Die Leute haben Probleme. Manchmal haben sie gar nichts anderes als diese Probleme. Igeln sich darin ein, bauen ihr ganzes Leben drumherum und benehmen sich, als wäre ihr Leben eine Strafe, an der die anderen schuld sind. Da unterscheiden sich die Leute im Ruhrgebiet wahrscheinlich nicht die Bohne von denen im Erzgebirge. Jeder sein eigenes kleines Aber-Ich! Neun böse kleine Psychogramme aus der Tastatur des Esseners Ingo Munz.
Neun kurze Geschichten über das kleine, nach Aufmerksamkeit heischende Ich von Männern von heute, denen das Gefühl, immerzu zu kurz gekommen zu sein, wie ein Alb im Nacken sitzt. Es sind tatsächlich alles Männer. Und es sind kurze Geschichten, Kurzgeschichten im ganz ursprünglichen Sinn.Ingo Munz schlüpft regelrecht hinein in die Gedankenwelt seiner Helden, die keine Helden sind. Eher Anti-Helden. So wie Gregor Samsa in Kafkas „Verwandlung“. Und manchmal verwandeln sie sich auch. So wie in der Titelgeschichte „An der Guillotine“, die natürlich auch an Kafka erinnert – in diesem Fall an „In der Strafkolonie“.
Nur dass sich die Hauptfigur hier seine Sünden nicht in die Haut sticheln lässt, sondern eine Guillotine bauen lässt, mitten auf einem öffentlichen Platz, um sich dann zum Lesen darunter zu knien, das Fallbeil auszulösen – und dann fällt die ganze Maschine in sich zusammen. Der Autor ist erlöst.
Eine echte Schriftstellergeschichte. Eine Künstlergeschichte, balancierend auf dem schmalen Grat zwischen den eigenen, unerfüllbaren Ansprüchen und den verloren gegangenen Erwartungen an eine Gesellschaft, der der „esprit général“ abhandengekommen ist.
Menschenscheu paart sich mit Narzissmus. Willkommen in der Gegenwart einer Gesellschaft, die seit 40 Jahren auf dem Egotrip ist. „Es gelingt mir nicht mehr, uns eine höhere Liebesfähigkeit zuzuschreiben, da wir nicht bereitwillig aufgeben, die Distanz und die Maskeraden, selbst wenn wir dadurch zugrunde gingen …“
Der Richter im Kopf des einsamen Vorlesers
Maschine kaputt. Nicht nur in dieser kurzen Geschichte. Es zieht sich durch alle neun Geschichten: Wo wirkliche Nähe nicht möglich ist, regiert die Distanz, wird alles zur Wertung. Zum permanenten Bewerten und Richten. So wie in „Eine kurze Geschichte über den Hochmut“, in der am Ende auch das Publikum ein bisschen hochmütig sein kann. Aber hochmütig ist in diesem Fall der Autor, dessen Gedanken abschweifen beim Vorlesen, denn seine Lesung ist nur noch mechanischer Vortrag. Weit weg.
Das zelebriert er quasi im Automatismus, während er im Kopf das Publikum mustert und beurteilt und abwertet. Ob das Autoren tatsächlich so geht bei Lesungen, kann ich nicht sagen. Manche lesen ja tatsächlich so schlecht, dass man meint, sie wären gar nicht bei der Sache.
Aber eigentlich geht es hier gar nicht um den Schriftsteller selbst, auch wenn die Situation sich anbietet: Wie er regelrecht scheitert daran, die Nähe zu seinem Publikum aufzubauen. Als hätte er nie gelernt, dass man sein Publikum nicht nur „kriegen muss“.
Denn für wen schreibt und liest man denn? Doch wohl für dieses seltsame, so völlig unpassende Publikum, das trotzdem kommt, wenn abendlich ein Autor X in der Buchhandlung liest. Manchmal, weil man von X schon was Gutes gehört hat oder einfach nur neugierig ist.
Und dieser Bursche versiebt es völlig, weil er aus seinen Kopfschleifen nicht herauskommt, die man erstaunlicherweise kennt. Denn so wertet und wütet heute ja gefühlt die halbe Gesellschaft, erklärt einer den anderen für doof, lernunfähig, ungebildet und noch schlimmeres.
Im Grunde: ein völlig missglückender Dialog, den Ingo Munz hier skizziert. Genau der Dialog, in dem viele von uns heute gefangen sind und nicht rauskommen. Im Kopf eine immerwährende Publikumsbeschimpfung. Während wir scheinbar alles verlernt haben, was man braucht, um mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen.
Die eingesperrte Welt im Kopf
Er ist nicht der einzige Einsame in diesen Geschichten. Einsam ist auch der „Killer von Montabaur“, von dem man anfangs nur ahnt, dass ein Killer in ihm steckt, aber nicht weiß, was er tun wird, nachdem die Gespräche mit seinem Psychotherapeuten scheinbar ergebnisoffen geblieben sind. Offen auch für die Schleifen, die der junge Mann dann dreht, bis er nach einer irren Fahrt durch die Nacht ins Flugzeug steigt, um seinen allerletzten Arbeitstag als Pilot anzutreten.
Vielleicht war es ja wirklich so. Denn nicht nur die Zeitungsmenschen geben sich ja so gern sprachlos, wenn wieder einer die in sich kreisende Welt in seinem Kopf für die Wirklichkeit hielt und Dinge tut, die so „unbegreiflich“ sind. Man braucht schon eine Menge Gänsefüßchen, um den in Schlagzeilen gegossenen Unfug zu benennen, der dann ausgerechnet all diesen einsam in sich Kreisenden auch noch zu bestätigen scheint, wie „unbegreiflich“ alles ist.
Ist es das? Auf den ersten Blick scheint es so, wenn man die Kurzgeschichten von Ingo Munz liest. Alle wie kleine Kugeln, in denen die Erzähler in ihrer kleinen Welt kreisen, ernsthaft versuchen zu erklären, wie wichtig alles darin ist. Und am Ende hat man doch nur lauter kleine, trostlose Leute vor sich, die sich in ihren täglichen Abläufen eingeigelt haben, die für gewöhnlich funktionieren wie ein Uhrwerk und nicht mal verwirrt sind, wenn sie eines Morgens mit einem grünen Filzhut auf dem Kopf aufwachen.
Sie leben ganz offensichtlich in kafkaesken Zuständen – und halten das auch noch für normal. Gefangen in einem Anfang, der eigentlich schon Jahrzehnte zurückliegt, als vielleicht sogar mal – wie in „Fußball im Affenkäfig“ – so ein Schimmer da war, man könnte ja auch als erfolgreicher Fußballer ein völlig anderes Leben gelebt haben. Wäre da nicht die Fußverletzung gewesen.
Das Hätte und Könnte
In diesem Hätte und Könnte lebt so mancher. Und wenn es gutgeht, tröstet er sich mit den Fußballkumpels in der Kneipe und darf ab und zu überm letzten Bier ein bisschen den Schmerzensmann mimen: Es hätte doch alles so ganz anders laufen können.
Dieser Moment steckt selbst in der Beinahe-Liebesgeschichte „Dajana“. Die in diesem Fall tatsächlich so etwas ist wie eine menschliche Berührung, anders als die oberflächliche Liebesgeschichte, die der hochmütige Autor da vorliest. Die wirklichen Lieben verpassen wir nämlich meistens, wenn wir uns in der Jugend von Kurven, Busen und Hormonen irremachen lassen und den „Schönheitsköniginnen“ der Schule hinterherhecheln – und nicht merken, dass es im Zwischenmenschlichen um völlig andere Dinge geht.
Vielleicht hat ja dieser kleine, sichtlich einsame Held noch eine kleine Chance – zumindest, wenn der zuständige deutsche Innenminister mitspielt, der nur indirekt auftaucht. Sodass es den Erzähler scheinbar gar nicht wirklich berührte, was mit Dajana geschah. Innenminister, die über menschliche Schicksale entscheiden – was für eine hochmütige Bande, könnte man sagen.
Aber nicht überraschend nach all den Verschärfungen des Ausländerrechts seit 1992, hübsch befeuert von kleinen deutschen Nazis, die damit Politik machen. Bis heute. Und die auch in der Geschichte „Eine Geige für Alima“ auftauchen, ganz zum Schluss, als der Geiger die Geige lieber dem kleinen Mädchen geschenkt hat, bevor „sie“ kommen: „Wenngleich grölend, so eiferten sie doch unbeholfen einer, irgendeiner Melodie nach. Sie kamen näher und er sah sie lächeln. Und er wusste, dass er dieses Mal nicht mit einer Platzwunde davonkommen würde.“
Die Einsamen im Hamsterrad
Diese hochmütig Lächelnden fühlen sich sauwohl in einer Gesellschaft, in der das Ego gefeiert wird. Und in der der Kitt längst gebröckelt ist, der noch so etwas wie Geborgenheit gab. Auch so etwas wie Vertrauen und Selbstvertrauen. Wo doch alle so beschäftigt sind, immer in Eile, immer schon mit Gedanken am erlösenden Ende von Arbeitstag und Arbeitswoche – nur um am Wochenende genauso emsig die immer gleichen Routinen abzuspulen. Routinen, die ein ganzes Leben noch zusammenhalten, sonst würde es wahrscheinlich einfach auseinanderfallen, weil es eigentlich keinen Sinn mehr ergibt.
So gesehen: lauter kleine Psychogramme einer Gesellschaft, der ihr eigener Sinn verloren gegangen ist. Logisch, dass dann die so Vereinsamten irgendwann wie die gefangenen Ratten in ihren eigenen Vorstellungen herumrennen, unfähig, die Schale zu durchbrechen, das Hamsterrad zu verlassen und ihr Leben zu ändern.
Wer liest denn schon Rilke? Oder eben Kafka? Man könnte das eigene Leben darin wiedererkennen. Und das Nicht-Gelebte. Samt den ganzen falschen Geistern, die man mit sich herumschleppt, weil der Neid, die Angst vor den anderen, die Vorurteile in den einsam vor sich hin grübelnden Gehirnen immer mehr die Oberhand gewinnen. Gewonnen haben, vielleicht schon vor langer Zeit.
Wenn alles, was vielleicht möglich gewesen wäre, in der Vergangenheit liegt, was ist da der heutige Tag noch wert? Und: Wo lebt dann der Erzähler, der sich selbst und sein verkorkstes Schicksal nur noch bedauert? Als würden andere Leute oder unfassliche Mächte darüber bestimmen, in welchen Schleifen man am Ende landet. Aus denen so viele glauben, nicht mehr herauszukommen.
Weil das scheinbar über sie verhängt wurde oder irgendjemand das von ihnen erwartet, so wie die todkranke Frau des Mannes in „Das Wohnzimmer“. Es ist sehr gut vorstellbar, dass sich viele Menschen nur noch so miteinander „unterhalten“: schweigend, einander beobachtend im Augenwinkel. Was wird sie jetzt dazu sagen? Macht sie mir wieder Vorwürfe?
Das König-Drosselbart-Syndrom
Da bleibt kein Platz für Gelassenheit, auch nicht für Lovis in der Fußballgeschichte, der sich am Ende ebenfalls als Autor entpuppt, dem aber sowohl das Geld wie die Idee für eine zündende Geschichte fehlen: „Hätte ich doch nur beim Fußball bleiben können …“ Das ist dann schon das Prinzessin-Motiv aus „König Drosselbart“: „Ich arme Jungfer zart, ach, hätt ich genommen den König Drosselbart!“
Als hätten die Erfinder dieses Märchens schon geahnt, wie eine Gesellschaft mal aussieht, in der lauter verwöhnte Königstöchter leben, gern auch männlichen Geschlechts. Hochmütig in allen Handlungen und am Ende zutiefst vergrämt über die verpassten Chancen ihres Lebens. Nur dass Ingo Munz nur einen seiner „Helden“, den Killer von Montabaur, diese innere Leere dann an anderen rächen lässt.
Die anderen Figuren in seinen Erzählungen sind eher gefangen in ihrer Selbstbezogenheit, greifen entweder zu sehr seltsamen Formen der Kommunikation – wie in „An der Guillotine“ – oder schalten wie der Vorleser in „Eine recht kurze Geschichte über den Hochmut“ das Mikrophon ab, um endgültig alle Kommunikation mit den Menschen abzubrechen, die zu dem Zeitpunkt schon größtenteils fluchtartig den Raum verlassen haben.
Aber tatsächlich erzählen die Künstlergeschichten in diesem Buch – auch die am Ende tragisch ausgehende in „Endlich tot“ – davon, dass Kunst nicht ohne Gegenüber funktioniert, nicht ohne Kommunikation. Was natürlich schwer ist in einer Gesellschaft, die die Stillen und Schüchternen systematisch ignoriert und Künstler eher nach ihren Skandalen und ihrem möglichst schlagzeilenträchtigen Tod beurteilt.
Der falsche kurze Ruhm
Das ist nämlich die andere Seite von Andy Warhols Fünf-Minuten-Ruhm: Dass er damit die Verwertungsmaschinerie eines Kunstmarktes beschrieb, der tatsächlich genau so funktioniert: die Eitlen und Ruhmsüchtigen belohnend. Und die anderen?
Die bleiben da in ihren kleinen Ruhrpottkneipen, bedauern sich selbst und stecken in einer Vergangenheit fest, die nie eingelöst wurde. Ja, das gibt es nicht nur im Ruhrpott. Das scheint ziemlich typisch zu sein für den aktuellen Zustand unserer Gesellschaft, die lieber sehenden Auges auf den Abgrund zurast, statt innezuhalten und mal wieder an die frische Luft zu gehen.
Und vor allem dieses ewige Selbstmitleid abzulegen, als wäre früher tatsächlich alles besser gewesen. Und als wäre die Welt tatsächlich so schroff Schwarz/Weiß: „Er bezog Stellung, immer, die Dinge waren entweder gut oder eben schlecht, aus seiner Sicht. Dagegen oder dafür war er …“
Das wird dem Burschen aus der Geschichte „An der Guillotine“ zugeschrieben, der nach acht Jahren erstmals wieder einen öffentlichen Auftritt inszeniert. Das sieht dann für Außenstehende wie Haltung und Selbstbewusstsein aus, auch wenn es bedrohlich wirkt. Denn spätestens an der Supermarktkasse merken dann auch andere, dass der Bursche kurz vorm Explodieren ist.
So gesehen ein typischer Zeitgenosse in einem Land, in dem so viele stolz sind auf ihr Schwarz/Weiß-Denken, diese Sag-mir-wo-du-stehst-Haltung, die aus längst vergangen Zeiten stammt und immerfort Parteinahme fordert, Einordnung und Unterordnung.
Das läuft zwangsläufig auf Schweigen, Griesgram und Einsamkeit hinaus, nicht auf das gemeinsam Gelebte, nach dem sich die Figuren in Munz’ Geschichten nur manchmal sehnen, nach diesem: Hätte, Wäre, Könnte, das immer nur in der Vergangenheit zu liegen scheint. Bis auf diesen Thorsten, der die Zerstörung der Guillotine zum Befreiungsschlag macht. Diesmal ohne Blut und Tote. Es geht. Aber dazu muss man den eigenen Käfig verlassen. Oder um im Bild der letzten Kurzgeschichte zu bleiben: den Affenkäfig.
Manchmal wird’s Zeit. Da muss man sich einfach mal trauen.
Ingo Munz An der Guillotine, Edition Outbird, Gera 2021, 18 Euro.
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