Seit 30 Jahren gilt Alexander Osang als so etwas wie die Stimme des Ostens in der Medienwelt. Seit 1999 arbeitet er beim Nachrichtenmagazin „Spiegel“, deckt dort quasi die Sicht des Ostens ab. Und in Redaktionskonferenzen wird er dann schon mal gebeten, den Kollegen zu erklären, was da im Osten eigentlich los ist. Aber ist Reporter. Einer der besten, den Deutschland derzeit vorzuzeigen hat. Reporter aber „erklären“ nicht. Sie fahren los und sprechen mit den Leuten.
Der Chemnitzer Redakteur Sascha Aurich ging in seiner für den „Spiegel“ geschriebenen Kolumne „So isser nich’, der Ossi“ auf Osangs dazu gehörende Aussage in einem „Zeit“-Interview ein. Denn fünf Jahre später hat sich ja nichts geändert. Westdeutsche Redakteure fragen mit derselben Naivität wie vor 30 Jahren, was da eigentlich los ist im Osten und fragen dabei meistens die Handvoll handverlesener „Stimmen“ aus dem Osten, die den Weg ins große deutsche Feuilleton gefunden haben.
Was natürlich nichts nutzt. Denn wie will man den Schwerhörigen erklären, was los ist, wenn die doch nur ihre Stereotype bestätigt haben wollen. Und das unsterblichste Stereotyp ist: Der „Ossi“ ist anders …
Womit dann folgerichtig ist, dass der „Ossi“ erklärt werden muss und sich erklären muss. Als hätten wir mit Bayern nicht dasselbe Problem. Vom Sauerland ganz zu schweigen. Überall benehmen sich Leute komisch. Man muss nur hinfahren und mal den einen oder die andere porträtieren. Oder ihren Alltag begleiten.
Wer nicht mit den Menschen redet, kann auch nichts über sie erzählen. Und der lernt auch nie, dass man Menschen nicht in Schubladen steckt. Wer Menschen als Stereotype sieht, sieht nichts, bleibt blind für die ganze komplexe Wirklichkeit, in der Menschen stecken und etwas zu machen versuchen aus ihrem Leben.
Missglückte Experimente mit der ostdeutschen Zeitungslandschaft
Und Alexander Osang gehörte zu den jungen Journalisten in der Endzeit der DDR, die das beherzigten und auch versuchten, in die Zeitungen zu tragen, in die sie entsandt wurden. In seinem Fall die damalige SED-Zeitung „Berliner Zeitung“, die aber wie fast alle ostdeutschen Zeitungen zum Experimentierfeld westdeutscher Verleger wurden, die sich ja bekanntlich 1990 mit breitem Hintern draufsetzen auf die Presselandschaft der einstigen DDR.
Sie hatten das Geld und konnten den ganzen Bembel aus der Verfügungsmasse der Treuhand kaufen. Sie setzen meist neue Chefredakteure aus dem Westen ein, stülpten ihre Muster vom Zeitungmachen über den Laden und begannen gerade im Berlin den großen Wettbewerb um den Zeitungsmarkt. Eine Geschichte, die in Osangs Texten auch immer wieder auftaucht, denn natürlich war die „Berliner Zeitung“ auch ein Teil seiner Geschichte. Einer Geschichte, die eine Ost-Geschichte geblieben ist.
Erst recht, als der IT-Unternehmer Holger Friedrich die „Berliner Zeitung“ kurzerhand kaufte, als DuMont sie loswerden wollte. Den Osang natürlich auch besucht und begleitet. Denn in der Recherche, so Osang, ist er „Teil der Welt“, muss ein Reporter Teil der Welt sein.
Und zwar genau jenes Teils der Welt, in dem er die Menschen begreifen möchte. Sonst kann er sie nicht beschreiben. Ob er sie erklären kann, ist eine völlig abseitige Frage. Denn keiner exerziert es ja so mustergültig vor, wie gute Reportage wirklich sein muss: Die Menschen, die man dabei trifft, müssen sich nicht nach den Schablonen der großen Kommentatoren richten. Schablonen, die sowieso nie passen.
Sie leben in ihren eigenen Abläufen, in ihren eigenen Zwängen, mit ihrer eigenen Geschichte. Und gute Reporter erzählen das – so plastisch und bildhaft, wie es geht. Was eine zeitaufwändige Arbeit ist. Denn das alles fragt man nicht mal schnell in einem Interview ab. Da spricht man nämlich auch mit Kollegen und Wegbegleiterinnen, lässt sich die Außensicht anderer Menschen erzählen. So, wie es Osang seit Jahrzehnten macht.
Neugier auf Weiße Flecken
Und „Das letzte Einhorn“ ist ja nicht das erste Buch, das aus seinen Reportagen entstanden ist. Das erste erschien schon 1992 – ebenfalls im Ch. Links Verlag: „Aufsteiger – Absteiger. Karrieren in Deutschland“. Auch Verleger Christoph Links und Jungredakteur Alexander Osang sind sich bei der „Berliner Zeitung“ begegnet. Und während der eine seine Reporter-Karriere startete, gründete der andere einen der spannendsten Verlage des Ostens, einen Sachbuchverlag, in dem Autoren und Journalisten die „weißen Flecken der DDR-Geschichte“ aufarbeiten durften.
Im Nachwort schreibt Christoph Links über diese gemeinsame Geschichte. Der Aufbau-Verlag hat ihn darum gebeten, weil Links seinen Verlag ja inzwischen in den Aufbau Verlag eingebracht hat und selbst im Ruhestand ist. Oder dem, was für einen Verleger wie ihn Ruhestand ist: Er ist selbst unter die Autoren gegangen.
Auch sein Nachwort lässt ahnen, warum westdeutsche Medien so ein Problem haben damit, den Osten zu erkennen. Denn ums Begreifen geht es denen gar nicht. Dazu sind die Stereotype über den Osten zu griffig.
Sie funktionieren immer. Und was bliebe noch zu erzählen, wenn dieses Stückchen Deutschland nicht mehr so anrüchig und seltsam wäre, also unerklärlich. Obwohl doch alle Edelfedern der Nation spätestens zu jedem Jubiläum zu immer neuen Erklär-Versuchen ansetzen.
Im Grund macht Osang ja in dieser neuen Auswahl seiner Reportagen aus den letzten zehn Jahren deutlich, was für ein Humbug diese Trockenschwimmer-Versuche sind, den Osten vom Schreibtisch aus erklären zu wollen. Denn er macht sichtbar, dass das nicht nur für den Osten gilt.
Es gilt für alle Welt. Auch wenn der gewählte Titel für das Buch ein wenig auf die „letzten Einhörner“ des Ostens kapriziert, Menschen, die auf ihre Art tatsächlich die letzten sind, einsam weit und breit, ganz so, als wären sie die glücklichen Ausnahmen, die einfach nicht passen zu dem, was man sich sonst so unter dem Osten vorstellt.
Jedes Leben ist einzigartig
Exemplarisch sind das hier Reportagen über Angela Merkel (der Osang selbst als „Spiegel“-Reporter nie wirklich nahe kommen konnte und gerade deshalb viel verstanden hat von der Bewunderung, die dieser Bundeskanzlerin entgegengebracht wurde), Michael Ballack, der als Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft sein abruptes Karriereende erlebte, oder Frauke Petry, die Osang in dem Moment porträtiert, als sie scheinbar den Gipfel ihrer politischen Karriere als AfD-Vorsitzende erreicht hat.
Dabei liegen Ruhm und Scheitern selbst für die medial Berühmten immer dicht nebeneinander. Das erzählt die Geschichte des einstigen CDU-Aufsteigers Jürgen Todenhöfer genauso wie die des Außenministers Heiko Maaß. Da ist der immer an sich zweifelnde Regisseur Leander Haußmann, der mitten in der Corona-Zeit seine „Stasi-Komödie“ fertigstellt, und der einzige Nordkoreaner im IOC, den Osang in Wien besucht.
Gerade weil er es nicht auf Konfrontation und Bestätigung ankommen lässt, sondern auch das Umfeld beleuchtet und mit Weggefährten der Porträtierten spricht, wird erst deutlich, wie unverwechselbar jeder einzige Lebensweg ist. Mancher geradlinig wie ein Raketenstart, andere mit Ecken und Kanten.
Da gibt es die, die einfach nicht passen wollen, wie Osangs einstiger Reporter-Kollege Torsten Preuß, der auf einmal auf Pegida-Demos redet, oder der Truppenkommandeur, der sein Bataillon auf den Einsatz in Afghanistan vorbereitet. Da ist der Versicherungsmann, dessen Bilderbuchgeschichte des geflüchteten Ostdeutschen mit einem Sexparty-Skandal in Budapest endet. Da ist aber auch der Jobcenter-Chef aus Brandenburg, der „seine“ Langzeitarbeitslosen mit Schrittzählern den Mount Everest besteigen lässt.
Mit Schrittzähler auf den Mount Everest
Das alles sind Puzzle-Teile eines Landes, das nirgendwo tatsächlich so eindeutig, clean und fertig ist, wie es sich selbst gern sieht. Und damit ist nicht Ostdeutschland gemeint, das sich eigentlich immer mehr als Fiktion reisefauler Chefkommentatoren erweist, sondern die ganze Bundesrepublik, die viel heterogener ist, als es das platte Ost-West-Schema darstellen will.
Viel mehr zerrissen von Leidenschaften, Abhängigkeiten, Missgünstigkeiten und Lebenslügen, als es die täglichen Nachrichten zeigen. Was dann viele der falschen Entscheidungen und Fehlurteile erklärt, aus denen ein Großteil der deutschen Politik besteht. Selbst „Macht“ ist keine eindeutige Größe, sondern ein sehr diffuses Gebilde, mit dem Deutungshoheiten durchgesetzt werden.
Deutungshoheiten, die auf einmal nur noch falsch und künstlich wirken, wenn einer wie Osang sich wirklich da hinunterbegibt, wo die Leute wirklich leben, sie in ihren Wohnungen (manchmal auch Villen) besucht, mit ihnen nach Afghanistan fliegt oder über Tage bei einer stressigen Auslandsreise begleitet.
Vielleicht trügt es, wenn man dabei das Gefühl hat, dass gerade die Reportagen von Ostdeutschen besonders emotionsgeladen sind. Sie berühren stärker. Vielleicht, weil – von der schlicht nicht erreichbaren Angela Merkel abgesehen – die Porträtierten offener sind, sich selbst mehr Fragen stellen, auch 30 Jahre nach dem großen Feiern unsicher sind und sich selbst in Zweifel ziehen. Denn so ein Gefühl ist da irgendwie immer wiederzufinden, dieses kaum wahrnehmbare „Dürfen wir das eigentlich“?
Osang thematisiert es immer wieder mit der Frage nach dem Individualismus der Personen, die er zeigt. Einem Individualismus, der Menschen wie Merkel, Friedrich oder Preuß schon in der DDR zu Unangepassten gemacht hat. Und damit zu Unpassenden. Doch statt den Kopf in den Sand zu stecken und das Hadern in Groll zu verwandeln, haben sie sich durchgekämpft. Sich nicht klein machen lassen. Auch nicht von westdeutschen Männern in teuren Manageranzügen, deren Geraune ja im deutschen Medienwald immerfort zu hören ist – warnend, nörgelnd, immer besserwissend.
Und dabei so einflussreich, dass sie nie im Leben auf die Straße gehen müsste, um zu demonstrieren. Männer, die niemals zuhören müssen. Und das auch nie täten (wobei Osang gerade Merkels hohe Kunst des Zuhörenkönnens fasziniert), während die Arbeitslosen in Brandenburg versuchen, sich nicht gar zu schäbig vorzukommen, wenn sie – als Motivation – einen Schrittzähler tragen.
Wenn ein Land über sich selbst nichts mehr weiß
Natürlich versteht man die Menschen viel besser, wenn man Osangs Reportagen liest. Und weiß gleichzeitig, dass der Ort, wo die Dinge spielen, völlig egal ist. So egal, wie die täglichen Urteile, die selbstgerecht gefällt werden, ohne dass die Richter jemals vor Ort waren und wirklich zugehört hätten. Deswegen geht der mittlerweile in vielen Büchern beschriebene „Riss“ gar nicht durch West und Ost. Er ist allgegenwärtig.
Er hat etwas mit Ignoranz und Selbstgefälligkeit zu tun, mit zusammengesparten Redaktionen und missglückten Zeitungsexperimenten, die nur die Rendite zum Ziel hatten, aber nie die Neugier der Leser. Er hat eine Menge mit falschen Vorstellungen von Journalismus zu tun. Und fehlenden Geldern für Reporter, die noch Zeit haben dürfen, sich auf Menschen und Landschaften einzulassen.
Osangs Reportagen sind – gerade weil er versucht, immer wieder ein plastisches Gesamtbild zu zeichnen und sich dabei in Urteilen und Wertungen wohltuend zurückhält – wie eine unverhoffte Begegnung mit der Realität, in der die meisten von uns leben. Auch die Erfolgreichen und Berühmten, auch wenn die oft noch viel mehr Probleme haben, den Ort noch benennen zu können, an dem sie Wurzeln haben und das Gefühl, zuhause zu sein.
Und wie ein Roter Faden zieht sich etwas durch alle Geschichten, das so gern negiert wird in unserer auf Effizienz getrimmten Gegenwart: Dass die meisten Menschen in ihrem Leben versuchen, etwas von dem umzusetzen, was in ihnen schlummert und als Wunsch und Sehnsucht angelegt ist. Und wie sie daran verzweifeln, wenn ihnen dazu die Möglichkeiten genommen werden.
Wer will schon Verlierer sein?
Es überwiegen natürlich die Typen, die sich nicht haben entmutigen und demotivieren lassen. Aber gerade die brandenburgische Jobcenter-Geschichte zeigt, dass es noch viel mehr Entmutigte gibt, die sich nach all den Niederlagen irgendwie doch noch so etwas wie ein Selbstbild bewahrt haben, in dem sie nicht die Verlierer sein müssen.
Das ist ein Zugang zum Osten. Aber nicht der einzige. Im Gegenteil: Gerade die „Ost“-Geschichten zeigen, wie unbeackert das Feld in Wirklichkeit ist. Und daran haben auch alle die groß angekündigten Expeditionen westdeutscher Suchmannschaften nichts geändert, die seit 2015 ausgesandt wurden, um das unheimliche Wesen des Ostens zu erkunden. Und dann doch nur mit den bestätigten Vorurteilen zurückkehrten. Denn natürlich sieht man aus der Position der Expeditionskorps gar nichts, nur lauter Eingeborene und eine seltsame Kultur.
Dabei ist eigentlich jeder Mensch so eine Art „letztes Einhorn“ (auch wenn den Titel nur die Reportage über Michael Ballack bekommen hat). Denn jeder ist der Letzte seiner Art, hat etwas vollbracht, was kein anderer vollbracht hat. Am Ende reiht sich auch Christoph Links in diese Reihe ein, wohl wissend, dass er der einzige war, der diesen Ch. Links Verlag hat gründen können und dass in der (ostdeutschen) Verlagslandschaft ein großes Loch geblieben wäre, hätte er es nicht getan.
Deshalb ist der Titel, den Osang nun dem ganzen Band gegeben hat, im Grunde auch ein echtes Reporter-Motiv. Denn genauso geht man an die Sache heran, die man vorher in der Regel nicht kennt: Man geht auf die Suche nach dem Besonderen und Verblüffenden und dem Einzigartigen, das den Menschen ausmacht, den man beschreiben möchte. Das schafft man nicht in 140 Zeichen oder einem hingehämmerten Kommentar. Dazu braucht man Zeit und eben genau die Eigenschaft, die Osang an Merkel so staunenswert findet: die Fähigkeit, zuhören zu können.
Nur dass Osang nie grußlos aus dem Zimmer marschieren wird, wenn nebenan das Telefon klingelt. Denn Menschen, die einem aus ihrem Leben erzählen, verdienen Respekt. Und das macht die Reportagen von Osang so berührend. Was die Befürchtung einschließt, dass eine vom Geld besessene Medienwelt sich diese Aufmerksamkeit für die realen Menschen immer seltener leisten kann. Oder will. Oder darf.
Alexander Osang Das letzte Einhorn. Menschen eines Jahrzehnts, Ch. Links Verlag, Berlin 2022, 22 Euro.
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