Wenn Kunstgeschichte erst einmal kanonisiert ist, scheint sie regelrecht zu schrumpfen auf ein paar immer wieder genannte Namen, die Ausstellung immer der gleichen Großmeister und eine Geradlinigkeit, die hübsch brav den Klassifizierungen der Experten folgt. Als hätte es rechts und links davon nichts weiter gegeben. Und so wird auch der Name Paul Müller-Kämpff vielen erst einmal gar nichts sagen. Es sei denn, man war gerade auf Ahrenshoop.
Denn dort wird im Kunstkaten noch bis April die Ausstellung „Paul Müller-Kaempff (1861–1941) – Wolkenschatten“ gezeigt. Dort, wo der 1861 in Oldenburg geborene Maler einst seinen Lebensmittelpunkt gewählt hatte und wo ein Großteil seiner beeindruckenden Landschaftsbilder entstand, von denen man nicht mal weiß, wie viele es tatsächlich waren. 800? Über 1.000?Das Buch, das der Sammler Andreas Käppler hier vorgelegt hat, ist das Ergebnis einer Spurensuche, die für den Unternehmer aus Sachsen im Jahr 1996 begann, als er erstmals die Faszination der Bilder von Müller-Kämpff entdeckte. Seit 2000 sammelt er selbst, was er von den noch existierenden Gemälden und Grafiken des Künstlers bekommen kann.
Eine Faszination, die er schon in einem Vorgängerband zu Papier brachte. Aber sein Steckenpferd ließ ihn nicht ruhen. Er forschte weiter, wollte möglichst alles erfahren über diesen Künstler, dessen Besonderheit man erst spürt, wenn man wirklich vor seinen Bildern steht.
Im Schatten der Liebermanns
Nur: Warum ist er nicht so berühmt wie seine Zeitgenossen Liebermann und Corinth? Warum fällt sein Name nicht, wenn von der deutschen Malerei um 1900 gesprochen wird, jenem kurzen Moment, in dem der Impressionismus endlich auch in Deutschland zur Geltung kam, viel zu kurz und bald wieder verdrängt von anderen Malschulen.
Denn Deutschland ist spät in der Moderne angekommen. Als die Impressionisten in Frankreich und den USA ihre großen Erfolge hatten, herrschte an deutschen Kunstakademien noch der Geist des Historismus und der Ateliermalerei. Professoren, die ihre Schüler dazu anhielten, mit ihrer Staffelei hinauszugehen in die freie Natur, musste man suchen.
Und der Arztsohn aus Oldenburg suchte sie und fand sie in Düsseldorf, Karlsruhe und Berlin. Vieles deutet darauf hin, dass er sich von ihnen prägen und ermutigen ließ, auch wenn Andreas Käppler zu Recht bedauert, dass es an persönlichen Zeugnissen aus Müller-Kämpffs Leben fast völlig mangelt.
Grund dafür ist sein Tod 1941 in Berlin – kinderlos. So wurde sein mögliches Erbe in alle Winde zerstreut und nirgendwo bewahrt. Der Forscher muss in alten Zeitschriften und Ausstellungskatalogen auf die Suche gehen, in alten Zeitungen nach möglichen Kritiken suchen, überall dort, wo sich offizielle Dokumente bewahrt haben. Manchmal hilft ein Beitrag, den Müller-Kämpff 1926 für die Mecklenburgischen Monatshefte schrieb, manchmal kleine Beiträge in Künstlerlexika.
So entsteht ein Leben in Bruchstücken, ergänzt um Bilder aus einem alten Gästebuch, mit dem greifbar wird, wie Müller-Kämpff im Grunde derjenige war, der Ahrenshoop überhaupt erst einmal zu einer Künstlerkolonie machte und damit auch den Anfang machte, aus dem kleinen Fischerdorf einen Urlaubsort werden zu lassen.
Denn die Landschaften, die er zeigt, erzählen von einem Ort an der Ostsee, in dem der moderne Tourismus noch keinen Einzug gehalten hat.
Ein besonderer Ort
Die wilde Schönheit von Ahrenshoop entdeckte er 1889 auf einer Studienreise mit einem Freund. Und was wirklich wilde Schönheit ist, das sieht man in diesem nun geradezu opulent gewordenen Buch, in dem Käppler auch erst einmal einführt in die Kunstzeit, in der Müller-Kämpff zu malen begann. Denn so richtig Allgemeingut ist das Wissen um den Impressionismus und die Schule von Barbizon noch lange nicht.
Schon gar nicht das Wissen darum, dass nicht alle Maler, die sich einst in Barbizon trafen, zu Impressionisten wurden. Aber was sie einte, war immer die Liebe zur Plein-air-Malerei, das Auge für die phantastische Schönheit der Landschaft und des Lichts.
Mit Barbizon wurde die europäische Landschaftsmalerei revolutioniert. Und das regte dann gegen Ende des Jahrhunderts auch deutsche Maler an. Und auch wenn Müller-Kämpff selbst nicht nach Barbizon reiste und auch keinen der berühmten Maler aus dieser „Schule“ traf, erzählt seine Landschaftsmalerei bis heute davon, dass ihn dieser Ansatz ebenso getrieben hat.
Und dass er in Ahrenshoop einen Ort fand, der durchaus auch so eine Art deutsches Barbizon war – wenn auch viel weiter weg von der Großstadt Berlin als Barbizon von Paris. Außerdem viel wilder und menschenleerer. Ein Ort, der Müller-Kämpff und seinen Freunden die Gelegenheit gab, die grandiose Schönheit einer von Licht und Meer geprägten Landschaft ins Bild zu bannen.
Das Staunen über die Wildheit der Welt
Und wer seine Bilder in diesem Band sieht – alle liebevoll erklärt und interpretiert – sieht, wie sehr es diesem Maler ums Sehen ging, um das eindrucksvolle Festhalten des Moments, wie wir ihn eigentlich als schauende Menschen immer wieder erleben. Nur die wenigsten von uns aber können diesen Moment ins Bild fassen – nicht mal mit einer modernen Kamera.
Denn wir sehen anders als Kameras fotografieren. Unsere Vorstellung von Welt und Moment entsteht als komprimierter Eindruck im Kopf. Etwas allgemeiner formuliert als „Impression“. Auch wenn das Wort viel zu schwach klingt für das Staunen, mit dem wir in der Lage sind, die Wucht blühender Obstbäume im Frühjahr zu erfassen, die Tiefe eines im Sonnenlicht stehenden Waldes, die Ruppigkeit eines von Herbstwinden zerzausten Uferstreifens oder die grandiose Stille einer Winternacht. Jenes Staunen mit offenem Mund darüber, wie atemberaubend, wild und übermächtig die Welt sein kann, der Ort, der Moment.
Und da muss man auch gar nicht erst die Malerhütten sehen, die sich Müller-Kämpff von den Bauern in die Landschaft stellen ließ, um zu erahnen, wie dieser Maler dort versuchte, auch noch den flüchtigsten Moment festzuhalten. Denn alles vergeht. Über dem ganzen Bildband steht ja das ewig Vergängliche, der tägliche Sonnenlauf genauso wie der rasende Wechsel der Jahreszeiten, die Müller-Kämpff auf Ahrenshoop noch in ihrer ganzen alten Wucht erlebte.
Winter, sie sich selbst auf seinen Bildern richtig einsam und knackekalt anfühlen. Mit Sommern, die einen als Betrachter regelrecht ins Bild saugen, auf die scheinbar so akribisch gemalten Feldwege, denen man ansieht, wie genau der Maler selbst den zerfahrenen Lehm erfasst hat, so wie er in seinen Bildern die Stimmung des Lichts festhielt, sodass man eigentlich fast bereit ist, hineinzugehen in dieses Bild, so wirklichkeitsnah wirkt es.
Obwohl alles durchkomponiert ist. Hier wird die Landschaft mit ihren Katen, den Dünen, den Strandwäldern selbst zur Bühne, zeigt der Maler, wie sehr unser Blick auf Natur auch geprägt ist von Dramatik.
Denn Dramatik ist unser Leben, ist der an der Küste oft rasend schnelle Wechsel der Wetter, sind die Himmel, die Müller-Kämpff in immer neuen Variationen malt, genauso, wie er oft immer dieselben Motive in neuer Beleuchtung und zu anderen Jahreszeiten malt. Man braucht oft gar keine Bildunterschrift, um zu spüren, welche Jahres- und Tageszeit gerade zu sehen ist.
Diese Landschaftsbilder sind starke Erzählungen
Und es ist eben nicht nur der Impressionismus, der Müller-Kämpff beeinflusst hat. Geradezu meisterhaft arbeitet er auch mit Stilelementen des Naturalismus und des Jugendstils. Da er an wichtigen Kunstausstellungen in ganz Deutschland teilnahm und sich auch im Kunstverein engagierte, war er durchaus auf dem Stand der Zeit, war begabt genug, auch neue Einflüsse aufzunehmen, ohne dabei den Kern seines Malens zu verlieren.
Und – was Käppler nicht erwähnt – es gibt auch starke Bezüge zu Caspar David Friedrich, dem ja berühmtesten aller deutschen Maler von der Küste, und zur niederländischen Landschaftsmalerei.
Müller-Kämpff wechselte zwischen den Malstilen nicht nur, weil er sich auch mal in der anderen Malweise beweisen wollte. Der Wechsel hat viel mehr mit den Stimmungen zu tun, die er festhalten wollte. Und das ist dann unübersehbar, auch wenn Käppler betont, dass die Bilder von Müller-Kämpff keine Geschichten erzählen – sie erzählen trotzdem etwas.
Denn wir können die Welt nicht ohne Interpretationen betrachten. Wir gehen immer in Beziehung zu allem, was wir sehen. Die kleinen Texte zu den Bildern, die vor allem von Anita Käppler stammen, erzählen ja selbst Geschichten. Vielleicht sind es nicht die Interpretationen, die andere Betrachter einbringen. Aber man kann nicht vor diesen Landschaften stehen, ohne eine Beziehung einzugehen.
Und wer schon zu viele Landschaftsbilder gesehen hat – und die Dachböden in Deutschland werden vollstehen mit hunderttausenden belanglosen, einfach so gefühlig hingemalten Landschaftsbildern – der wird vor den Bildern Müller-Kämpffs wieder munter, merkt, dass auch verschneite Wege über Bodenwiesen, weiße Katen im Mondlicht, Birken im Herbst oder ein Feldweg nach dem Regen eine Geschichte erzählen.
Müller-Kämpff malte so, wie wir in die Welt schauen – wenn wir das mal tun und dann verblüfft sind, weil wir den wachen Moment immer wie eine gerade angefangene Geschichte erleben, deren spannungsgeladenen Höhepunkt wir gerade vor uns haben, und wenn es nur der Moment des Innehaltens ist, wenn der späte Nachmittag in den Abend kippt, ein Loch in den Wolken aufreißt und das Dorf in gleißendes Licht taucht oder eine riesige Wolkenwand sich über die hinter die Dünen geduckten Katen wälzt.
Das Ende der Bürgerstube
Die Küste zeigt uns eben nicht nur die Gewalt der Elemente wieder in all ihrer Wucht. Sie lässt uns auch spüren, wie klein wir sind und wie schutzbedürftig. Wozu in Müller-Kämpffs Bildern auch die tatsächliche Armut der Fischer und Bauern von Ahrenshoop kommt.
Ganz bewusst malt er auch immer wieder „das arme Dorf“ in seiner Schönheit – mit ausgefahrenen Feldwegen und geflickten Mauern und Dächern der Bauernhäuser. Da und dort ist ganz bewusst ein Farbtupfer gesetzt, der die Tonpalette aufreißt.
Und obwohl er sichtlich auch immer wieder andere Stile aufnimmt, bleibt dieser aufmerksame Blick fürs Detail und die offene Bühne der Natur bei Müller-Kämpff immer präsent. Umso tragischer ist sein Schicksal nach 1919, als er seine Besitztümer auf Ahrenshoop verkaufte und davon hoffte, leben zu können.
Bis ihm die Inflation auch noch diese Lebensversicherung wegfraß. Und auch wenn seine Gemälde zu seinen Lebzeiten hohe Verkaufspreise erzielten, wurde er selbst nie kanonisiert, taucht deshalb auch nicht auf, wenn Kunsthistoriker über seine Kunstepoche sprechen. Irgendwie passt er da nicht hinein.
Erst recht nicht, als Moderne und Postmoderne scheinbar alle Regeln der Malerei zerschlugen und auch jenes aufstrebende Bürgertum verschwand, das sich tatsächlich noch große Ölbilder in die gute Stube hängte. Einige Museen und Sammlungen haben zum Glück Bilder von Müller-Kämpff in ihren Beständen. Er ist nicht ganz verschwunden. Und mit der Spurensuche, die Andreas Käppler hier unternimmt, wird der Künstler verdientermaßen wieder dem Vergessen entrissen.
Bis April mal nach Ahrenshoop
Wer es nicht schafft, bis April nach Ahrenshoop zu reisen, hat mit diesem reich bebilderten Band das wohl wichtigste in Händen, was von Müller-Kämpff noch zu zeigen ist, vieles schon liebevoll in der alten Farbenpracht restauriert. Denn seine Bilder leben von der Farbe. Da ist er ganz in der Tradition von Barbizon. Mit ihm sehen wir, wie wir sehen – zumindest dann, wenn wir nicht mit dieser gelangweilten „Kenn ich schon“-Haltung durch die Welt laufen und nur noch auf die glattgestriegelten Postkarten-Motive geeicht sind.
Dabei findet das Faszinosum unseres Sehens anderswo auch statt, auch wenn wir selten so auf die Details achten und uns selbst erklären, warum wir einen Ort oder einen Zeitpunkt so anheimelnd finden. Müller-Kämpff zeigt es. Selbst da, wo seine Bilder eine unheimlich tiefe Stille zeigen.
Eine Stille, die wir auch kaum noch kennen, weil unsere Gegenwart von Lärm und viel zu viel künstlichem Licht durchdrungen ist, was uns viele dieser Momente natürlich nimmt, die Müller-Kämpff noch gemalt hat. Und zwar mit einer verblüffenden Akribie. Es ist unübersehbar, wie ihn dieses Ahrenshoop in seinen Bann geschlagen hat. Da und dort auch andere Landschaften im Norden, die er bereiste. Aber keine ist in so vielen immer neuen Facetten in seinen Bildern präsent wie dieses Stück Küstenlandschaft auf dem Darß.
Aber vielleicht sind wir langsam so weit, wieder sehen zu lernen und Maler wie diesen wiederzuentdecken. Denn je länger man in seinen Bildern unterwegs ist, umso stärker wird das Gefühl, dass diese Bilder zeitlos sind. Genauso wie die Bilder der Maler von Barbizon. Denn sie zeigen etwas zutiefst Menschliches – gerade da, wo gar kein Mensch in der Landschaft zu sehen ist. Womit wir wieder bei der Geschichte sind, die solche Bilder erzählen können, wenn sie einer malt, der den Blick und die Aufmerksamkeit dafür hat.
Andreas Käppler „Paul Müller-Kämpff. Über Leben und Werk“, Pro Leipzig, Leipzig 2021, 45 Euro.
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