Im Untertitel verspricht das Buch zwar „Bitterböse Krimis aus dem Märchenland“. Aber man sollte nicht das übliche Hollywood-Märchenland erwarten. Und auch nicht unbedingt lauter tapfere Prinzen und wunderschöne Prinzessinnen. Auch keine sieben Berge und verwunschenen Schlösser. Denn wenn Krimi-Autor/-innen eines wissen, dann das: Was die Märchen wirklich erzählen, zeigt die finsteren Abgründe in Menschen, wie sie wirklich sind.
Kein Wunder, dass die meisten der 14 Autor/-innen ihre Mordsmärchen gleich in der Gegenwart spielen lassen und auf Wunderdinge, die in den alten Grimmschen Märchen noch so eine wichtige Rolle spielten, weitgehend verzichten. Die lenken nur ab. Kinder wissen das. Erwachsene vergessen es nur zu leicht, weil sie nur zu gern glauben, dass die Welt besser wird, wenn man nur genug technologische Wunderzeuge besitzt. Das macht blind und dumm.Denn die Menschen selbst haben sich ja nicht geändert. Und die Verhältnisse auch nicht. Was die Bremer Stadtmusikanten einst mit tröstlichem Ausgang erlebten, erleben auch die Bochumer Stadtmusikanten, die Reinhard Junge einen kurzen Ruhm erleben lässt.
Denn natürlich kann man noch immer berühmt werden, wenn man als armer Hund gegen die Reichen, Rücksichtslosen und Gierigen Musik macht. Nur endet dieses Märchen ganz und gar nicht glücklich. Denn nicht nur in Bochum lernt man ziemlich schnell, dass man ziemlich schutzlos ist, wenn man nicht reich ist und keine Macht und keinen Einfluss hat.
Du sollst nicht merken, wie grausam sie sind
Gier, Rachsucht, Bosheit, sexuelle Gewalt – wer aufmerksam liest, findet sie alle in den Märchen der Grimms, die leider in den meisten Kinderzimmern nicht im Original stehen, sondern in verkitschten „Fassungen für Kinder“. Denn das haben etliche Verleger durchaus gemerkt: Dass die originalen Märchen sehr grausam sein können.
Und auch Eltern glauben, sie könnten und müssten die Kinder vor dieser Konfrontation mit der Grausamkeit der Welt bewahren. Obwohl genau das einmal die Intention der Märchen war: Kinder darauf vorzubereiten, dass die Welt kein Märchenland ist und dass Menschen zu den größten Gemeinheiten, Grausamkeiten und Bosheiten fähig sind. Nicht alle. Denn das ist ja die Wahl all der Heldinnen und Helden aus den Märchen. Niemand muss böse werden. Aber man sollte zumindest eine Ahnung davon haben, was einen das draußen unter Menschen erwartet.
Da stricken falsche Freundinnen Intrigen (wie in „König & Drosselbart“), endet die Gier verwöhnter Kinder mit einer Strafe, die sie sich selbst eingebrockt haben („Bambi muss sterben“), rächt sich das missbrauchte Kind am übergriffigen Vater („Geliebte Tochter“) oder scheitert Kommissar Grimm daran, Frau Holle und Pechmarie die Schuld am Tod der anderen Marie nachzuweisen („Das Verhör“).
Nur um einmal die ersten vier Geschichten kurz anzutippen, die allesamt in der Gegenwart spielen und moralische Fragen aufwerfen, die unsere ganze moderne Zivilisation von Anfang an begleiten.
Der falsche Traum vom Tischlein, deck dich
Man vergisst es ja viel zu leicht, dass die Märchen, wie wir sie seit den großen Sammlungen Anfang des 19. Jahrhunderts kennen, auch gleichzeitig moderne Märchen sind. Viele reflektieren die eigentlich unaushaltbaren Triebkräfte genau jener vom Geld angetriebenen Gesellschaft, in der wir heute noch genauso feststecken wie Jakob und Wilhelm Grimm.
Egal, ob es das Märchen vom Goldesel, Tischlein, deck dich und Knüppel aus dem Sack ist, mit dem die Berliner Autorin Martina Arnold spielt, oder das von der goldenen Gans, das Angela Temming motivisch aufgreift. Es steckt in Franziska Steinhauers Variante des tapferen Schneiderleins genauso wie in Uschi Gasslers Adaption der „Drei Hunde“.
Und selbst wenn ein Geschichtenerzähler wie Björn Götze das Märchen von der Prinzessin auf der Erbse tatsächlich im Mittelalter spielen lässt, verhalten sich seine Figuren wie gefühlskalte Menschen aus unserer Gegenwart, denen die hohen moralischen Maßstäbe der Märchen völlig egal sind.
Denn in fast jeder Geschichte dringt auch die Erkenntnis durch, die auch sonst in den Kriminalerzählungen vieler der hier Beteiligten der tragende Grund ist: Dass es nicht nur die tatsächlich vor Gericht landenden Täter sind, die kriminell denken und handeln. Dazu schützt unsere Gesellschaft viele übergriffige Täter nach wie vor, ohne dass sie jemals eine gerechte Strafe bekommen.
Was etwa Matthias Ramtke in seiner Adaption des Mädchens mit den Schwefelhölzchen thematisiert. Aber auch in Uwe Wittenfelds „Der Meisterdieb“ wird das angedeutet. Wo endet die Fähigkeit von Recht und Gesetz, den wirklich Kriminellen das Handwerk zu legen? Und wo schützen sie sogar jene Leute, die eiskalt über Leichen gehen, weil sie dafür in einer von Geld regierten Welt belohnt werden?
Wenn Geld und Gier die gesellschaftlichen Maßstäbe sind
Die Autor/-innen kommen ja quasi aus allen vier Himmelsrichtungen Deutschlands und haben hier thematisch eine durchaus frappierende Gemeinschaftsleistung vorgelegt, in der so manche auch durchblicken lässt, dass sich Kriminalautor/-innen von Natur aus mit den Armen und Schwachen identifizieren.
Was den modernen Krimi wahrscheinlich tatsächlich zur wirklichen modernen Form des klassischen Märchens macht, auch wenn nicht immer Polizisten die edlen Helden sind, die den bösen Drachen zur Strecke bringen.
In den meisten Fällen ergreifen hier eher waffenlose Zeitgenoss/-innen die Initiative, nicht immer ganz freiwillig und auch nicht immer ganz unblutig. Aber genau das war ja immer das Hauptmotiv auch in den klassischen Märchen, die ihre jungen Zuhörer/-innen immer dazu ermutigten, das eigene Glück selbst in die Hände zu nehmen, sich nicht alles gefallen zu lassen und sich lieber mit jenen zu solidarisieren, die es im Leben genauso schwer haben.
Denn die anderen, die alles haben und besitzen, die haben in der Regel auch Gesetz, Polizei und Justiz auf ihrer Seite. Und meistens auch das, was man so lapidar die „öffentliche Meinung“ nennt, die in der Regel die erwünsche Meinung ist. Denn an den Heiligtümern dieser Welt sollen die Aschenputtel, Stadtmusikanten, Hänsel und Gretel ja nicht rühren. Dann passiert ihnen nämlich etwas Schreckliches. Sollten uns die alten Märchen davor warnen und uns einschüchtern? Oder war die Intension gerade das Gegenteil?
Du hast die Wahl: Du musst kein böser Mensch werden
Das war vielleicht gar nicht ihr Sinn und auch nicht das, was die so emsig erzählenden Großmütter in hessischen Winternächten beabsichtigten, als sie den Kindern auch die grausamen Varianten der Märchen erzählten.
Denn schon das ist ja bis heute subversiv: Dass Kindern in eindrucksvollen Exempeln erzählt wird, dass die Welt nicht gut und liebevoll ist. Und dass eine rabiate Macht- und Ellenbogengesellschaft immer das Finsterste und Rücksichstloseste in den Menschen befördert, die merken, dass sie mit Rücksichtslosigkeit alles erreichen.
Nur eines nicht: wirkliches menschliches Vertrauen, wirkliche Liebe schon gar nicht. Nur lauter Neid und Talmi.
Und wenn wir ehrlich sind: Genau so sieht unsere Gesellschaft aus. Der Stoff wird den Krimi-Autor/-innen in Ost und West, Nord und Süd nicht ausgehen. Das Geld schon eher, denn für gewöhnlich sind sie der Welt der Bremer und Bochumer Stadtmusikanten näher als der im goldenen Auto durch die Landschaft bretternden neuen Fürstlichkeiten, die noch längst genauso verachtungsvoll auf die armen Hänse herunterschauen, die es einfach zu nichts bringen, weil sie so treudoof und ehrlich sind und auch noch glauben, dass man mit Fleiß und Arbeit zu etwas kommt.
Da genügt nur weniges, um die alten Märchen in heutigen Konstellationen wieder aufleben zu lassen. Ohne all die niedlichen Zutaten, die nicht mal Kinder darin täuschen können, dass alle diese Geschichten von einer Welt erzählen, in der das Böse meist in Schönheit, Glanz und Glamour daherkommt und so tut, als wäre es lieb, gut und ehrlich.
Wer also keine Lust auf verklärten Weihnachtszinnober hat – hier ist man richtig.
Andreas M. Sturm Mordsmärchen, Ruhrkrimi-Verlag, Mühlheim / Ruhr 2021, 13 Euro.
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