Es gibt Bücher, mit denen erfüllen sich Verleger lang gehegte Forscherwünsche. Denn Mark Lehmstedt ist ja Germanist und die Zeit der Leipziger Aufklärung war von Anfang an sein Forschungsfeld. Da kommt man an Christian Felix Weiße nicht vorbei, auch wenn nach Durchblättern dieser drei dicken Briefbände das Bedauern bleibt. Denn Weiße hat zu seiner Zeit Briefe geschrieben, wie manche Leute heute twittern und posten.

Er war ein Netzwerker, so wie wohl alle namhaften Aufklärer. Und man ahnt ein wenig sein Verhältnis zum literarischen Zeitvertreib, wenn er in seinen Briefen immer wieder darüber stöhnt, dass er eigentlich keine Zeit hat dafür, weil seine Arbeit als Kreissteuereinnehmer im Alten Amtshaus am Thomaskirchhof ihn vollauf beschäftigte. Und die Zeit, die ihm dann noch bliebe, widme er vollauf seiner Familie, auf die er so stolz war, dass er selbst seinen Briefpartnern in Wien oder Berlin nur zu gern mitteilte, wie es den Lieben erging.

Die Netzwelt der Aufklärung

Und wenn man dann die Entschuldigungen liest, erfährt man auch, dass Weiße die Briefe dann ganz und gar nicht spät nachts noch beim Kerzenschein schrieb, sondern auf Arbeit. Zwischendurch und parallel. Immer wieder gestört von Bauern und anderen Leuten, die ihre Steuergroschen bei ihm loswerden wollten, sodass er an manchen Tagen über die Tonnen von Gold stöhnte, die durch seine Hände gegangen sind.

Sogar seine Arbeitssituation kann man sich vorstellen, denn immer wieder erwähnt er das Pult, an dem er saß und die Steuerschreiben aufsetzte, während im Kasten des Pults die empfangenen Briefe seiner Briefpartner lagen und die angefangenen Antworten. Alles durcheinander. So durcheinander, dass er manchem Briefpartner sogar noch ein falsches Postskriptum mitschickte und andere Antwortschreiben in der Hektik beschnitt.

Er schrieb seine Briefe also eigentlich genauso, wie unsereins heute auf seinem Smartphone schreibt. Nur halt mit Feder und auf Papier. Immer in Eile, auch wenn es manchen Briefen passierte, dass sie ein paar Wochen im Pult liegen blieben und zu spät auf die Reise gingen. Aber das lag zumeist an einer der Krankheiten, die ihm gerade im höheren Alter begegneten und die wohl auch nicht ganz harmlos waren. Auch darüber schrieb er.

Nur das Bedauern bleibt, denn es ist auch wie bei uns mit all unseren wilden Nachrichten in die Welt: Die meisten davon verschwinden irgendwann auf Nimmerwiedersehen, werden gelöscht und nirgends archiviert. In Weißes Fall nicht mal nur, weil seine Briefpartner die Schreiben nicht schätzten. Das Gegenteil war der Fall, auch wenn Weiße seine Briefe eher für hingeluscht und ziemlich durcheinander hielt.

Also nicht für aufhebenswert. Aber so dachte er wohl selber nicht und seine Briefpartner erst recht nicht. Denn etliche seiner Briefe haben sich nur deshalb erhalten, weil sie noch zu Lebzeiten gedruckt wurden. Und zwar nicht als extra verfasste Leserbriefe, sondern weil seine Briefpartner das wichtig fanden, was ihr gelehrter Kollege da in Leipzig geschrieben hatte.

Eigentlich fehlt das große Buch über die Leipziger Aufklärung bis heute. Ganz zu schweigen davon, was für dumme Vorstellungen von der Aufklärung heute die Debatte durchsetzen. Eine Debatte, die so tut, als hätte sich ein einziger Philosophenkopf in seinem Stübchen die Grundlagen dessen, was Aufklärung zu sein hat, ausgedacht. Dass Aufklärung aber zuallererst ein kommunikatives Projekt war, kommt bei diesen heutigen Perückenträgern gar nicht mehr vor. Sie würden es auch nicht begreifen, weil auch die Freude an dieser intensiven Kommunikation nicht mehr existiert.

Denn in dem Sinn stimmt ja dann der Vergleich mit unserer Twitter-Schreiberei nicht mehr. Ein studierter Mann wie Weiße wusste genau, dass sein Brieffreund Karl Wilhelm Ramler oder auch Friedrich Nicolai in Berlin durchaus auf die Idee kommen könnten, den Brief – so wie er war – einfach bei nächster Gelegenheit zu veröffentlichen – als Teil einer Diskussion, die in allerlei Magazinen und Zeitschriften weitergeführt wurde: Schaut mal, was mein Freund Weiße in Leipzig dazu geschrieben hat.

Leipzigs vernachlässigte Aufklärung

Da schaute manch älterer Briefschreiber dann doch lieber, dass er die gesammelten Briefe entweder gleich dem Feuer überantwortete oder an den Absender zurückschickte. Was einer wie Weiße sehr wohl zu schätzen wusste, der zeitweise wohl Kisten mit Briefen seiner hochberühmten Briefpartner und Briefpartnerinnen besessen haben muss. Dass sich da eines Tages eine diebische Hand dran vergriff, bemerkt er auch mit einem deutlichen Unbehagen.

In Leipzig wurde Weiße bislang sehr stiefmütterlich behandelt, auch wenn in Stötteritz, wo er 1790 ein eigenes Gut erwerben konnte, ein ganzer Platz an ihn erinnert. Zuletzt widmete ihm Anne-Kristin Mai 2003 im Sax-Verlag eine kleine Auswahl samt biografischer Skizze. Aber das macht seine Rolle im Netzwerk der deutschen Gelehrtenrepublik noch nicht deutlich. Einer Republik der Geister, die in Deutschland eine gewisse Verachtung geerntet hat, als preußische Professoren die „Weimarer Klassik“ als einzig gültigen Maßstab etablierten und alles, was vor Goethe und Schiller die Diskussion in Deutschland bestimmte, für zweitrangig erklärten.

Ein Konflikt, der natürlich schon zu Weißes Lebzeiten auftauchte und den er selbst auch thematisierte. Denn mit ihren „Xenien“ im von Friedrich Schiller herausgegebenen Musen-Almanach von 1797 forderten Goethe und Schiller ja die gesamte alte Literaten-Welt heraus, wurden auch sehr persönlich und verächtlich. Das kam gar nicht gut an. Und hat vor allem in der Literaturgeschichte heftige Folgen gehabt. Denn natürlich ist man da Partei, erst recht, wenn man das Neue bei Schiller und Goethe durchaus zu goutieren weiß. Aber das verstellt eben auch den Blick darauf, was alles vorher schon da war und wie die Frauen und Männer der Zeit vor den Stürmern und Drängern eigentlich den Boden bereitet haben.

Revolution und Krieg

Leipzig natürlich mittendrin mit Gellert und Gottsched, mit denen Weiße natürlich genauso zu tun hatte wie mit der Neuberin und dem jungen Lessing, als es darum ging, das Theater zu modernisieren. Mit dem Berliner Verleger, Herausgeber und Autor Nicolai war Weiße ja mit dem wirksamsten aller Netzwerker der Aufklärung in regem Briefwechsel. Und Nicolai bekam in den Xenien wohl die heftigsten Schläge ab. Aber auch mit dem anderen berühmten Netzwerker, Gleim in Halberstadt, korrespondierte Weiße.

Und das in einer Weise, die einem klarmacht, dass diese brieflich gepflegten Kontakte gerade für die wichtigsten Vertreter der Aufklärung auch immer Freundeskreise waren. Sie schätzten einander – selbst dann, wenn sie in Briefen die literarischen Fehlleistungen der anderen kritisierten.

Manchmal lästerten sie auch. Das ist nur zu menschlich. Man sehe nur Weißes Unverständnis für die Entwicklung Klopstocks, der mit seinem „Messias“ für Begeisterung sorgte – mit seiner Grammatik aber alle verschreckte. Auch er ja ein ehemaliger Leipziger Student.

Und so nebenbei erfährt man auch, wie sehr Weiße und seine Zeitgenossen auch schon in einer politischen Nachrichtenwelt lebten. Auch wenn sich die Zeitungen seiner Zeit nicht vergleichen lassen mit unseren Medien heute. Meist brauchten Nachrichten eben doch Tage, bis sie mit der Post auch in Leipzig ankamen. Aber wie wir heute wissen, reicht auch das völlig aus, um etwa die Schrecken eines Krieges nachempfinden zu können. Oder die einer völlig aus den Fugen geratenen Revolution wie die in Frankreich, die auch Weiße mit sehr viel Erwartungen verknüpft hatte. Aber als die Revolution in einen Bürgerkrieg überging, war auch in seinen Briefen das Entsetzen zu lesen.

Müller, Oeser, Hiller

Mit Goeschen und Bertuch stecken auch zwei der wichtigsten Verleger der deutschen Klassik in seinem Briefwechsel. Und wenn auch Goethe und Schiller hier nicht auftauchen, hatte er mit Jean Paul und Herder durchaus zwei gewichtige Briefpartner da unten in der Weimarer Gegend.

Manche Hahnenkämpfe der deutschen Klassik haben ihren Ursprung auch darin, dass sich fast alle kannten und die diversen literarischen Almanache intensiv lasen – auch um dort neuere Nachrichten von Freunden und Bekannten zu finden. Man fetzte sich eigentlich immer am selben Tisch, auch wenn die Literaturgeschichte dann so getan hat, als hätte es da eine saubere Trennlinie gegeben.

Und da und dort wird natürlich auch das Leipzig seiner Zeit sichtbar. Immerhin lebte Weiße in einer Zeit, die noch heute im Stadtgedächtnis präsent ist mit Bürgermeister Carl Wilhelm Müller, Thomaskantor Johann Adam Hiller (der auch etliche Weiße-Lieder vertonte) oder dem Direktor der Kunstakademie Adam Friedrich Oeser – den Weiße dann ab und zu bei Briefpartnern entschuldigte, weil der gerade in der Sommerfrische war, also derzeit nicht erreichbar.

Obwohl das aus heutiger Sicht seltsam wirkt, denn Oesers Landsitz befand sich ja in Dölitz. Aber das war für die damalige Zeit schon richtig weit weg von Leipzig. Da hatte Oeser seine Ruhe. Genauso wie Weiße in Stötteritz. Da konnte es schon mal zu einer wochenlangen Brief-Pause kommen.

Wann geht der nächste Bekannte auf Reisen?

Und natürlich diskutiert Weiße in den Briefen nicht nur die literarischen Veröffentlichungen, die für Gespräche in der Gelehrtenwelt sorgten. Er geht auch immer wieder auf seine Zeitschrift „Kinderfreund“ ein, die ihn ja quasi zum Begründer der deutschen Kinder- und Jugendliteratur gemacht hat. Und trotzdem vermisst man zu Recht eine Menge Briefe. Allein schon die Tatsache, dass er in seiner Selbstbiografie von 1806 vor allem die Dichter Ewald Christian von Kleist und Gotthold Ephraim Lessing würdigt, lässt ahnen, wie viele Briefe er mit diesen beiden gewechselt haben muss.

Die Erschütterung über den frühen Tod Lessings hallt genauso nach wie die Erschütterung über den Tod von Moses Mendelssohn, der ja in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung lange völlig „vergessen“ war. Aber die Zeilen, die Weiße dazu schreibt, machen deutlich, welche eminente Rolle dieser jüdische Aufklärer in der Welt der deutschen Aufklärer spielte.

Man kann nur ahnen, welche Korrespondenzen in dieser Sammlung des Noch-Auffindbaren fehlen.

Was den drei dicken Bänden mit insgesamt über 1.000 Seiten ihren Wert nicht nimmt. Selbst das wenige, was überdauert hat, zeigt einen sehr aussagekräftigen Ausschnitt der deutschen Aufklärung und etliche wichtige Vertreter, die zwar literarisch nicht überdauert haben (armer Ramler, armer Uz, armer Gleim), die aber den geistigen Boden bereitet haben für eine Öffnung der Welt, die es vorher in Deutschland so nicht gab. Diese Leute wussten sehr wohl, was literarischen Wert hat – auch wenn sie selbst noch nicht diejenigen waren, die die bahnbrechenden Werke schreiben konnten.

Oder keine Zeit dafür hatten, wie dieser kurfürstliche Kreissteuereinnehmer in Leipzig, der die Pausen zwischen den Klienten dazu nutzte, die Briefe in seinem Schreibpult zu beantworten und mit der nächsten sich bietenden Gelegenheit auf den Weg zu schicken. Und das augenscheinlich eher nicht mit der Post, sondern mit Bekannten und anderen Reisenden, von denen sie wussten, dass sie gleich mit der Kutsche nach Berlin, Dresden oder Göttingen abreisen würden. Da kann man sich diesen Weiße durchaus vorstellen, wie er schnell noch alle fertigen Briefe zusammensammelt, siegelt und zum Treffpunkt eilt, wo er den Briefstapel jemandem in die Hand drückte, der dafür nichts anderes verlangte, als demnächst wieder genauso freundlich empfangen zu werden.

Einfach mal bei Briefbekannten klopfen

Denn eins ist Fakt: Man besuchte einander damals viel häufiger, schaute bei Leuten einfach mal vorbei, wenn man schon mal in der Stadt war. Denn meistens kannte man sich über drei, vier Ecken, hatte in der sich Briefe schreibenden Gelehrtenwelt schon mal voneinander gehört. Und jeder freute sich, den anderen dann tatsächlich mal leibhaftig zu sehen. Fernsehen gab es ja nicht. Und umso mehr bedauerte ein Weiße dann, dass er krank darniederlag und geliebten Besuch nicht empfangen konnte – so wie die berühmte Elisa von der Recke, noch so eine Netzwerkerin der literarischen Welt.

Denn diese Leute konnten nicht nur lebendig schreiben, sie waren auch begnadet im Gespräch und daran aufs Höchste interessiert. Auch Weiße schreibt immer wieder, wie angetan er von neuen Bekanntschaften war, die ihn in Leipzig besucht hatten. Auf diese Weise wird auch ein wenig deutlicher, dass Leipzig gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einer der wichtigsten Netzknoten in der Welt der Aufklärer war, bedingt auch durch die hier ansässigen Verlage und ihren selbst höchstgradig an Aufklärung interessierten Verlegern wie Philipp Erasmus Reich, mit dem Weiße natürlich auch korrespondierte.

Was dann auch wieder deutlich macht, dass eine wirklich umfassende Darstellung dieses Phänomens eigentlich bis heute fehlt. Christian Felix Weiße dürfte durchaus das Gefühl gehabt haben, mitten in einem großen Netzwerk Gleichgesinnter tätig gewesen zu sein, die sich allesamt als Teil der literarischen Republik Deutschland verstanden und jeder auf seine Weise beitrugen, mehr Licht in die Köpfe zu bringen.

Und das in einem Arbeitseifer, der dann manchmal auch die Hand erlahmen ließ. Wie am 2. Juni 1792, als sich Weiße bei seinem Briefpartner Friedrich David Gräter in Schwäbisch Hall damit entschuldigt; „denn es liegen hier über ein Schock unbeantworteter Briefe – Auch itzt erlaubt mir die Schwäche der Hand nichts mehr hinzuzusetzen, als daß ich Sie herzlich umarme.“

Ein Schock – das sind 60 Briefe. Und ein Mann, der Briefe unbeantwortet ließ, war dieser Weiße nicht. Und vielleicht hätte er sich auch nur gewundert, warum 200 Jahre später ein neugieriger Verleger alle noch irgendwie von ihm aufzutreibenden Briefe sammeln würde, um sie in drei lesenswerte Bände zu packen. Aber meist unterschätzen Schreiber wie dieser Weiße, was eigentlich für Nachgeborene einmal wichtig sein könnte. Und manchmal sind es ausgerechnet diese scheinbar so unwichtigen Alltagsprodukte, die einer auf Reisen schickte, um Geistesverwandte da draußen in den Weiten Deutschlands zu grüßen.

Denn damit rechnen, sie auf eine der seltenen strapaziösen Reisen – etwa nach Dresden – auch lebendig antreffen zu können, konnte man nicht. Man musste schon alles, was man sagen wollte, in den Brief schreiben. Und das macht diese Briefe heute immer noch lesenswert und wohltuend. Denn wer schreibt einem denn heute noch so einen Gruß wie Weiße an seinen Dresdner Briefpartner Wilhelm Gottlieb Becker: „Bleiben Sie mein Freund: ich bin lebenslang – der Ihrige.“?

Das traut man sich ja kaum noch. In unserer kurzatmigen Zeit.

Christian Felix Weiße; Mark Lehmsted Briefe, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2022, 128 Euro.

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