Die Frage auf der neuen Website www.schule-und-revolution-in-leipzig.de ist nur zu berechtigt: Schule und Revolution โ passt das รผberhaupt zusammen? Natรผrlich nicht. In Revolutionen geht es meist um ganz andere Dinge. Um die Schaffung von Demokratie zum Beispiel, so wie 1918 und 1989. Da geht es um Machtfragen, freie Wahlen und natรผrlich die Sicherung der Versorgung. Mit fertigen Plรคnen fรผr eine vรถllig neue Bildungslandschaft sind Revolutionรคre in der Regel nicht unterwegs, auch wenn sie grรถรtenteils wissen, wie wichtig das ist.
Elke Urban ist auf diesem Feld so bewandert wie wenig andere in Sachsen. Viele kennen sie als langjรคhrige Leiterin des Schulmuseums, wo Schule aus den verschiedenen Gesellschaftsordnungen seit der Kaiserzeit zu erleben ist. Ein manchmal durchaus Gรคnsehaut verursachende Erlebnis. Gerade im Vergleich wird erst erlebbar, wie sehr sich Schule in den vergangenen 100 Jahren verรคndert hat. Und wie weit der Weg tatsรคchlich ist, bis wir tatsรคchlich einmal eine Schullandschaft haben, in der jedes Kind die Schule finden kann, die ihm guttut und seine Fรคhigkeiten am besten fรถrdert.Schon der Forschungsansatz, den sich Elke Urban gesetzt hat, macht deutlich, wie unglรผcklich sie selbst als langjรคhrig Engagierte fรผr eine vielfรคltige Schullandschaft in Leipzig mit dem ist, was nach 1989 draus geworden ist. Da lag es nahe, natรผrlich die Friedliche Revolution mit der anderen erfolgreichen Revolution von 1918 zu vergleichen. In beiden Fรคllen ging es um Demokratie. Und damit auch um die Frage: Wie sieht Schule in einer Demokratie aus? Wie muss oder kann sie aussehen?
Wenn Revolutionรคre regieren mรผssen
Hier kommt die Krux jeder Revolution zum Tragen: Auch Revolutionรคre misstrauen der Vielfalt. Vielfalt lรคsst sich so schlecht kontrollieren und regulieren. Und Zeit, sich mit so einem โBlรผmchenthemaโ zu beschรคftigen, hat man meistens auch nicht. Oder lรคsst man sich nicht. Denn die neue Gesellschaft soll ja so schnell wie mรถglich in ein Gesetz gegossen werden.
Aber was schreibt man in ein Gesetz in so einem Moment, in dem โ wie 1918/1919 in Sachsen โ auch noch mit Waffen und harten Bandagen um die Macht im Land gerungen wird? Die Gemรครigten von der Mehrheits-SPD mit den Radikalen von der USPD rangen, die mit Richard Lipinski aus Leipzig einen besonders energischen Vormann hatten?
Nicht ganz grundlos hat Elke Urban auch jenes ikonische Foto auf das Buchcover setzen lassen, auf dem Katrin Hattenhauer und Gesine Oltmanns zu sehen sind, wie sie am 11. September 1989 ihr Transparent mit dem Spruch โFรผr ein offenes Land mit freien Menschenโ hochhalten.
Eine Forderung, die fรผr die kommende Friedliche Revolution genauso stand wie fรผr das Engagement all jener, die das alte sozialistische Bildungssystem aufbrechen und ein neues, freieres Bildungssystem auf die Beine stellen wollten. Raus aus dem starren Korsett โ rein in eine Welt mutiger Bildungsversuche.
Die kamen ja nicht aus dem Nichts. Auch in der alten BRD gab es genug Vorbilder, die sich schlichtweg anboten, auch in Leipzig ausprobiert zu werden.
Keine Experimente
Elke Urban kennt die Zeit der Runden Tische und der Neustrukturierung des Bildungssystems in Sachsen noch aus eigenem Erleben. Sie kann die Kรคmpfe schildern, die damals gefรผhrt wurden, diese einmalige Gelegenheit zu nutzen, einfach auch per Gesetz die Mรถglichkeit zu schaffen, dass die Grรผndung freier Schulen mit unterschiedlichen Konzepten mรถglich wรผrde.
Aber alle, die es versuchten, merkten schnell, dass das auch diesmal unheimlich schwergemacht wurde.
Im Grunde ganz รคhnlich wie ab 1918. Denn auch diesmal bevorzugte die neue sรคchsische Regierung ein einheitliches Modell, das sich zwar deutlich vom Schulmodell der DDR unterschied, aber dennoch starre Rahmenvorgaben setzte, die โExperimenteโ von Anfang an erschwerten. Wirklich Bewegung ist in dieses starre System erst 2020 gekommen, als endlich die Grรผndung von Gemeinschaftsschulen in Sachsen ermรถglicht wurde โ nach jahrelangem Kampf von Parteien, Eltern, Lehrer/-innen.
Ganz einfรถrmig war die sรคchsische Schullandschaft natรผrlich nicht. Ein paar zarte Pflรคnzchen blรผhten auch in Leipzig, mit denen ein anderes, offeneres Lernen mรถglich war. Diese Schulmodelle beleuchtet Elke Urban im zweiten Teil des Buches. Und sie sind im Grunde markant und gefragt: die Nachbarschaftsschule, die Waldorfschule, das Montessori-Schulzentrum, die Freien Schulen (mit den Anfรคngen in Connewitz) und das Evangelische Schulzentrum.
Wenn Unterricht nicht aussieht wie Unterricht
Um die Sache auch aus verschiedenen Perspektiven zu zeichnen, hat Elke Urban viele Akteure interviewt, die seit 1990 mitgewirkt haben an der Schaffung dieser Schulmodelle, an den zรคhen Kรคmpfen um Finanzierung und Anerkennung. Immerhin geht es um lรคngst bewรคhrte Bildungskonzepte, die nicht den starren Lehrplan in den Mittelpunkt stellen, sondern die Kinder und Jugendlichen.
Auf einmal merkt man, dass es um dieselben Themen geht wie nach 1918, als alternative Schulmodelle โ wie die Gaudigschule oder die Versuchsschule Connewitz โ versuchten, sich gegen die Vereinheitlichung des sรคchsischen Schulsystems zu stemmen.
Die dann aber nicht gewollt war. Nicht nur von den Revolutionรคren der Anfangszeit nicht. Auch spรคtere Landesregierungen machten den abweichenden Schulmodellen das Leben schwer. Da scheinen aber eben keine Revolutionรคre am Werk gewesen zu sein, sondern eher Bรผrokraten, die sich โ einige Passagen zeigen es ja sehr deutlich โ schwertaten, das, was sie bei Besuchen erlebten, als โregulรคren Schulunterrichtโ zu verstehen.
Ein Wort, das einem in den Ohren klingelt. Und auch Angst machen kann. Denn die Pรคdagogik ist lรคngst weiter. Man weiร eigentlich seit 100 Jahren, dass strammer Frontalunterricht in straff organisierten Lernpaketen deutlich weniger zur wirklichen Persรถnlichkeitsbildung der Kinder beitrรคgt als all die in freien Schulen praktizierten Lernformen, in denen den Kindern der Raum eingerรคumt wird, sich den Lernstoff selbst zu erarbeiten.
All die alternativen Schulen, die Elke Urban portrรคtiert, setzen an einer Stelle an, vor der sich Regierende immer fรผrchten. Denn da geht es auf einmal darum, dass Kinder mitbestimmen kรถnnen, wie Schule sein soll, dass sie sich selbst organisieren kรถnnen (was Erwachsene den Kleinen meist nicht zutrauen) und dass sich auch das Verhรคltnis zur Lehrkraft grรผndlich wandelt โ von autoritรคrer Unterordnung zu echter Lernpartnerschaft.
Schule als Lernort von Demokratie
Was nicht ausschlieรt, dass Lehrer auch Autoritรคt gewinnen kรถnnen, wenn sie ihren Schรผlern einfach Respekt entgegenbringen. Da ist das Beispiel der Nikolaischule spannend, die ja durch Hans Reimanns Erinnerungen geradezu legendรคr geworden ist, die der berรผhmten โFeuerzangenbowleโ zugrunde liegen.
Doch Reimann besuchte die Nikolaischule viele Jahre vor der Zeit, die in diesem Buch behandelt wird. Jรผngere Lehrkrรคfte wagten auch von sich aus schon lange vor der Novemberrevolution, ihren Unterricht modernen Pรคdagogikerkenntnissen anzupassen und die alten Unterordnungssysteme aufzulรถsen.
Was ja im Grunde der zentrale Gedanke von Elke Urban ist: dass der Erneuerungsprozess von Schule nicht von oben verordnet werden kann, sondern es die Lehrer selbst sind, die schon weit vor Revolutionen neue Ideen fรผr einen wirklich kindgerechten Unterricht ausprobieren. Manchmal auch unterstรผtzt von hochkarรคtigen Wissenschaftlern wie Theodor Litt. Dem nun wieder sehr bewusst war, welche ganz eminente Rolle die Schule fรผr die Ausbildung freier, selbstbewusster und kluger Demokraten spielt.
Umso tragischer dann auch die Erfahrungen in den 1920er Jahren, als sich ausgerechnet Eltern vehement und mit geballter Zahl gegen Experimente wie die Versuchsschule in Connewitz wehrten. Man hat geradezu den uralten Wahlspruch der CDU im Ohr: โKeine Experimente!โ
Fรผr wen lernt man eigentlich?
Aber in den 1920er Jahren vermengte sich das auch noch mit dem Kampf um den Religionsunterricht, den auf jeden Fall die frรผhen linken Regierungen heraus haben wollten aus der Schule. Auch mit der Erfahrung der Kaiserzeit, in der Religion eben oft auch eine staatstragende Rolle spielte.
Es ist ein sehr komplexes Kampffeld, in dem es auch um Fragen wie Persรถnlichkeitsbildung, Kultur und jede Menge moralische Fragen geht. Das Misstrauen in den neuen staatlichen โMoralunterrichtโ war groร. Auch dieser Deutungskampf geht heute weiter.
Aber viel deutlicher wird, dass die Ausbildung starker und moralisch integrer Persรถnlichkeiten eher nichts mit dem Religionsunterricht oder dem Besuch einer konfessionellen Schule zu tun hat, dafรผr eine Menge damit, wie Kinder in der Schule das Miteinander erleben. Ist es demokratisch? Wird ihnen Verantwortung รผbertragen? Lernen sie sich einzubringen und das eigene Lernen selbst in die Hand zu nehmen?
Fragen, die heute noch genauso stehen. Und zwar noch genauso drรคngend wie in den 1920er Jahren: Bilden unsere Schulen รผberzeugte Demokraten aus oder doch nur braves โHumankapitalโ zur Verwertung auf dem Arbeitsmarkt? Befรคhigen sie die Kinder, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, oder werden die Kinder schon vorsortiert fรผr eine Gesellschaft, die vor allem funktionierende Arbeitnehmer braucht? Alles nur zu berechtigte Fragen.
Wenn Schule keine Demokraten ausbildet
Und nur zu berechtigt ist ja das Fazit fรผr die Weimarer Republik, dass es am Ende eine Demokratie war, der die Demokraten fehlten. Zwar hatte man mit der Schaffung der Volksschulen die Bildung selbst fairer gemacht und das streng hierarchische Schulsystem der Kaiserzeit abgelรถst.
Aber die Vereinheitlichung hatte auch ihren Preis. Denn sie ist eben nicht nur eine Formsache. Sie prรคgt die frรผhen Erfahrungen der Kinder, wie sie sich in eine Gesellschaft einzufรผgen haben und ob sie รผberhaupt Freirรคume bekommen, ihre Persรถnlichkeit ausbilden zu kรถnnen.
Und wir wissen es doch schon lรคngst, dass Normschulen nun einmal auch nur Normabsolventen hervorbringen, dass all jene Kinder darunter leiden, die in diesem streng regulierten Ablauf ihren Platz nicht finden. Und dass auch die Lernerfolge denkbar fragwรผrdig sind, wenn das Wissen immer nur fรผr die nรคchste Klausur gepaukt wird, eine umfassende Aneignung von Welt und Wissenschaft aber nicht stattfindet.
Nicht stattfinden kann. Oder um Otto Herz zu zitieren, den Elke Urban auch interviewt hat: โDas Alte neu einzukleiden oder mit kommunikativem Chick aufzuhรผbschen: das reicht nicht. Reformpรคdagogik legt Wurzeln, die zu Flรผgeln verhelfen.โ
Und das hรคtte auch Hugo Gaudig formulieren kรถnnen, dessen Gaudig-Schule aus dem Leipziger Stadtbild verschwunden ist, dessen pรคdagogische Ansรคtze Elke Urban aber nach wie vor fรผr gรผltig hรคlt. Wer die Kinder mit einbezieht in das Lernen, trainiert ihre Fรคhigkeit zur Demokratie, zu Selbstverantwortung und Gemeinsinn. Man konkurriert nicht gegeneinander, wie das in den heutigen Normalschulen immer noch das Grundmodell ist, sondern entdeckt Schule als Freiraum zum Lernen.
Logisch, dass Elke Urban das auch heute noch beschรคftigt. Denn gerade das wird in Sachsen nach wie vor erschwert, wenn die Regierung Normen vorgibt, wie freie Schulen einzurichten sind. Man merkt bei jeder politischen Diskussion, dass es dabei nie um die Kinder geht, sondern immer um Verwaltung, Normierung und Kontrolle. Und natรผrlich um den 1. Platz im vรถllig sinnfreien INSM-Bildungsmonitor, der mit Bildung so viel zu tun hat wie ein Flieรband mit einem erfรผllten Leben.
Die Angst vor den mรผndigen Schรผlern
Der Vergleich dessen, was nach 1918 geschah, mit der Umbruchszeit nach 1989 zeigt einige erhellende Prozesse, vertraute Widerstรคnde und die Schwierigkeit, Demokratie รผberhaupt von der Wurzel her zu denken. Denn sie beginnt mit Vertrauen und Zutrauen.
Wenn aber die regierenden Demokraten den Kindern nicht zutrauen, den wichtigsten Prozess im Leben โ die eigene Bildung โ auch in eigener Mitverantwortung zu gestalten, dann bleibt eben genau das Problem akut, an dem die Weimarer Republik litt: Dann fehlt den so โGeschultenโ die Fรคhigkeit zum demokratischen Miteinander, dann รผberleben uralte autokratische Rollenmuster.
So deutlich formuliert es Elke Urban nicht. Denn viel wichtiger war es ihr, die Persรถnlichkeiten zu zeigen, die damals und jรผngst wieder fรผr die Freiheit der Schulen gekรคmpft haben. Wรคhrend sie unsere Zeitgenossen noch interviewen konnte, war das natรผrlich mit den maรgeblichen Personen der 1920er Jahre nicht mรถglich.
Aber sie haben fast alle aussagekrรคftige Bรผcher verfasst, aus denen jederzeit zitiert โ oder eben auch fiktive Interviews gebaut werden kรถnnen, sodass man auch erfรคhrt, wie Leute wie Gaudig, Litt oder Witkowski รผber Bildung und Schule dachten. Und auch Richard Lipinkski kommt zu Wort, der seinerseits plausible Grรผnde dafรผr anfรผhrt, warum der Religionsunterricht in den neuen Volksschulen nichts mehr zu suchen hatte.
Am Ende ist das Buch mehr als ein Vergleich zweier Revolutionen und ihrer Folgen fรผr die Schulpolitik. Es macht sehr deutlich, wie schwer und voller Widerstรคnde der Weg zu einer Schullandschaft ist, in der die Kinder und ihr Lernerfolg tatsรคchlich im Mittelpunkt stehen und verantwortliche Politiker den Mut haben, den jungen Menschen etwas zuzutrauen.
Aber man ahnt auch, dass dieses Nichtzutrauen eben nicht nur die Kinder betrifft. Die Vorstellungen vom โregulรคren Unterrichtโ sitzen fest in den Kรถpfen โ nicht nur bei Bildungspolitikern. Samt der Angst, dass die Kinder nichts lernen kรถnnten, wenn man โdie Zรผgel schleifen lรคsstโ. Die schon existierenden alternativen Schulmodelle werden nicht als lebendiges Beispiel betrachtet, dass es anders gehen kann. Man ignoriert sie einfach und behandelt sie wie bunte Blรผten, nicht als echte Alternative fรผr eine Schule junger Demokraten.
Elke Urban โRevolution und Schuleโ, Selbstverlag, Leipzig 2022.
Das Buch kann bei elke.urban.leipzig@gmx.de bestellt werden und kostet in Papierform 10.- Euro plus Portokosten (2,25 Euro). Als E-Book verschickt sie es kostenlos.
Die Ausstellung โSchule und Revolutionโ digital.
Hinweis der Redaktion in eigener Sache
Seit der โCoronakriseโ haben wir unser Archiv fรผr alle Leser geรถffnet. Es gibt also seither auch fรผr Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. รber die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.
Unterstรผtzen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tรคgliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikรคufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den tรคglichen, frei verfรผgbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit fรผr Sie.
Vielen Dank dafรผr.
Empfohlen auf LZ
So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
Keine Kommentare bisher