Einen Versuch ist es wert, dachte sich der Didaktiker, Sozialwissenschaftler und Theologe Wolfgang Sander, dem es wohl genauso geht wie Millionen anderen EU-Bürgern: Man ist zwar irgendwie froh, dass es die EU gibt, aber so richtig herzerwärmend ist sie nicht. Irgendetwas fehlt, so etwas Gemeinsames, bei dem alle Europäerinnen und Europäer das Gefühl haben: Ja, das vereint uns. Hinter dieser Idee können wir uns alle versammeln. Aber ist es wirklich der Geist des Christentums?
Ist es wirklich das Christentum, das die Europäer vereint? Warum nicht die Aufklärung mit ihren Idealen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Die aber auch wieder auf christliche Werte zurückzuführen sind, stellt Sander fest. Der dann auch ein ganzes Kapitel der Kritik der Aufklärung widmet, beziehungsweise der „radikalisierten Aufklärung“, der Säkularisierungsthese und ihrem Scheitern. Auch gar der „Pathologie der europäischen Moderne“.Es ist schon nicht so einfach mit der europäischen Geschichte. Und auch nicht mit der Aufklärung oder dem, was jeder darunter versteht – was Sander ja selbst diskutiert. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob sich man sich – wie Sander – auf Thomas Hobbes bezieht, dessen Weltbild ein zutiefst pessimistisches war und bis heute hinter der dominierenden Haltung steckt, der Mensch sei nur ganz an seiner Oberfläche zivilisiert, darunter sei er noch immer der einstige Wilde und ganz wenig genüge, die „dünne Schale der Zivilisation“ zum Zerreißen zu bringen.
Athen, Rom, Jerusalem?
Es verblüfft schon, dass ausgerechnet die frühe Französische Revolution immer wieder als Ergebnis der Aufklärung behauptet wird, obwohl in keinem Land die Positionen der Aufklärer so unterschiedlich waren wie in Frankreich. Wer sich etwa auf Rousseau oder Montaigne bezieht, kommt zu völlig anderen Schlüssen als die Verehrer eines Hobbes. Auch in Sinne einer Vielsprachigkeit gab es DIE Aufklärung nicht. Und schon gar nicht die lineare Fortsetzung in die Gegenwart.
Dabei war der Ansatz doch so schön, den Sander gewählt hat. Denn natürlich hat er recht, wenn er nach den Wurzeln Europas fragt, nach dem, was für die Menschen auf diesem Teilkontinent tatsächlich die gemeinsame Geschichte ist. Sander versucht es mit dem Dreiklang Athen, Rom, Jerusalem auf den Punkt zu bringen.
Wissenschaft und Demokratie, Gesetz und Religion. Und dass alle drei Bezugspunkte die europäische Geschichte seit 2.000 Jahren beeinflusst und dominiert haben, ist ja unbestreitbar. Auch wenn das Christentum dabei seine diversen Spaltungen erlebte, die erst im 20. Jahrhundert wieder leidlich gekittet wurden.
Wobei Sander auch die Frage beschäftigt, ob Religion tatsächlich auf dem Rückzug ist oder wir es nur mit einem europäischen Phänomen zu tun haben, während auf anderen Kontinenten die Religion Zulauf hat.
Und so ganz religionslos scheinen ja auch die Bewohner Europas nicht geworden zu sein, nur dass sie sich lauter andere Götter zugelegt haben, die sie anbeten, Abgötter, wie sie die Bibel nennt – all die Verheißungen einer Konsumgesellschaft, die ihren Mitgliedern Erfüllung verspricht, wenn sie nur genug konsumieren, sich Jugend, Schönheit und Glück kaufen, sich optimieren und sich selbst quasi zum Gott ihres Daseins machen. Eine Welt der Selbstvergottung und des Egoismus.
Die Würde des Menschen – nicht begründbar?
Was ja auch stimmt. Wo das Gemeinsame in die Binsen geht, dominiert der Individualismus, zerfallen Gesellschaften in lauter kleine Egos, die nur noch um sich selbst, ihre „Freiheit“ und ihr Wohlergehen besorgt sind.
Nur die These ist ziemlich steil, dass es erst eine Religion wie das Christentum braucht, um Menschen wieder zu gemeinschaftsfähigen Wesen zu machen. Es sind scheinbar logisch aufgebaute Sätze, mit denen Sander seiner eigenen Argumentation den Boden entzieht.
So wie dieser hier: „So ist es bis in unsere Zeit nicht überzeugend gelungen, tragfähige säkulare Begründungen für eine unverlierbare Würde aller Menschen zu finden.“ Und etwas weiter: „Letztlich bleibt hierfür nur eine irgendwie geartete Referenz auf die ‚Natur‘ des Menschen, die – gewissermaßen nur zur Entfaltung gebracht werden müsse, um dem Humanum Raum zu geben.“
Nein. Genau das muss sie nicht. Diese Natur ist schlicht vorhanden. Und wird – wie etwa im Grundgesetz – als unantastbar beschrieben. Denn das ist ja Teil des Erkenntnisprozesses der vergangenen 200, 300 Jahre, dass der Mensch von Geburt an seine Würde hat und eine gerechte Gesellschaft diese Würde respektiert und auch versucht zu sichern. Diese „Natur“ muss nicht erst freigelegt oder „zur Entfaltung gebracht“ werden.
Welche Aufklärung darf’s denn sein?
Die Aufklärung und – später im Buch – die Wissenschaft selbst bzw. das wissenschaftliche Denken sind nicht wirklich die Gegenspieler einer humanen Gesellschaft. Und Aufklärung führt ganz und gar nicht zwangsläufig in den Utilitarismus, den Sander heutigem Politikverständnis attestiert. (Und auch nicht in totalitäre Regime, wie so gern behauptet wird.) Dass unsere heutige Politik von Utilitarismus dominiert wird, ist ein Problem.
Da hat Sander recht. Aber es sind in der Regel Politiker/-innen, die nur zu gern „christliche Werte“ im Munde führen, die genau so handeln. Und bei denen man sich zu Recht fragt: Was sind denn dann die christlichen Werte, von denen sie reden? Sind es wirklich „Frieden und Verständigung, Menschenwürde und Freiheit, Bekämpfung der Armut und der pflegliche Umgang mit der von Gott geschaffenen Natur“, wie sie Sander als „Grundorientierungen in den europäischen Kirchen“ angibt?
Dass die christliche Religion zum Lernprozess der Europäer gehört, innerhalb dessen sie ihre Vorstellungen von Menschenwürde, Gemeinschaft und Humanität entwickelt haben, ist keine Frage. Wenn man die Geschichte der Aufklärung untersucht, kommt man – historisch betrachtet – immer zu christlichen Wurzeln.
Wurzeln, die aber meist viel tiefer reichen als das Christentum selbst. Siehe Athen. Denn viele der ethischen Vorstellungen im Neuen Testament stammen direkt aus der griechischen Philosophie. Nicht nur aus der Stoa. Europa kann seine eigene Geschichte nicht abstreifen.
Aber da sich Sander so stark auf Jerusalem konzentriert, geraten Rom und Athen etwas zu weit aus dem Blickfeld. Denn gerade der Verweis auf Rom zeigt den langen, aber wichtigen Weg zur Verrechtlichung der menschlichen Gesellschaft. Und einen Weg der Humanisierung des Rechts, die mit der Aufklärung und der „Erfindung“ des Staatsbürgers eine völlig neue Qualität erhalten hat.
Wer von (National-)Staaten spricht, muss auch vom Staatsbürger reden und von der Emanzipation des Bürgers im modernen Staat.
Säkularisierung und Emanzipation
Einer Emanzipation, die eben auch eine Menge mit der von Sander so kritisch gesehenen Säkularisierung zu tun hat. Die nämlich auch eine Emanzipation des Menschen von der Kirche und ihrer über Jahrhunderte bevormundenden Rolle ist.
Man merkt schon, dass Sander aus der Kirche heraus argumentiert und sich nicht wirklich vorstellen kann, wie sich Menschen außerhalb dieser Gemeinschaft fühlen. Sind das alles verlorene Seelen und einsame Geschöpfe, die nun ohne Halt und Verantwortung für die Gemeinschaft durch die Welt trudeln?
Die Entgegen-Stellung stimmt nicht. Es gibt eben auch eine sehr kirchliche Art des Otherings. Die in diesem Fall auch in einer Art Hohepriestertum steckt nach dem Motto: Wir haben die Werte, ihr müsst die erst definierten – und das könnt ihr nicht. Eine zutiefst theologische Perspektive, die Sander auch begründet. Von den Briefen des Paulus bis zu Luthers Zwei-Welten-Lehre.
Sie sehen schon: Da grummelt der Kritiker in mir. Denn spätestens, wenn Sander dann auch noch als wesentliche Referenz auf Samuel Huntingtons „The Clash of Civilizations“ verweist, wird sein Konstrukt ganz schwierig. Denn Huntington definierte ja diese Civilisations vor allem anhand der großen Weltreligionen. Die ihrerseits ja tatsächlich große Kulturräume prägen.
Für Huntington werden die alten Kämpfe zwischen Ideologien durch neue Kulturkämpfe abgelöst. Eine extrem amerikanische Sicht übrigens, die seit über 20 Jahren eben leider auch die amerikanische Außenpolitik bestimmt.
Aber gilt das auch für Europa, dem Sander einen säkularen Sonderweg attestiert, während es weltweit einen Vormarsch der Religionen sieht?
Ein säkularer Sonderweg?
Eine durchaus spannende Frage, die natürlich auch zu der Frage führt, welchen Einfluss die europäischen Kirchen überhaupt noch haben auf die Politik und die Ausbildung einer gemeinsamen europäischen Identität? Denn natürlich wartet man im ganzen Buch gespannt auf die Stelle, an der Sander erklärt, wie der „christliche Geist“ in die Europäische Union kommen soll, wenn er noch nicht darin ist.
Und da bleibt ihm nichts anderes als die Hoffnung auf einen gemeinsamen Prozess in allen europäischen Kirchen und einer emsigen Bildungsarbeit aus den christlichen Gemeinden heraus. Ein Prozess, der noch nicht einmal absehbar ist. Da ist durchaus berührend, wenn Sander einen Ur-Anspruch zitiert, wie ihn Stefan Weidner in „Jenseits des Westens“ (2018) formuliert hat.
„Weidner deutet das im säkularen Westen verbreitete Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Kulturen als eine Kompensation der Unfähigkeit, den Menschen zu einem Höheren hin zu überschreiten (…) und ihm mehr als bloß äußerliche Ziele vorzugeben (…): Das Höhere, das erstrebt werden soll (..), ist man selbst, der Mensch des Westens.“
Weidner hat das übrigens aus der Position eines Islamwissenschaftlers heraus formuliert. Womit wieder die Religion als Maßstab da steht und damit ein Anspruch, den Sander dann als „christliche Renaissance in Europa“ formuliert. Die aber sichtlich nur eine Utopie ist. Ein neues „christliches Europa in der Weltgesellschaft“, die Sander durch große Religionen geprägt sieht.
Was ist der Spirit Europas?
Aber auch die EU ist, anders als Sander meint, keine christliche Gründung, auch wenn einige ihrer Gründerväter konfessionell gebunden waren, was in den 1950er Jahren im Westen noch die Normalität war. Ihr Geist aber war von Anfang an ein utilitaristischer und pragmatischer, eine europäische Einheit zu schaffen, die es so in der gesamten europäischen Geschichte noch nicht gegeben hatte.
Dass heute über den „Spirit“ Europas diskutiert wird, erzählt eher davon, dass den heutigen Europäern sehr wohl bewusst geworden ist, dass die EU mehr ist als nur eine Wirtschaftsgemeinschaft und dass die Staaten sich durch mehr verbunden fühlen als nur ein gemeinsames Parlament und fehlende Zollschranken.
Der Versuch, sich eine Verfassung zu geben, war ja auch der erste Anlauf, gemeinsame Werte in einer Grundordnung zu definieren – oder besser: durchzudeklinieren. Denn nur weil sie im Vertrag von Lissabon so zusammengewürfelt stehen, heißt es ja nicht, dass es sie nicht gibt und nicht für die Mitgliedstaaten längst eine gemeinsame Handlungsgrundlage sind.
Das ist dann wohl auch der Punkt, an dem Wolfgang Sander ein Manko sieht, wo keines ist: An menschlichen Werten fehlt es der EU überhaupt nicht. Sie sind existent, ohne dass man sich auf die Bibel berufen muss. Und zu den großen Früchten der Aufklärung gehört nun einmal, dass sie diese Werte definiert hat und ihre Allgemeingültigkeit festgestellt hat. Dass sie teilweise schon tief in der menschlichen Evolution angelegt sind, hat zuletzt ja Rutger Bregman in „Von Grund auf gut“ durchdiskutiert.
Eine Seele für Europa
Natürlich darf und muss man darüber diskutierten, was dann den Umgang mit diesen grundlegenden Menschenrechten in Europa betrifft – warum sie von Einzelinteressen immer wieder ausgehebelt und mit Füßen getreten werden. Sanders Buch entspringt ja auch diesem immer stärker werdenden Bedürfnis, dem ökonomisch fundierten Pragmatismus der EU endlich auch eine Seele zu geben, eine ethische Begründung, die für alle Europäer etwas sein kann, mit dem sie sich identifizieren können – Christen wie Nicht-Christen, Gläubige und Ungläubige.
Und dann wird es sich wahrscheinlich herausstellen, dass der Dreiklang eben nicht Athen, Rom, Jerusalem heißt. Sondern Athen, Rom und Paris – womit die „Hauptstadt der Aufklärung“ drin wäre, mit der Sander so hadert.
Natürlich hat er recht, wenn er – scheinbar als Gegenargument – aufführt, dass Aufklärung keine abgeschlossene Epoche ist. Das steckt ja selbst schon in Kants berühmter Definition der Aufklärung: Es ist ein langer Prozess, mit dem wir – selberdenkend – die alte Unmündigkeit verlassen. Ein Prozess, der mit den griechischen Philosophen begann, in der Renaissance einen neuen Schub bekam und ab dem 17. Jahrhundert begann, Europa zu prägen, wie Sander selbst feststellt.
So gesehen wird es nicht der „Geist des Christentums“ sein, der Europa erneuern wird, auch wenn dieses Europa in einer sich verändernden Welt und neuer Machtungleichgewichte eine neue Rolle für sich finden muss. Ein markanteres Bild von sich selbst und einen klaren Kanon dessen, wonach alle streben, die sich als Europäer fühlen. Und wofür sie einstehen. Und das sind eine Menge Werte und Freiheiten. Und die meisten davon stehen nicht in der Bibel. Was aber keinen Gläubigen ausschließt, diese Werte ebenfalls als die eigenen zu verstehen.
Wolfgang Sander Europäische Identität, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2022, 25 Euro.
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