Wir leben ja in einer Zeit, in der sich scheinbar alles aufs Geld reduziert. Eigentlich noch schlimmer: auf Schuldverhältnisse. Kein Monat ohne irgendwelche Geldforderungen. Viele sind bis über beide Ohren verschuldet. Aber eigentlich denkt man nicht an Geld, wenn man sagt: Was schulden wir einander? Denn vor allen Geldverhältnissen ist da etwas Anderes, was in Zeiten des enthemmten Egoismus immer wieder vergessen wird.
„Wir leben zunehmend in ‚Du bist auf dich allein gestellt‘-Gesellschaften, eine Situation, die sich in politischer Wut, einer Epidemie psychischer Probleme und der Angst von Jung und Alt vor der Zukunft niederschlägt“, schreibt die Wirtschaftswissenschaftlerin Nemat (Minouche) Shafik im letzten Kapitel in diesem Buch, in dem sie versucht, einen neuen Gesellschaftsvertrag zu formulieren. Womit sie sich unter anderem auch auf Jean Jaques Rousseau und sein 1762 veröffentlichtes Buch „Vom Gesellschaftsvertrag oder den Prinzipien des Staatsrechts“ bezieht.
Wir alle sind der Staat
Gesellschaftsverträge sind Verträge, die niemand wirklich aufgeschrieben und unterschrieben hat und die trotzdem Grundlage all unserer gesellschaftlichen Beziehungen sind, die Begründungen für jedes Staatswesen und seine Verfasstheit. Eben all das, was wir – berechtigterweise – von einem Staat erwarten.
Einem Staat, der wir auch selbst sind, denn wir finanzieren ihn. Und zwar wir alle. Nicht nur die Reichen, die das Steuervermeiden so exzellent beherrschen und sich immer aufspielen, als wären sie die großen Gönner.
Sie merken schon: Das Thema ist emotional. Auch weil es verzerrt ist, von falschen Erzählungen übertüncht, mit denen uns eingeredet wird, der Staat sei zu aufgeblasen, verlange ungerechterweise Steuern und sei zu teuer, zu ineffizient. Ein Wort, das auch bei Minouche Shafik auftaucht, die nicht verleugnen kann, in welcher Welt sie Karriere gemacht hat. Was aber gerade die Stärke ihres Buches ist. Denn aus dieser Richtung hätte man eine solche Suche nach dem Gesellschaftsvertrag des 21. Jahrhunderts nicht erwartet.
Welche Grundlagen hat eigentlich unser Gemeinwesen?
Von 2011 bis 2014 war sie Stellvertretende Geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds. Von 2014 bis 2017 war sie Deputy Governor bei der Bank of England. Seit 2017 ist sie Direktorin der School of Economics and Political Science.
Alles Institutionen, die man eigentlich eher der Ökonomie und der Marktwirtschaft zurechnet. Und von denen man nicht wirklich erwartet, dass sie sich über die ethischen Grundlagen unserer Gesellschaft Gedanken machen. Gar im Sinne Rousseaus und seiner Zeitgenossen, die sich erstmals ernsthaft Gedanken darüber gemacht haben, wie menschliche Gesellschaften funktionieren und auf welcher Basis sie das eigentlich tun.
Manchmal deuten das die Verfassungen der Länder an. So wie die der USA, in deren Präambel es heißt: „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die Landesverteidigung zu sorgen, das allgemeine Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, setzen und begründen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika.“
Wie man sieht, geht es hier munter durcheinander. Aber das Wichtigste steckt in der Formel „das allgemeine Wohl zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren“. So prägnant ist der von Rousseau angedachte Gesellschaftsvertrag sonst nirgendwo formuliert worden. Auch wenn es heutige amerikanische Politiker nur zu gern vergessen, dass sich in einem Staat immer ein (ungeschriebener) Vertrag zwischen dem Volk (also uns allen) und denen niederschlägt, die unser Gemeinwesen in diesem Sinne verwalten sollen. Und zwar gut verwalten.
Wird unser Gemeinwesen gut verwaltet?
Wird unser Gemeinwesen gut verwaltet? Ganz unübersehbar nicht. Denn manifeste Armut selbst in den Wohlstandsgesellschaften des Westens, Bildungsungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit, Klima- und Umweltzerstörung, kaputte Wälder, überfischte Meere, Geschlechterungerechtigkeiten, Ausgrenzung, Vereinsamung und die Verödung ganzer Regionen erzählen vom Gegenteil: einer von Gier und Verantwortungslosigkeit befeuerten Ellenbogen-Gesellschaft, die enorme Reichtümer bei einigen Wenigen anhäuft, sich aber um die Schwachen in der Gesellschaft gar nicht oder nur schlecht und recht kümmert.
Weshalb sich der Hauptteil des Buches, das Minouche Shafik geschrieben hat, eher wie die frustrierende Bilanz einer Gegenwart liest, in der das Sorgen um das Allgemeine und Gemeinsame bestenfalls ein Flickenteppich ist, größtenteils eine Ansammlung von Ungerechtigkeit und Egoismus, verzerrt von einem Denken, das seit 40 Jahren die Politik dominiert. Welches Minouche Shafik auch benennt. Ihr ist aus ihrer Arbeit bei IWF und Bank of England sehr wohl bewusst, wie das neoliberale Denken die Grundlagen unserer Gesellschaft unterminiert hat.
„Doch seit den 1980er-Jahren gibt es die bemerkenswerte Entwicklung, dass die meisten Steuersysteme weltweit dazu tendieren, die Wohlhabenden weniger zu besteuern. Die Spitzensteuersätze sind seit der Reagan/Thatcher-Revolution der 1980er-Jahre in allen Industrie- und Entwicklungsländern stark gesunken.“
Die Lohnsteuern sind dafür überall gestiegen. Die Reichen haben sich der Steuerlast entledigt, die Arbeitenden zahlen dafür mehr. Was der Hauptgrund für die massive Umverteilung von unten nach oben ist. Und der Hauptgrund dafür, dass auch in den Staaten des Westens die Denkweise Einzug hielt, der Staat müsse effizienter werden, „schlanker“ und sparsamer. Man könne sich die ganzen „Wohltaten“ nicht mehr leisten.
Ein kaputtgespartes Gemeinwesen
Das Ergebnis sind genau die gesellschaftliche Rücksichtslosigkeit, Kälte und Vereinsamung, wie sie unsere westlichen Gesellschaften längst prägen. Und die Corona-Pandemie hat es auch für die englische Wissenschaftlerin unübersehbar gemacht, wie kaputt unser Gemeinwesen längst ist.
Das war (und ist) in Großbritannien nicht anders als in Deutschland: ein überlastetes (und unterfinanziertes) Gesundheitssystem, ein unterfinanziertes Bildungssystem (in dem die Kinder aus finanzschwachen Familien besonders leiden), Altersarmut, explodierende Arbeitslosigkeit in allen prekären Beschäftigungsbereichen, Familien, die im Lockdown allein dastanden und so weiter.
Shafik sieht die Hauptgründe zwar in der Technologie, der Überalterung und dem zusehends von prekärer Beschäftigung dominierten Arbeitsmarkt. Aber alles hat Gründe und Antreiber. Sie sind nur die Ergebnisse eines Denkens, das die Mitglieder unserer Gesellschaft mit ihren Sorgen immer mehr allein lässt und die Verantwortung für ihre Absicherung immer weiter privatisiert.
Und das, obwohl unsere Gesellschaft nur funktioniert, weil wir alle gemeinsam Werte und Reichtum schaffen, nicht nur die eingebildeten „Leistungsträger“. Auch das wurde in der Corona-Pandemie ja unübersehbar: Auf einmal standen die Reichen auf ihren Balkonen und klatschten für die überlasteten Pflegekräfte. Es darf auch für Müllmänner, Polizisten, Straßenbahnfahrer, Lehrer/-innen und all die anderen geklatscht werden, ohne die der Laden nicht läuft. Aber das ändert nichts daran, dass unser Gesellschaftsvertrag kaputt ist.
Vom wirtschaftlichen zum ethischen Denken
Einer, der sich sogar sehr klar durchdeklinieren lässt, was Minouche Shafik in sechs Kapiteln auch kenntnisreich und akribisch tut. Man muss nur die Überschriften der Kapitel nennen und sieht, dass es genau darum geht – um diese scheinbar so selbstverständlichen Dinge, die aber letztlich alles ausmachen, was wir als menschliche Gemeinschaft verstehen: Kinder, Bildung, Gesundheit, Arbeit, Alter und Generationen.
Generationen als Blick in die Zukunft und die Frage nach unserer Verantwortung, inwieweit wir uns auch für das Wohlergehen unserer Kinder, Enkel und Urenkel verantwortlich fühlen. Ob wir uns im neoliberalen Verständnis benehmen, als käme nach uns die Sintflut und das wäre uns egal, oder ob wir auch all den Menschen nach uns eine lebendige, reiche und lebenswerte Welt gönnen.
Ob wir also auch denken, dass wir den anderen Menschen um uns und nach uns etwas schulden. Genau an dieser Stelle wird das ökonomische Denken zu ethischem Denken und legt die Frage frei, die auch den so gern zitierten Adam Smith umtrieb: Warum wirtschaften wir eigentlich und für wen? Und welche moralische Verantwortung hat der wirtschaftende Mensch? Hat er eine?
Für wen wirtschaften wir eigentlich?
Ja. Auch Shafik kommt zu diesem Ergebnis. Denn wir sind abhängig voneinander. Und zwar alle, auch wenn einige so tun, als könnten sie darauf pfeifen, weil sie sich alles kaufen können. Und das wissen wir alle. Wir spüren es sogar. Und es lässt sich selbst in Umfragen bestätigen.
„Aber zu wenige realisieren, dass das Wohlbefinden der Bürgerinnen und Bürger doppelt so hohe Wahlerfolge einbringen kann wie die Verbesserung der Einkommen.“ Die „subjektive Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger“ trägt viel stärker zu Wahlerfolgen bei als „wirtschaftliche Messdaten wie BIP-Wachstum, Arbeitslosigkeit oder Inflation“.
Augenscheinlich aber schaffen es viele Parteien nicht mehr, dieses „subjektive Wohlbefinden“ zu stärken. Die Gründe fächert Shafik in den vorhergehenden Kapiteln recht detailliert auf. Nicht nur für die Wohlstandsgesellschaften des Nordens, sondern auch für die Entwicklungsländer, für Demokratien und andere Regierungsformen.
Denn die Aufgaben sind für alle Regierungen dieselben. Nur nutzen Autokraten ihre Macht eher dafür, den gesellschaftlichen Reichtum an sich zu bringen, während Demokraten in unterschiedlich starker Weise auch gezwungen sind, das Wohlergehen ihrer Bürger/-innen im Auge zu behalten.
Geld und Privatbesitz über dem Gemeinwohl
Denn in ihnen wird Regierungsverantwortung auch durch Wahlen legitimiert. Wer wiedergewählt werden möchte, sollte das Allgemeinwohl zumindest im Blick haben, auch wenn es heute nicht zuletzt durch die Folgen einer entfesselten Marktideologie selbst verzerrt ist.
Denn nicht nur leben die Bewohner der Wohlstandsgesellschaften immer länger, haben die betagten Wähler/-innen mehr Gewicht bei jeder Wahlentscheidung, auch die Reichtümer und Besitztümer häufen sich bei den Älteren. Währenddessen sind junge Menschen nicht nur mit unterschiedlichen Bildungschancen konfrontiert, sondern auch mit immer mehr prekären und unsicheren Beschäftigungen, schlechten Rahmenbedingungen für Familie und die Berufstätigkeit der Mütter.
Und quasi als Dreingabe auch noch explodierenden Mieten, die ihnen auch noch die Wohnungssuche in Arbeitsplatznähe erschweren, während sich in den Händen der wohlhabenden Älteren auch zunehmend der Besitz an Immobilien konzentriert.
Alles Ergebnisse eines marktliberalen Denkens, das Geld und Besitz über die wichtigsten Bedürfnisse der Gemeinschaft gestellt hat.
Wenn Egoismus zu Populismus wird
Die Bürger haben also sehr wohl ein Recht, ihre gewählten Regierungen für das Allgemeinwohl in die Pflicht zu nehmen, auch wenn das einige „liberale“ Parteien gern anders behaupten. Eine Argumentation, auf die ja auch Populisten nur zu gern aufspringen, die die Gesellschaft spalten in „Wir” und „Die”, in die, die scheinbar Rechte auf alles haben, und die, die ihnen diese Rechte streitig zu machen scheinen.
Reinster Sozialdarwinismus, der sich human gibt, obwohl er den gesellschaftlichen Zusammenhalt immer weiter zerstört. Und vor allem die Grundlage unseres Gemeinwohls.
Denn am Ende kann Shafik natürlich feststellen: „Wir schulden einander mehr. Ein großzügiger und inklusiver Gesellschaftsvertrag würde unsere gegenseitigen Abhängigkeiten anerkennen, allen ein Mindestmaß an Schutz bieten, einige Risiken kollektiv teilen und jeden auffordern, so viel und so lange wie möglich zum Gemeinwohl beizutragen. Es geht nicht darum, den Wohlstandsstaat auszuweiten, sondern darum, in die Menschen zu investieren und ein neues System der Risikoteilung zu errichten, um das allgemeine Wohlempfinden zu erhöhen.“
Das wieder hat mit gleichen Chancen für alle zu tun, gleichem Zugang zur gesundheitlichen Grundversorgung, gleichen Chancen am Arbeitsmarkt, einer Absicherung von Frauen, Kindern, Familien und der Vorsorge für eine lebenswerte Zukunft für alle. Wir sitzen alle im selben Boot. Und Shafik stellt sogar fest: „Wirtschaftsführende erkennen zunehmend an, dass der enge Fokus auf die kurzfristige Maximierung des Shareholder-Value zu Ungleichheit, stagnierender Produktivität, mangelnder Innovation und Umweltzerstörung geführt hat.“
Eine gewinnmaximierte, labile Welt
Das hat zwar den Aktieninhabern die Taschen gefüllt und oft genug auch noch die Konten in den Steueroasen. Doch das Ergebnis ist eine höchst anfällige Weltwirtschaft, in der eine Pandemie genügt, um ganze Produktionsstätten und ganze Lieferketten lahmzulegen.
Während die Staaten mit ihren Rettungspaketen weiter Riesenschulden für künftige Generationen aufgetürmt haben, zusätzlich zu unseren Schulden bei der Artenvielfalt, den Böden, den Meeren, dem Klima. Umweltschulden im realen Sinn, die sich nicht mit Geld begleichen lassen, die aber dramatische Folgen für das Leben der Nachkommenden haben werden.
All jener, um die wir uns eigentlich kümmern wollten und müssten.
Und was eigentlich im Gesellschaftsvertrag steht – und so gern ignoriert wird – fasst Shafik natürlich auch in einen Satz: „Beginnen wir mit dem Fundament – den garantierten Grundelementen eines menschenwürdigen Lebens, auf die jede Person Anspruch hat: Mindesteinkommen, Bildungsanspruch, medizinische Grundversorgung und Schutz vor Altersarmut.“
Wir alle wissen, dass das nicht einmal im reichen Deutschland garantiert wird, weil den Armen und Bedürftigen zutiefst misstraut wird. Misstraut aus sehr egoistischer Perspektive. Mit dem erwartbaren Ergebnis von zunehmendem Vertrauensverlust (auch in das Funktionieren der Demokratie), Neid und Unbehagen.
Denn dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in die Binsen geht, merken alle. Und nicht nur Ostdeutsche haben das dumme Gefühl, „Bürger 2. Klasse“ zu sein, also eben nicht die gleichen Rechte und Chancen und Teilhabemöglichkeiten zu haben wie andere.
Unsicherheit als tägliche Erfahrung
Und auch nicht dieselbe Sicherheit im Leben. Wobei das ein Punkt ist, der sich auch durch alle mittleren Einkommensgruppen frisst. Denn bereits der Verlust des Arbeitsplatzes kann bedeuten, dass man selbst das „Minimum für ein menschenwürdiges Leben“ verliert.
„Zu viele Risiken werden an der falschen Stelle getragen und könnten besser gehandhabt werden, wenn sie auf andere Weise zwischen Individuen, Familien, Arbeitgebenden und Staat verteilt werden“, schreibt Shafik.
Risiken, die oft erst staatlich erzwungen wurden, um den Druck auf die „Arbeitnehmenden“ zu erhöhen – mit dem Ergebnis eines riesigen prekären Beschäftigungssegments und jahrelanger ökonomischer Unsicherheit für junge Menschen. So treibt die Angst vor dem Absturz unsere Gesellschaft, frisst ihre Ressourcen und macht die Menschen einsam, verhindert Innovationen und Lebensträume.
Von den Schulden, die junge Menschen oft gezwungenermaßen anhäufen müssen, ganz zu schweigen. Eine ganze Gesellschaft verschleißt sich in der Angst davor, in einem Rattenrennen unter die Räder zu kommen. Einem Rennen, in dem man ständig anderen Leuten Geld schuldet, während die Sicherheit, auch bei einer Niederlage in diesem Kampf wenigstens noch menschenwürdig leben zu können, fehlt.
Hinter Shafiks Analyse wird eine Welt sichtbar, die ihre Mitglieder immerfort zu Schuldnern macht. Aber die tatsächliche Grundlage unserer Gesellschaft immerfort ignoriert, entwertet und verramscht. Weshalb wir auch so ziemlich verlernt haben, unsere Gesellschaft als ein Allgemeingut zu verstehen, das, was man so landläufig Solidargemeinschaft nennt, in der die Risiken auf allen Schultern verteilt werden und alle gemeinsam auch das tragen, was jede und jeder Einzelne braucht, wenn sie und er jung sind oder alt, arbeitslos oder krank.
Wer schafft eigentlich die Reichtümer?
So gesehen ist es schon erstaunlich, dass auch eine ökonomische Betrachtung unseres Gemeinwesens am Ende zwingend zu einem funktionierenden Gesellschaftsvertrag führt, in dem sich wiederfindet, was wir alle einander tatsächlich schulden. Allein schon deshalb, weil erst das ein Vertrauen in die Gemeinschaft schafft, ein Vertrauen auch ins eigene Leben und darein, im entscheidenden Moment nicht im Stich gelassen zu werden.
Und die Wahrheit ist: Wir alle tragen zu den Reichtümern bei, die genau diese Sicherheit schaffen können.
Dass es derzeit überall in den westlichen Gesellschaften rumort, hat mit dem Grundgefühl vieler Menschen zu tun, dass ihnen diese Sicherheit im Leben nicht (mehr) gegönnt wird, dass es unfair und ungerecht zugeht und dass unsere Gesellschaften auch nicht krisenfest sind.
Was sie auch nicht sein können, wenn die Ressourcen verscherbelt werden, die Reichtümer privatisiert und die Risiken immer den Schwächsten aufgeladen werden, die sich nicht wehren können.
Die ach so billigen Ressourcen
Es wird auch ohne ein faires Steuersystem nicht gehen, auch nicht ohne eine belastbare Besteuerung aller Umweltschäden. Was Shafik mit einem „neuen Gesellschaftsvertrag mit der Wirtschaft“ umreißt. Denn wenn wir die Wirtschaft nicht auch ökologisch in die Verantwortung nehmen, die weltweiten Subventionen für Umweltzerstörung nicht abschaffen und klimafreundliches Wirtschaften nicht endlich besser stellen, wird uns der Moloch, den wir selbst geschaffen haben, dennoch verschlingen.
Ein schönes Buch, das mitten aus dem Flickenteppich des aktuellen Gemeinwohls die Strukturen eines wirklich menschlichen Gesellschaftsvertrages zeichnet, auch wenn man sich erst einmal durch all die zum Teil sehr faulen Kompromisse der Gegenwart arbeitet, mit denen auch deutsche Regierungen versuchen, ein bisschen soziale Absicherung zu schaffen – aber gleichzeitig dem Wunsch der großen Bosse genügen möchten, auf das von Angst getriebene „Humankapital“ und das eh „kostenlose“ Naturkapital jederzeit billig zugreifen zu können.
Man ahnt erst, wie verzerrt unser Denken über Wirtschaft und Allgemeinwohl inzwischen ist. Und dass wir unsere Sichtweise dringend korrigieren müssen.
Minouche Shafik vermutet gar, dass wir dazu sogar gezwungen werden könnten, wenn all die durch das egoistische Denken aufgehäuften Krisen (Klima, Artenvielfalt, Digitalisierung, Finanzen, Demografie …) auf einmal über uns herfallen und uns ausknocken mitten im wilden Sparring der Eitelkeiten. Hingegen bleibt den Ãœberlebenden dann wohl wirklich nichts Anderes übrig, als einen wirklich ehrlichen Gesellschaftsvertrag aufzusetzen. Vielleicht sogar mal aufzuschreiben und zu beschließen.
Denn spätestens dann werden wir alle merken, dass wir alle aufeinander angewiesen sind – auch die großen Egoisten. Und dass wir aus dem Schlamassel sowieso nur gemeinsam herauskommen, als wirkliche Gemeinschaft von Menschen, die das Gemeinsame nicht mehr als riesigen Selbstbedienungsladen betrachtet, sondern als einzige Ressource, die uns ein Überleben in menschlicher Würde ermöglicht.
Minouche Shafik Was wir einander schulden, Ullstein, Berlin 2021, 22 Euro.
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