Das Büchlein hätte Bertram Reinecke sicher auch in seinem eigenen Verlag Reinecke & Voß veröffentlichen können. Aber auch Verleger haben Seelenverwandte – so wie in diesem Fall den Schweizer Verleger Urs Engeler, dessen Verlag 30 Jahre alt ist und mit seinen Veröffentlichungen an den Geschichtenerzähler im Kopf der Leser appelliert. Denn der erzählt Geschichten auch dann, wenn es in Texten augenscheinlich sehr kryptisch zugeht. Wie eben in Reineckes „Geschlossenen Vorgängen“.
Es sind drei geschlossene Vorgänge, der vierte – hier als „Nachwort“ deklariert – ist im Grunde die Mantelerzählung zu Vorgang Nr. 3 „Der Hüter der Steine“. Damit freilich auch symptomatisch für das Verpacken von Geschichten. Und damit die Frage, die unsere Gegenwart umtreibt, seit ein gewisser Donald Trump das Produzieren von Fakenews zu seinem Lieblingssport erklärt hat.
Denn unser Gehirn hungert nicht nur permanent nach neuen Geschichten, die ihm das Verständnis der oft chaotischen Weltvorgänge erleichtern – es produziert auch selber immer neue Geschichten. Denn wir können nicht anders: Wir brauchen Geschichten, um das, was um uns herum geschieht, zu verstehen. Wir erzählen uns die Welt in Geschichten.
Was zwar einige Leute, die der Wissenschaft diese Methode, die Komplexität des Kosmos mit immer neuen Theorien zu „erklären“, geradezu zum Vorwurf machen, nicht wirklich begriffen haben. Aber sie halten „Glauben“ dann meist tatsächlich für die „wahrheitsgemäßere“ Form des Geschichtenerzählens.
Große Geheimnisse
Aber wer sich – wie Reinecke – so intensiv mit dem Stoff beschäftigt, aus dem Geschichten gemacht werden, der weiß, dass wir es alle genauso machen. Und dass es ein verdammt mühsames Geschäft ist, falsche Geschichten – also Mythen, Märchen und andere Dramolette – wieder aus dem Kopf zu bekommen, wenn man nicht wirklich weiß, was passiert.
So wie in „Hüter der Steine“, einer Geschichte, in der der Ich-Erzähler versucht, einem obskuren Vorgang an der Ostseeküste auf den Grund zu gehen, in dem Steine am Strand eine Rolle spielen, mutmaßlich nächtlich aktive Küstenbewohner, die diese Steine verrücken, und die Unmöglichkeit, zu den nächtlichen Vorgängen irgendetwas Belastbares aus dem Mund der Einheimischen zu erfahren.
Aus der Zeitung sowieso nicht, die – wie so viele andere Regionalzeitungen auch – die Sommerlöcher schon aus Tradition mit allerlei Stoff füllt, der eher ins Reich der Sagen und Legenden gehört.
Irgendwann bekommen wir von Bertram Reinecke bestimmt auch noch Bändchen mit Sagen und Märchen. Denn er weiß ja, wie es geht, wie man Geschichten aus einem Stoff spinnt, der am Ende tatsächlich nur aus Mutmaßungen, aufgeschnappten Erzählungen und der Fantasie eines einsamen Erzählers besteht, der glaubt, einem großen Geheimnis auf die Spur gekommen zu sein.
Ganze Verlage leben von solchen Büchern, in denen begnadete Geschichtenerzähler scheinbar konsistente Berichte über UFOs, Heilige Grale oder verschwundene Zeitalter abliefern. Bücher, die gerade deshalb faszinieren, weil sie zeigen, wie man auch noch aus der verrücktesten Theorie ein scheinbar stimmiges Konstrukt bauen kann, bei dem Millionen Leser das Gefühl haben, dass das durchaus ein Stück einer bislang geheimgehaltenen Wahrheit sein könnte. Das menschliche Gehirn ist so leichtgläubig, wenn nur alles stimmig scheint an der Geschichte …
Was geschah tatsächlich, bevor Ikaros abstürzte?
Und dazu braucht man nicht mal nur die modernen Mythenerfinder. Mit der ersten Geschichte – „Anklage des Daidalos“ – nimmt sich Bertram Reinecke eine berühmte Geschichte aus der griechischen Sagenwelt vor, die schon tausende Künstler dazu angeregt hat, immer neue Werke rund um den Absturz des Ikaros zu schaffen.
Die Geschichte funktioniert bis heute – mal als warnendes Beispiel für jugendlichen Übermut, mal als Flucht-Motiv, mal als Feier menschlicher Kühnheit, mit klugen Erfindungen die Grenzen seiner Möglichkeiten zu überschreiten.
Reinecke nimmt die alte Geschichte für bare Münze und lässt sie von einem Beobachter hinterfragen, der den Absturz des Ikaros wie einen Unfall analysiert, eingepackt in eine Rede ganz im Stile griechischer Autoren, später von einem professionellen Rhetor gleich wieder demontiert, mit Mitteln, die man aus heutigen Tagen ebenso kennt: Wenn man die beobachteten Fakten nicht infrage stellen kann, nimmt man eben den Stil des Vorredners aufs Korn. Denn wer die Regeln des richtigen Redens missachtet, der kann ja kein Recht in der Sache haben, oder?
So wird aus dem kritischen Blick des Mechanikos auf das, was da noch in Adlerflughöhe über dem Meer geschah, einerseits eine Infragestellung der Beschönigungen, mit denen Daidalos den Tod seine Sohnes versucht zu erklären. Und gleichzeitig eine Infragestellung der Infragestellung mit rhetorischen Mitteln.
So, wie das heute in Foren und Kommentaren so oft zu beobachten ist. Was ja Carolin Kebekus und Mai Thi Nguyen in einem witzigen Clip schön anschaulich gemacht haben. Denn diese Art der demolierten Kommunikation findet ja nicht nur zwischen Menschen statt, sondern auch in ihrem Kopf. Das kann ganz schön verstörend sein, wenn man am Ende das Gefühl hat: die eine eindeutige Wahrheit haben wir nicht. Wir bleiben voller Zweifel. Dabei möchten wir doch gern unbedingt recht behalten. Immer. Unbedingt. Aber sofort!
What about Whataboutism? | Die Carolin Kebekus Show
Genau das aber ist unmöglich, auch wenn die griechische und noch viel schärfer die römische Rhetorik allerlei Formen der rhetorischen „Vernichtung des Gegners“ hervorgebracht haben, mit denen man Redeschlachten auf jeden Fall gewinnen kann. Ob man freilich damit den Vorgängen, wie sie tatsächlich stattgefunden haben, näher kommt, ist sehr fraglich.
Die hohe Kunst des Klügelns
Wissenschaftler wissen das. Theorien sind immer nur die bestmöglichen Geschichten, die wir über Vorgänge erzählen können, gültig, bis wir eine noch bessere Erklärung gefunden haben. Die ganze Wissenschaftsgeschichte ist eine Fortentwicklung unserer Fähigkeit, bessere Geschichten über alles, was ist, zu erzählen. Geschichten, die sich nachprüfen, nachrechnen, nachmessen lassen.
Und so ungefähr geht auch der Mechanikos an die Erzählung des Daidalos heran, um sie zu dekonstruieren. Nur um dann selbst zu erleben, dass es in einer Welt der Rhetorik völlig genügt, wenn der Folgeredner den Redestil und die Person seines Vorredners dekonstruiert – und schon sieht es aus, als hätte der die Unwahrheit gesagt.
Ein echtes menschliches Problem, das bis weit in die Neuzeit hinein auch den Gelehrtendiskurs bestimmte und lange Zeit dafür sorgte, dass niedergeschriebene Worte (meist die Bibel) für den Goldstandard des Wissens zu halten waren, und eben nicht die nachprüfbaren Fakten und Zustände der realen Welt. Das hat sich erst mit dem Aufkommen der modernen Wissenschaften geändert.
Aber auch das war kein geradliniger und selbstverständlicher Vorgang. Mit „Mein lieber Feldmann“ hat Reinecke auch einen fiktiven Briefverkehr aus dem frühen 19. Jahrhundert imitiert.
Er hätte ihn auch ins 18. Jahrhundert legen können, als solche Art gelehrter Wichtigtuerei schon sehr üblich war in weiten Teilen eines gebildeten Bürgertums, das fest daran glaubte, dass der simple Gebrauch der praktischen Vernunft völlig genüge, auch die größten Welträtsel zu lösen. Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ von 1788 werden die Meisten gar nicht gelesen haben. Sonst wären uns Berge solcher vernünftelnden Schriften und Bücher erspart geblieben.
Das zähe Weiterleben von Legenden
Und was der Schreiber hier in einem Brief an einen scheinbar Geistesverwandten schreibt, gehört in diese Kategorie. Hier hat einer unendlich viel Zeit, wird weder von Fernseher noch Smartphone abgelenkt, hat ein paar mit Schriftzeichen bedeckter Schnipsel vor sich, von denen er glaubt, dass sie ganz alt sind, und nun versucht er seinem fernen Geistesbruder zu erklären, warum diese Schnipsel so außerordentlich sind und dass man es zweifelsohne mit Fragmenten von Gedichten der griechischem Lyrikerin Sappho zu tun haben müsse. Obwohl die dann abgedruckten Textfetzen alles möglich sein könnten – aber ganz bestimmt kein Gedicht von Sappho.
Man ärgert sich quasi stellvertretend, weil man ja weiß, wie schwer es dann wirklich wissenschaftlich arbeitenden Mitmenschen fällt, die alten Konstrukte und Märchen wieder aus der Welt zu schaffen, die Fakes von den Fakten zu trennen und alte Mythen tatsächlich ins Märchenregal zu verfrachten.
Denn diese Erfinder wie Wissenschaft wirkender Konstrukte gibt es ja noch heute. Sie schaffen es auch immer wieder, ihre zusammengetricksten Studien in namhaften Wissenschaftsmagazinen zu platzieren.
Man hat also nur bedingt geschlossene Vorgänge vor sich. Denn diese Art, Geschichten in die Welt zu setzen oder (wie in der Daidalos-Geschichte) Vorgänge rhetorisch wegzudisputieren, ist heute noch genauso im Schwange wie zu Zeiten Luthers, Newtons oder Hegels.
Neben dem mühsamen Tagwerk der wirklich forschenden Wissenschaft tummeln sich immerfort hunderte Geschichtenerfinder, die ihren kleinen und großen Ruhm daraus gewinnen, dass ihre Leser/-innen alles glauben, wenn es nur plausibel genug klingt und überzeugend genug vorgetragen wird.
Alles ganz geheim …
Da haben Wissenschaftler, die um die Vorläufigkeit ihres Forschungsstandes wissen, immer schlechte Karten. Sie wissen, dass sie zwar die gerade bestmöglichen Erklärungen zu Dingen haben, die die Menschen aufregen und in Unruhe versetzen (wie die Corona-Pandemie). Aber sie können nicht konkurrieren gegen all die Gurus, die sich kraft ihrer Wassersuppe viel bessere Geschichten ausgedacht haben – möglichst mit Bösewichten und heimlichen Verschwörungen darin, über die man natürlich nichts verraten könne, weil alles so geheim ist.
So wie in „Der Hüter der Steine“, der dann selbst zum „Helden“ einer Legende wird, die der Erzähler des „Nachworts“ aus dem Datenschredder gefischt hat. Was ja dann schon der nächste Strang der ewigen Geschichten ist: Man bekommt sie einfach nicht geschreddert. Sie führen ein Nach- und Eigenleben und feiern mit jeder neuen Mythenrunde eine fröhliche Auferstehung.
Denn nichts fasziniert Menschen so sehr wie das Hätte, Könnte, Wäre, dieser kleine Schauer der Erregung, wenn man hinter der doch eigentlich so nüchternen Wirklichkeit noch etwas vermuten kann, was dem Ganzen noch einen zusätzlichen Sinn gibt, eine mystische Aura verpasst, die dann auch Zeitungs-Schlagzeilen-Macher zu kühnen Höhenflügen animiert.
Auch wenn am Anfang nur ein trauriger Autor in einer billigen Hütte saß und geradezu verzweifelt darüber war, dass in seinem Leben einfach nichts Erzählenswertes passierte. Vielleicht ist genau das die Verzweiflung, die so viele heutige Mythenerzähler genau dazu gebracht hat, lieber die wildeste Verschwörungsgeschichte zu glauben, als zuzugestehen, dass einem eigentlich überhaupt nichts wirklich Erzählenswertes passiert ist.
Da kann man die Welt schon mal mit den Augen des Autors betrachten, der aus Kenntnis ganzer Berge historischer Literaturen weiß, wie das geht, wie man dem Leben ein bisschen Pepp geben kann, wenn man die Mitmenschen einfach mal mit wirklich schrecklichen Geschichten in den Bann zieht. Es könnte ja so gewesen sein. Nur kann man natürlich seine Quellen nicht preisgeben, nicht wahr? Wo kämen wir da hin?
Bertram Reinecke Geschlossene Vorgänge. Über einige biographische Artefakte etc., Engeler Verlag, Schupfart 2022, 12 Euro.
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