöhnlich passiert: „… mit Takt und Respekt vor dem Selbstwertgefühl der bisher von uns getrennten Landsleute wird es möglich sein, daß ohne entstellende Narben zusammenwächst, was zusammengehört.“
Es wird trotzdem kein Treuhand-Roman, auch wenn ein paar gedankenlose Vermieter und rücksichtslose Unternehmer drin vorkommen, freilich eher beiläufig. Wie Moll-Töne in einer Geschichte, in der es eigentlich um eine Frage geht, die vor dem Mauerfall genauso akut war wie danach.
Genau diese Frage verkörpert in dieser Geschichte die 17-jährige Lisa, die im fernen und für Leipzig noch ziemlich ruinösen Jahr 1991 nicht nur ihre erste Liebe entdeckt und sich mit ihrer Freundin Marlene für die gemeinsame Belegarbeit an ein Thema wagt, das jede Menge Zündstoff in sich birgt: Prostitution. Beide besuchen die Schule am Nordplatz, die sich ja während ihrer Schulzeit von einer Erweiterten Oberschule (EOS) zu einem Gymnasium verwandelt hat.
Verunsicherte Rollen
Da änderte sich zwar Schulname und Lehrplan. Aber die Lehrer/-innen waren zumeist noch die alten. Manche passten sich postwendend an, andere kamen nicht mehr aus ihrer Haut. Und wieder andere – wie der Schulleiter – fanden sich nur schwer in ihre Rolle. Man merkt schon, dass Ralph Grüneberger sich mit dem Thema nicht erst 2006 beschäftigt hat, als er einen Großteil dieser Geschichte niederschrieb, die dann lange Jahre liegen blieb, weil man selbst für so eine scheinbar simple Geschichte Konzentration braucht.
Denn das, was wir damals empfanden, liegt ganz tief vergraben. Wir wissen, dass es da ist. Manchmal meldet es sich zu Wort, unangemeldet, überraschend. Manche stecken bis zu den Ohren noch in dieser Zerrissenheit ihres Lebens. Vieles, was wir heute erleben, hat mit dieser Zeit zu tun. Liegt noch immer unabgegolten, ungeklärt und unerlöst da.
Rockstroh nennt Grüneberger den Schulleiter, der die beiden Mädchen und ihre Mütter eines Tages ins Schulleiterzimmer bestellt, um die Sache mit ihrer Belegarbeit zu klären. Und eher durch sein Ausweichen und Herumtrippeln wird deutlich, wie unwohl er sich in seiner Rolle fühlt. Denn die Zeiten haben sich zwar gewandelt. Aber auch das neue Schulsystem in Sachsen war ein durch und durch hierarchisches. Ist es bis heute geblieben. Welche Implikationen das hat, schildert Elke Urban ja in ihrem Buch „Revolution und Schule“.
Man schaut zwar immer wieder auf das rigide Vorgehen der Treuhand, wenn es darum geht, die Verwerfungen im Osten begreifen zu wollen. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass auch die gewählten Regierungen in den neuen Bundesländern durch die Bank nicht den Mut hatten, die Gunst der Stunde zu nutzen und sich von einem tief verinnerlichten obrigkeitlichen Denken zu verabschieden. Sie gossen es in neue Gesetze. Und ein Blick in die Innenministerien und die Kultusministerien genügt, um zu sehen, welche Folgen das bis heute hat.
Und warum man den ratlosen Rüdiger Rockstroh eigentlich bedauern kann, weil er ein Problem bewältigen soll, für das er nicht mit Rückendeckung von Vorgesetzten und Kollegium rechnen kann.
Der Mut zum Selberdenken
Wobei am Ende einer der erlösenden Momente ist, dass es gerade aus diesem Kollegium – von einer von den Schülerinnen als besonders streng empfundenen Lehrerin – Rückendeckung gibt.
Denn auch das wird oft vergessen, dass sich auch viele Lehrerinnen und Lehrer aus dem alten Schulsystem der DDR eigentlich eine neue, wirklich lebensbejahende und ermutigende Schule wünschten, in der es nicht um das Produzieren stolzer Untertanen geht, sondern um die Stärkung des Selbstbewusstseins und der Neugier der Kinder.
Ralph Grüneberger gestaltet das in sehr berührenden Szenen. Denn Lisa ist für ihn auch Trägerin dieser Hoffnung. Und wenn man sie durch ihr Leben mit ihrer alleinerziehenden Mutter, den Großeltern und der Schule begleitet, merkt man: Oha, da quatschen uns unsere Deppen-Kommentatoren in den großen deutschen Medien heute wieder die Ohren mit Unsinn voll.
Alle naselang veröffentlichen sie Artikel, in denen sie der Fridays-for-Future-Bewegung mal besondere Empfindsamkeit, mal Elitismus, mal besonderes Rebellentum attestieren. Aber diese Lisa und ihre Freunde wären heute genauso bei FFF aktiv, ohne dass sie sich hätten ändern müssen. Denn die Frage bewegt alle Jahrgänge junger Menschen: Was bewegt mich tatsächlich im Leben? Was regt mich auf und bringt mich dazu, den Mund aufzumachen?
Der große Reibach
Jawohl, auch 1991, als aus rheinischer Perspektive da im Osten ja alles in bester Ordnung war. Außer dass eine Fabrik nach der anderen geschlossen wurde, Millionen arbeitslos wurden, Hundertausende ihre Sachen packten und in den Westen gingen, während in den ostdeutschen Städten alles zu Geld gemacht wurde, was zu Geld zu machen war.
Von den heruntergekommenen Immobilien bis zu den Maschinen und Ladenflächen. Und wer sich nicht wie Lisas Mutter richtig reinhängte in die neue Zeit und zeigte, dass sie und er bereit waren, jede Aufgabe zu jeder Zeit zu übernehmen, der kam schnell unter die Räder und ins Abseits.
Mit Lisa und ihrer Mutter konterkariert Ralph Grüneberger auch mal die heute so üblichen Bilder von Alleinerziehenden. Denn ein schüchternes Leben im Abseits führen die beiden nicht. Haben sie auch vorher nicht geführt. Im Gegenteil: Lisas Mam steht für viele der ganz und gar typischen Frauen in der DDR, die sich das Recht auf berufliche Selbsterfüllung nahmen und ihre Ansprüche an eine echte Partnerschaft auch den Männern klarmachten, mit denen sie neue Partnerschaften versuchten.
Vaterbild auf dem Prüfstand
Nein, diese Geschichten sind noch nicht erzählt. Auch nicht aus der Sicht der Kinder, die in solchen Elternschaften aufwuchsen und wie ihre Mütter sehr kritisch lernten, auf die jeweils neuen Bekanntschaften zu schauen. Und es ist wohl kein Zufall, dass Lisas Mam bis zur „Wende“ keinen neuen Partner findet, nachdem Lisas Vater die beiden verlassen hat, als Lisa gerade vier war. Seitdem lebte er im Westen.
Und eigentlich interessiert sich auch Lisa nicht allzu sehr für ihn – bis zu dem Tag, an dem sie mit Marlene gemeinsam beim Studium in der Deutschen Bücherei entdeckt, dass ihr Vater eine Koryphäe in der Erforschung der Prostitution ist. Das hilft ihnen bei ihrer Belegarbeit, deren Thema sie sich selbst ausgesucht haben.
Denn während alle in der Schule so tun, als gäbe es den Wohnwagen-Strich auf der Nordstraße nicht, wollen die beiden Mädchen wissen, warum das so ist und warum Frauen ihren Körper verkaufen. Als sie dann gar noch eine Domina interviewen, ist das vor allem für die noch immer im alten Denken verhaftete Deutschlehrerin ein gewaltiges Problem.
Wenn es um Moral geht, zeigt sich das Wesen einer Gesellschaft ziemlich nackt. Das ist auch heute so. Weggucken, Kichern, Witzereißen – das sind die Verdrängungsmechanismen einer Gesellschaft, die sich ihre Sinnenfeindlichkeit und Unehrlichkeit nicht eingesteht.
Auf der Suche nach dem Vater
Eigentlich nicht auszuhalten. Und anfangs wissen Lisa und Marlene nicht, was die Gesprächsrunde beim Schulleiter eigentlich für Folgen haben wird. Und erst einmal ist es auch nicht wichtig, denn Lisa hat die Gelegenheit bei Schopf gepackt und Kontakt zu ihrem Vater aufgenommen, den sie nun tatsächlich mit großen Erwartungen besucht.
Die dann trotzdem enttäuscht werden, auch wenn man nur ahnt, was der Grund dafür sein könnte. Vielleicht der Versuch des Vaters, seine Flucht in den Westen irgendwie vor sich selbst zu rechtfertigen. Aber welche Rolle spielt Lisa wirklich in seinem Leben?
Etwas stimmt nicht, auch wenn es Ralph Grüneberger nicht näher benennt. Aber man fühlt es. Selbst in dem Moment, in dem man merkt, dass auch der scheinbar so erfolgreiche Vater sich überfordert fühlt, nicht anerkannt, in seinem Selbstwertgefühl zerrissen. Und helfen kann er Lisa bei ihrer Belegarbeit nicht, darf er nicht, sagt er.
Damit gefährde er seine durchaus prekäre Stellung an der Hochschule. Und das in einer Bundesrepublik, in der auch längst ein anderer Wind weht, ein neoliberaler, in dem Arbeitskräfte immer nur als Belastung in der Bilanz betrachtet werden. Die krisenhafte Bundesrepublik der Kohl-Zeit wird bis heute kaum thematisiert. Alle schauen nur auf diesen Osten, der „gerettet“ werden musste.
Was unter die Räder kam
Und was wirklich dabei – wieder einmal – unter die Räder kam, war tatsächlich der Respekt und das Mitgefühl für die anderen, die Schwächeren zumeist. Und auch das Gefühl dafür, mit welchen Lebenserfahrungen die im Osten Aufgewachsenen eigentlich in diese Zeit der Zumutungen hineingerieten.
Na gut, das muss man nicht nur auf diese wirklich turbulenten ersten Jahre nach der Deutschen Einheit beziehen. Das ist bis heute so. Der Mensch hat zu funktionieren. Und wo er nicht (mehr richtig) funktioniert, wird er zur Belastung erklärt, zum Kostenfaktor und Minderleister.
Es steckt auch ein bisschen Wut in diesem Buch, eine ganz kleine Prise. Das wird deutlich, wenn Ralph Grüneberger in den Nachbetrachtungen auch über seine Rolle als Autor spricht und darüber, ob das zulässig ist, die Geschichte auch aus der Perspektive der 17-jährigen Lisa zu erzählen. „Wer spricht hier eigentlich?“, ist die große Frage.
Und natürlich kann sich ein Autor nicht mit seiner Heldin identifizieren, wenn er sich nicht einfühlen kann in sie und ihre Haltungen und Wertungen versteht, vielleicht sogar teilt. Denn zu den Momenten, die Lisa schleunigst wieder abreisen lassen aus dem trauten Heim ihres Vaters, gehört die für sie eher verstörende Rolle seiner Frau, auch wenn sie – aus der Perspektive heutiger bürgerlicher Standards – doch bestens funktioniert als Hausfrau und Mutter. Oder nicht? Übersehen wir da etwas in dieser scheinbar heilen Welt?
Sehen lernen
Lisa jedenfalls will da keine Tag länger bleiben. Es ist eine eigenartige Mischung der Gefühle, mit denen sie da abreist. Trotz gehört dazu, Eigensinn und etwas, was sich spätestens bestätigt, als sie von ihrer Mam erfährt, dass diese stolz ist auf ihre Tochter und das, was sie sich mit der Belegarbeit getraut hat.
„Je früher man damit beginnt, die Augen vor unliebsamen Erscheinungen zu verschließen. Desto früher passiert es, sehenden Auges blind zu werden“, sagt sie zu Lisa. „Das habe ich in deinem Alter so noch nicht erkannt.“
Das klingt ein bisschen wie aus dem Lehrbuch, aber an der Stelle passt es und berührt es. Weil es eigentlich der Kern der Geschichte ist, die eben auch den Autor bewegt: Wie mutig werden wir in unserem Leben? Wie tapfer halten wir Widersprüchen stand und lassen uns nicht verbiegen, weil wir vor irgendwelchen Leuten „da oben“ Schiss haben? Wie leicht lassen wir uns Vorstellungen von der Welt einreden, die nichts mit unserem tatsächlichen Leben zu tun haben?
Wie wir auf Frauen blicken
Alles Fragen, die heute noch genauso akut sind wie 1991, als wir uns alle neu orientieren mussten. Wir im Osten auf jeden Fall. Und viele haben sich gleich wieder angepasst und funktioniert und versucht, den neuen Kraftprotzen im Chefzimmer nach dem Munde zu reden. Nur eins haben sie nicht angepackt: Ihr eigenes Leben. Und wenn Ralph Grüneberger so mit jungen Mädchen-Augen in das diffuse Jahr 1991 hineinleuchtet, macht er ein Stück von dieser gewaltigen Verunsicherung sichtbar.
Und zeigt gleich noch vier typische starke Frauengestalten, wie es sie damals in Leipzig auf jeden Fall, gab. Und auch heute noch gibt. Der Appell des Autors, die damals 17-Jährigen mögen sein Buch lesen, ist bestimmt nicht in den Wind gesprochen. Sie werden sich wiedererkennen in der Geschichte. Auf jeden Fall mit den damals erlebten Verunsicherungen.
Und auch ihre Mütter werden sich wiedererkennen, Mütter, die schon in der DDR gelernt haben, wie das ist, auf eigenen Beinen zu stehen und sich nicht von Männern bevormunden zu lassen, die Frauen nur als Heimchen am Herd oder – ganz böses Hilbig-Zitat – „Konsumartikel“ verstehen.
Dass da trotzdem etwas fehlt in Lisas Leben, das spürt man sehr wohl. Aber man kann sich die Väter nicht backen, wenn sie nicht da sind. Und auch die Männer nicht, die einem den Rücken stärken und das Gefühl geben, ein lebendiger und respektierter Mensch zu sein.
Viele unserer heutigen Probleme rühren auch aus dieser Abwesenheit selbstbewusster Väter. Mit Betonung auf selbstbewusst. Das ist etwas anderes als laut und herrschsüchtig. Fast hätte ich geschrieben: „Aber das nur am Rande …“
Gesehenwerden und Wahrgenommenwerden
Aber es ist eigentlich das Kernthema der Geschichte, die so einfach daherkommt und scheinbar ganz unspektakulär verläuft – die ganz menschliche Sehnsucht nach dem Gesehenwerden und dem Wahrgenommenwerden. Lisas projiziert das zum Teil auf ihren abwesenden Vater. Aber worauf haben es all die emsigen und ratlosen Ostdeutschen projiziert, die in der Regel alle ganz von vorn anfangen mussten und dafür auch noch kübelweise Spott und Häme bekamen? Nur so als Frage.
Aber selbst für diesen wankelmütigen Schulleiter gilt das. Denn wer nicht mal in seinem Amt souverän sein und handeln kann, der wird weder die Zeit noch die Aufmerksamkeit haben für die ihm Anvertrauten. Der funktioniert. Aber wie er sich als Rädchen in einer Maschine fühlt, die eigentlich nur effizient funktionieren soll, das ahnt man nur oder sieht es gar nur, wie er herumtigert und versucht, sich abzusichern.
Wie sehr Ralph Grüneberger gerade diese schlingernden frühen 1990er Jahre bis heute beschäftigen, sieht man ja an seinen Büchern „Herbstjahr“ und „Leipziger Geschichten“, die er auch bei Gmeiner veröffentlicht hat. Wünschen darf man all diesen Titeln, dass sie auch westwärts gelesen werden. Sie müssen nämlich nicht entschlüsselt werden. Sie erzählen scheinbar ganz einfach aus dieser Zeit und letztlich vom Menschsein und Menschbleiben unter Bedingungen, die meistens nicht viel Rücksicht auf den Stolz, die Hoffnungen und Wünsche der Betroffenen genommen haben.
Es geht letztlich immer um das Bild, das wir voneinander haben. Denn so, wie wir miteinander umgehen, gehen wir auch mit uns selbst um. 17-Jährige spüren das noch mit allen Fasern. Das macht das Leben sehr verwirrend, aufregend und unberechenbar. Manche lernt dabei, dass man tatsächlich mutig sein darf und selbstbewusst.
Und dass es einen mit atemberaubenden Gefühlen erfüllt, wenn man die Sache dann tatsächlich bei den Hörnern packt. Wer sich erst hinterher mit wütenden Schildern hinstellt, hat den Moment verpasst. Da helfen auch keine drei Ausrufezeichen mehr.
Ralph Grüneberger Lisa, siebzehn, alleinerzogen, Gmeiner Verlag, Meßkirch 2022, 12 Euro.
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