Eine Buchstadt im klassischen Sinne ist Leipzig ja nicht mehr. Aber die Stadt ist allemal noch ein Pflaster für junge Leute, die hier einen Verlag gründen möchten. Zu den jüngsten Gründungen in diesem Jahr gehört der Brimborium-Verlag, der im Leipziger Osten heimisch ist. Und wo auch Jan Lindner ein neues Zuhause gefunden hat. Hier erschien jetzt sein 2019 entstandenes erstes Drama: „Romeo und Julia: Reanimiert“.
Dass er die hohe Kunst beherrscht, auch den Stil klassischer Autoren aufzugreifen und in die Moderne fortzuschreiben, hat er schon mit einigen seiner Gedicht- und Prosaveröffentlichungen gezeigt. Sein Theaterstück „Romeo und Julia: Reanimiert“ ist bislang als Hörbuch und als E-Book erschienen. Jetzt also im Brimborium Verlag auch in gedruckter Form. Wenn also demnächst Leipziger Schüler/-innen ihre Deutschlehrer mit völlig anderen Monologen und Dialogen zwischen Romeo und Julia in Verwirrung bringen, dann ist Jan Lindner schuld.
Obwohl: Es ist eine schöne Schuld. Der Bursche, der seinerzeit das Original auf Englisch in die Welt setze, würde sich wahrscheinlich herzhaft freuen und verstanden fühlen. Denn “Romeo und Julia” ist ja auch bei Shakespeare ein Drama über die doppelte menschliche Blödheit. Es gibt noch einige andere ur-menschliche Dummheiten in dem Stück.
Aber die zwei wichtigsten bilden nun einmal das tragische Baugestell: die blutige Feindschaft zwischen zwei schweinereichen Familien, die unfähig sind, ihre Konflikte friedlich zu lösen, und die Blindheit zweier Liebender, die sich aus lauter Kommunikationsfehlschlägen am Ende sinnlos selber umbringen.
Wirklich verstanden habe ich den Ausgang nie. Und Romeo schon immer für einen ausgemachten Trottel gehalten. Aber Jan Lindner macht ja etwas sehr Spannendes: Er verlegt die ganze Geschichte in unsere Hipster-Gegenwart, lässt sie in einem Park beginnen, wo es zur ersten Prügelei kommt und zur Verabredung für das große Fest des Herrn Cabriolet, ein Fest, auf dem Romeo noch hofft, ein Mädchen namens Bernhardine zu treffen. Von der dann aber keine Rede mehr ist. Sie darf nicht mal mitspielen. Denn Romeo ist wankelmütig wie jeder von Hormonen durchwirbelte junge Mensch. Kaum erblickt er auf der Party die 13-jährige Tochter des reichen Herrn Cabriolet, ist er der neuen Angebeteten verfallen.
Unglaubhafte Versöhnung
Von Shakespeare wissen wir, dass es dann ja ganz fix ging. Ganze fünf Tage von der ersten Gefühlsaufwallung bis zum von traurigen Monologen begleiteten Hinscheiden der beiden jungen Menschen, deren Gene fortan für den Genpool der Menschheit verloren sind. Bei Shakespeare versöhnen sich dann die dummen Alten, weil der Doppeltod ihnen klarmacht, wie dämlich sie sich benommen haben.
Dass das in der Wirklichkeit so passiert, glaube ich aber schon lange nicht mehr. Auch nicht seit Schillers schönen Sätzen über die moralische Wirkung solcher Dramen. Denn: Da können die Capulets und Montagues im Publikum sitzen und sich hinterher die Tränen aus den Augen wischen. In der Realität werden sie ihr Verhalten nicht ändern. Auch nicht der Kinder wegen. Denn in dieser Familienfehde geht es ja von Anfang an um Macht, Geld und Einfluss. Es steckt schon eine ganze Menge von unserer auf Geld, Gier und Prahlsucht aufgebauten Gesellschaft in diesem Drama.
Es funktioniert also in der Gegenwart noch genauso. Auch wenn sich die Kinder der Cabriolets und Monumentagues wohl eher nicht beim Slacklining im Park treffen werden und dann prügeln, sondern eher auf den elitären Empfängen unserer Wohlersorgten und Naseerhobenen. Denn das hat sich nicht geändert seit dem 16. Jahrhundert: Dass sich die mit den goldenen Kreditkarten nicht dort tummeln, wo sich die Kinder aus den bildungsbenachteiligten Schichten tummeln.
Die Kommunikationsfalle
Und die Polizei, die Lindner mit stolzer Selbstherrlichkeit auftreten lässt, wird sich in den öffentlichen Raufereien der jungen Leute aus nicht so elitären Kreisen ganz bestimmt anders verhalten als bei Händeln in den besseren Kreisen. Nur so als Eindruck, was Lindners Reanimation in keiner Weise schmälert. Denn stilsicher gelingt es ihm, Shakespeares Gestalten ins 21. Jahrhundert zu holen, auch wenn es nach wie vor die Kinder aus gutem Hause sind.
Aber eben auch Kinder einer Zeit, in der man mit kleinen silbernen oder goldenen Geräten miteinander kommuniziert, die ja bekanntlich bestens geeignet sind, die Menschen in ein kommunikatives Wirrwarr zu stürzen, zu übereilten Handlungen zu treiben und vor allem Stimmungen erzeugen, die ruckzuck alle Situationen eskalieren lassen.
Eine fehlgeleitete SMS, ein falscher Click, ein Dutzend ungelesener Nachrichten, ein verfrühter Aufschrei: Was Shakespeare noch in stundenlangen Akten und ewig langen Monologen und Dialogen erklären und zum Brodeln bringen musste, das gelingt heute mit 140 Zeichen. Gern auch kürzer.
Und das ist brandgefährlich. Nicht nur für die Liebe. Wikipedia erinnert ja daran, dass „Romeo und Julia“ 200 Jahre lang fast immer nur in einer verkürzten Version gespielt wurde, die sich ganz auf das Drama zwischen den Liebenden konzentrierte: „Obwohl es von der Mitte des 18. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts das am häufigsten aufgeführte Drama Shakespeares war, wurde Romeo and Juliet nahezu 200 Jahre ausschließlich in Form von Adaptionen gespielt, die allesamt darauf abzielten, der ergreifenden Liebesgeschichte größeres Gewicht zu verleihen und die übrigen Momente zu reduzieren.“
Auch in Deutschland, wo jeder die geniale Übersetzung August Wilhelm Schlegels wenigstens schon mal gehört hat.
Jan Lindner: Romeo und Julia: Reanimiert. Balkonszene.
Wenn das Geld die Spielregeln bestimmt
So gesehen ist das Drama natürlich immer ein Volltreffer gewesen, weil e so schön dramatisch vormacht, wie schnell sich Liebende missverstehen können, wenn sie nur über Dritte kommunizieren und es nicht fertigbringen, miteinander Klartext zu reden, bevor die eine oder der andere im Sarg liegen. Das sorgt auch heute noch dafür, dass sich manche nicht finden. Oder die, die ohne einander nicht können, trotzdem zu Kurzschlusshandlungen greifen. So menschlich, so typisch.
Wäre da nicht die Geschichte dieser beiden reichen Familien, die sich benehmen, als würden die Regeln des friedlichen Zusammenlebens für sie nicht gelten, die sich Polizei und Bürgermeister kaufen können und auch das Recht, minderjährige Kinder zu kaufen oder zu verkaufen. So richtig behagte das auch Shakespeare nicht. Denn in seinem England zeichnete sich ja schon lange ab, dass für Leute, die mehr Geld im Kasten haben, andere Regeln zu gelten scheinen als für die, die sich nicht mal einen Rechtsanwalt leisten können.
Das wird in einem wirklich herrlich bösen Dialog des reichen Herrn Cabriolet mit dem eingebildeten Herrn Para-Graf deutlich, der nicht nur mit dem Bürgermeister verwandt ist, sondern auch weiß, dass man sich mit Geld alles kaufen kann – auch die Ehe mit einer Minderjährigen.
Und wer dann das liest, was in den Bühneninszenierungen von Shakespeares Drama meist weggelassen wird, der findet die bittere und sehr emotionale Kritrik an so einer Highsociety, die zu allen Zeiten sicher war, sich mit Geld alles kaufen zu können und das Recht biegen zu können, wie es dem reichen Schnösel gefällt. Was einer wie dieser Herr Para-Graf sieht – und sei es auch nur als Foto in den sozialen Medien – will er haben und kauft es sich einfach. Da wird auch Julias Vater nur zu bereitwillig zum Dealer.
Macht, Status, Geld und zweierlei Recht
Was ja im Klartext heißt: Eigentlich ist das Shakespeare-Drama im Kern eine bitterböse Kritik an einem gesellschaftlichen Zustand, in dem eine reiche Elite auch das Denken über Recht und Gerechtigkeit prägt. Eine Elite, die das Faustrecht und die blanke Gewalt für legitim hält, wenn es um die Durchsetzung ihrer Interessen geht.
Da habe ich jetzt aber was geschrieben. Aber es stimmt ja. Und es ist bis heute so, auch wenn es die meisten Menschen gar nicht mehr merken, wenn ihnen in allen Bereichen der Öffentlichkeit klargemacht wird, dass es immer um Macht, Status, Geld und Rücksichtslosigkeit geht. Und dass diejenigen, die ihr Geld dazu benutzen, ihre Interessen gegen alle Regeln durchzusetzen, in den meisten Fällen ungeschoren damit durchkommen. Selbst beim Missbrauch Minderjähriger war das ja lange Zeit so – bis die Missbrauchten und Verletzten anfingen, die social media auch mal dazu zu benutzen, die illustren Drecksäcke an den Pranger zu stellen.
Gerade weil Lindner das Drama mit sehr viel Sprach- und Wortwitz in die Gegenwart holt, merkt man erst, was für Zündstoff darin steckt. Und wie sehr dieses Verona des 16. Jahrhunderts unserer heutigen Welt gleicht. Bis hin zu diesem irrlichternden Pfarrer Lorenzo, der mit Drogen experimentiert und glaubt, das gesellschaftliche Probleme der beiden Liebenden mit einem Betäubungstrank lösen zu können. Und woher hat Romeo eigentlich das Giftfläschchen? Und Julia den Dolch?
Keine Versöhnung am Ende
Natürlich gibt es bei Lindner dann nicht die Versöhnungsszene, die noch bei Shakespeare steht. Die Liebenden sind hinüber, ausgehaucht die blühenden Leben – und das schlichtweg nur, weil beide unbedingt ein Zeichen setzen wollten, die ganz große Geste der romantischen Liebestragödie seit den alten Griechen. Motto: Dann seht ihr, was ihr davon habt. Ach, dieser gutmütige Glaube daran, herzergreifende Opferszenen würden irgendetwas ändern an der Rachlust, dem Geiz, der Ignoranz all derer, die sonst auch nur rücksichtslos ihre Interessen durchgesetzt haben.
Und dabei ist selbst in der Julia Shakespeares schon eine Rebellin angelegt. Das wird auch bei Lindner in den Szenen mit der Amme deutlich, die das Kind tatsächlich großgezogen hat und auch – in herrlichstem Sächsisch – betont, dass sie stolz darauf ist, dem Kind ein gewisses Selbstbewusstsein und einen (sächsischen) Eigensinn mitgegeben zu haben.
Was dann Julia zwar hilft, die unverhoffte Liebe ihres jungen Lebens auch schnellstmöglich zu heiraten, aber es hilft ihr eben leider nicht, die Zumutungen und falschen Liebesforderungen ihrer Eltern abzuwehren. Sie lässt sich von den verlogenen Argumenten der Mutter doch wieder breitschlagen, in die Heirat mit dem ihr völlig unbekannten Herrn Para-Graf zu willigen. Die Drohung der Mutter: Ihr das Smartphone wegzunehmen. Das ist hart.
Wenn das Handy erpressbar macht
Und der Leser stolpert natürlich: Kann es sein, dass das heute auch noch so funktionieren würde? Dass wir käuflich und erpressbar sind, wenn wir den Kontakt in die Netzwerke verlieren sollten und damit quasi verstummen in der (digitalen) Welt. Natürlich stimmt das: Die Herren Para-Grafen dieser riesigen Internet-Buden leben davon, dass wir abhängig und süchtig gemacht werden von ihren Plattformen. Und dass ein vor Liebe blinder Romeo – statt wieder unter Julias Balkon zu eilen und den Igel zu spielen – lieber auf die paar Fetzen Information vertraut, die er sich in blindem Eifer noch einmal aus dem Netz fischt.
Ein Vertrauen, das schon beängstigen darf. Von dem wir aber wissen, dass es viele, viele Mitmenschen haben. Nicht nur die, die dort auch noch auf jede Lüge und jede Verführung hereinfallen. So gesehen ist Lindners Adaption des alten Dramas auch eine neue Variante von „lost in communication“. Missverständnisse über Missverständnisse treiben die beiden Liebenden am Ende in den Tod.
Den zusätzlichen Druck bauen Julias Eltern auf, denen nichts lieber scheint, als ihr minderjähriges Kind an den reichern Para-Grafen zu verschachern. Wird man so gefühllos, wenn man seinen Status in fetten Besitztümern definiert?
Wahrscheinlich schon. Es ist genau jener Egoismus, den Michael Oertel benennt, der sich uns mit heiliger Fratze als Solidarität verkauft. Nur: Wer wirklich die ganzen Shakespeare-Stücke liest, weiß, dass diese Verstellung der Gierigen und Rücksichtslosen ganz und gar nicht neu ist, sondern selbst zu Zeiten von Königin Elisabeth I. ein nur zu bekanntes Phänomen. Dreistigkeit und Prahlsucht – die Essays von Shakespeares Zeitgenossen Francis Bacon sind genauso aktuell wie Shakespeares Dramen. Denn natürlich behandeln sie dieselbe Gesellschaft und ihr Denken über Recht und Gerechtigkeit.
Der Selbstbetrug einer von Geld regierten Gesellschaft
Im eingeblendeten Youtube-Clip sprechen Marie Sanders und Jan Lindner die Balkonszene aus Lindners „Romeo und Julia“. Aber meines Erachtens viel zu brav. Da liest sich schon der Text frecher, burschikoser, auch ausgelassener. Und man kann sich beim Lesen sehr gut vorstellen, dass das Stück einmal genau so, wie es hier ist, von jungen Schauspieler/innen aufgeführt wird. Denn wenn es etwas sehr gut herüberbringt, dann ist es die Aktualität der hier ineinander verflochtenen Probleme, die wahrscheinlich sogar mehr miteinander zu tun haben, als man so denkt. Denn der Selbstbetrug einer von Geld regierten Gesellschaft über die Ursache ihrer unlösbaren Konflikte hat eben auch eine Menge mit der desaströsen Kommunikation in den a-sozialen Medien zu tun.
Und natürlich auch mit Romeos Narretei, die Zukunft nur in Julias Augen sehen zu wollen (das Kind ist erst 13!), statt sich den Borniertheiten seiner eigenen Familie zu stellen, die sich mit den Cabriolets um die Macht in Verona balgt, als hätte man qua Reichtum einen selbstverständlichen Anspruch darauf. Das glauben diese Leute noch immer. Auch deshalb sieht unsere Welt so demoliert aus, wie sie aussieht. Und wenn ein reicher Schnösel mit Geld winkt, besäuft sich der Bürgermeister, singt die Polizei im Chor und das schöne Kind von 13 Jahren wird geschmückt für den Meistbietenden.
So hat Jan Lindner die beiden Liebenden also auch nur reanimiert, um sie am Ende genauso närrisch sterben zu lassen wie bei Shakespeare. Man hört die Schreie aus dem Publikum schon, wenn Julia sagt: „O was ist das da vorn für eine Flasche? / Und ei: Wer hat denn davon schon genippt …“
Nein, Julia, lass es!
Aber man kennt ja diese pubertierenden Kinder: Sie hören nicht zu, probieren alles aus. Und lassen sich auch von ihren verrückten Ideen nicht abbringen. Weshalb „Romeo und Julia“ eben auch lange als moralisches Warn-Drama für junge Leute inszeniert wurde. Wen interessiert da schon der klimpernde Hintergrund, wo die Cabriolets, Monumentagues und Para-Grafen ihre Dukaten zählen. Während sich die edlen Herren vorn auf der Bühne mit Prügel-Apps traktieren und niederschlagen.
Es ist das digitale Faustrecht von heute, das ebenfalls Eingang gefunden hat in Lindners Version der alten Geschichte. Als würden sich viele Leute danach zurücksehnen, sich auf nächtlich dunklen Straßen wieder gegenseitig die Schädel einzuschlagen.
Wir lernen augenscheinlich schwer dazu. Trotz all der schönen Shakespeare-Dramen, aus denen dann meistens herausgestrichen wird, was den Schönen und Prächtigen in den ersten Theaterreihen missfallen könnte. Und wer will schon missfallen, wenn diese Leute einen direkten Draht zum Bürgermeister haben?
Womit wir fast schon im nächsten Shakespeare-Drama wären. Der Kerl ist so aktuell, dass das, was Jan Lindner hier gemacht hat, einfach überfällig war.
Jan Lindner Romeo und Julia: Reanimiert, Brimborium Verlag, Leipzig 2021, 12 Euro.
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