1850, da regierte in Leipzig noch ein Bürgermeister namens Karl Wilhelm Otto Koch. Oder besser: Er kam gerade ins Amt und wurde damit der Leipziger Bürgermeister, der in seinen 26 Jahren an der Spitze miterlebte, wie aus der kleinen Messestadt eine Großstadt und Industriestadt wurde. Er war der Erste, der sich Oberbürgermeister hätte nennen dürfen. Aber er wollte nicht. Und Alberto Schwarz zeigt mit diesem Buch, wie das Leipzig aussah, als Koch sein Amt antrat.

In Kochs Amtszeit wuchs die Leipziger Einwohnerzahl von 63.824 auf 127.387. Hinter der Moritzbastei setzten die Leipziger ihm ein Denkmal. Und so ganz zufällig ist auch die Kochstraße nicht nach ihm benannt, denn unter seiner Regie begann der Ausbau der Vorstädte zu großstädtischen Quartieren. Denn was bis dahin an Vorstädten entstanden war, bewegte sich noch im Rahmen einer eher gemütlichen Kleinstadt.Marienvorstadt, Friedrichstadt und Petersvorstadt hießen diese Vorstädte, die in den amtlichen Bezeichnungen der Gegenwart völlig verschwunden sind. Dass die Petersvorstadt den größten Teil des gesichtslosen Stadtteils Zentrum-Süd einnimmt – vergessen.

Die Geschichte der Großstadtwerdung Leipzigs ist auch eine Geschichte der zunehmenden Anonymität. Es ist kein Wunder, dass schon die Leipziger/-innen des späten 19. Jahrhunderts diese Stadt als das „alte Leipzig“ empfanden und so auch in Bildern und auf Postkarten bezeichneten.

Alberto Schwarz geht in seinem nunmehr zweiten großen Bilder-Buch zum historischen Leipzig auch auf diesen Aspekt des schnellen Vergessens ein. Wenn die großen Bauprojekte beginnen, ist oft das Entsetzen erst einmal groß, kann sich kaum einer vorstellen, was daraus einmal werden soll. Man fürchtet um das Gesicht und die Schönheit der Stadt. Oft zu Recht.

Zum Glück gab es Künstler wie Eltzner

Aber wenn die alten Bebauungen erst einmal verschwunden sind und die neuen Kaufhäuser, Messepaläste und Bankhäuser stehen, zeigt sich dieselbe Bürgerschaft bannig stolz auf das Erreichte, rühmt die Stadt, wie sie jetzt ist und hat oft binnen weniger Jahre vergessen, wie dunkel, ungepflegt, abgerissen und verrufen die Stadt an einigen Stellen einmal war. Man malt sich die Vergangenheit schön, romantisiert sie regelrecht. Das ist auch mit Leipzig so passiert.

Dabei hatte Leipzig Glück, wie der langjährige Denkmalpfleger Alberto Schwarz und Dr. Anselm Hartinger, der Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums, unisono feststellen: Weil die Stadt seit 200 Jahren Zentrum der deutschen Buchproduktion und des Druckgewerbes war, waren hier auch jede Menge Leute emsig dabei, Bücher, Karten und Stadtansichten zu produzieren, anhand derer sich der rasante Wandel der Stadt im 19. Jahrhundert sehr gut nachvollziehen lässt.

Zentral dabei ist hier der Künstler Christian Adolf Eltzner, der gerade diese unter Koch prosperierende Stadt in immer neuen Karten darstellte, in denen er die Gebäude und Straßen aus der Vogelperspektive zeigte, ganz so, als wäre er mit dem Ballon immer wieder übers Stadtgebiet geflogen.

Ob er überhaupt jemals mit einem Ballon geflogen ist, lässt sich nicht nachweisen, stellt Alberto Schwarz fest, der auf Eltzners Stadtansichten in diesem Band immer wieder zurückgreift, um einerseits die Veränderungen sichtbar zu machen, die für die damaligen Leipziger/-innen durchaus umwerfend und beeindruckend gewesen sein müssen, um andererseits auch im Detail lauter Dinge zu zeigen, die man im heutigen Stadtbild nicht mehr sehen kann.

Sei es der Kanonenteich, sei es der Floßplatz, sei es das Universitätsquartier oder die Gegend um den Matthäikirchhof/Neukirchhof, dessen ursprüngliche Gestalt man hier noch einmal sehen kann. Etwas für all jene, die sich Gedanken darüber machen, wie der Matthäikirchhof wieder zu einem lebendigen Stadtquartier werden kann.

Zeitzer Straße Nummer 9

Barfußpforte und Geisterpförtchen dürften auch den meisten heute lebenden Leipzigern kein Begriff sein. Seine Werkstatt hatte Eltzner übrigens in der Zeitzer Straße 9, die man auf heutigen Karten natürlich vergebens sucht, weil sie wieder zum Peterssteinweg rückbenannt wurde. Auf Seite 159 beginnt das Kapitzel auch zur Zeitzer Straße, die damals noch von „Storchnest“, Römischem Haus und „Grüner Linde“ geprägt war.

Und über die Kleine Burggasse kam man zum Pleißemühlgraben und den beiden Wasserkünsten, über die Leipzig immer noch mit Wasser versorgt wurde.

Und was Eltzner akribisch aus der Draufsicht zeichnete, malten seinerzeit begabte Künstler wie Anton Lewy oder Friedrich Wilhelm Heine aus der Fußgängerperspektive, sodass wir heute noch einen sehr realistischen Eindruck von dieser Stadt gewinnen können, in der der Ausbau von Trinkwasserversorgung und Kanalisation gerade in den Kinderschuhen steckte, gerade erst die Öllampenbeleuchtung durch die erste Gasbeleuchtung ersetzt wurde und Fußgänger und Pferdefuhrwerke das Stadtbild bestimmten. Keine Autos, keine Straßenbahn.

Indem Alberto Schwarz in diesem Buch den Fokus auf das Jahr 1850 richtet, lässt er die Bilder – die fast alle heute im Stadtgeschichtlichen Museum auch digital verfügbar sind – auch die ökonomische Geschichte der Zeit erzählen. Die Geschichte einer Stadt, in der die bestimmenden Strukturen über 800 Jahre gewachsen waren, die Stadt sich den Gewässern angepasst hatte, die drei großen Mühlen noch voll in Funktion waren, das Georgenhaus noch stand und große Teile der alten Stadtgräben noch existierten.

Die Pleißenburg war noch Kaserne und mit dem Umbau der alten Barockgärten im Überschwemmungsgebiet westlich der Stadt in neue Wohnquartiere hatte Karl Heine gerade erst begonnen.

Dafür standen die drei ersten Bahnhöfe schon, eigentlich die Vorboten all dessen, was Leipzig jetzt als Industrialisierung und Modernisierung erleben würde. Und das spürten die Bewohner auch so. In den zitierbaren Büchern zum damaligen Stadtbild wurde das durchaus thematisiert, wie sehr die Leipziger mit dem Dampfross auch die kommende neue Zeit des Industriezeitalters verbanden, auch wenn rauchende Schlote 1850 im Stadtbild noch eine Seltenheit waren.

Leipzig in Farbe und 3D

Noch stand damals selbst in Teilen der Innenstadt so manches kleine und ärmlich wirkende Haus, das auch die Zeitgenossen an die mittelalterliche Vergangenheit Leipzigs erinnerte. Selbst Teile der Stadtmauer waren noch zu sehen. Auch auf den Panorama-Ansichten, die Christian Adolf Eltzner 1847 für den Verlag Pietro del Vecchio anfertigte und die auch im Band „Panorama des Leipziger Rings 1850/2015“ von Jörg Dietrich verwendet wurden – da freilich noch mit der Annahme, der Künstler sei unbekannt.

Wahrscheinlich wird es wirklich einmal Zeit, dass jemand sich auch einmal intensiver der Biografie von Eltzner widmet. Denn ohne ihn und seine Künstlerkollegen hätten wir schlicht kein wirklichkeitsnahes Bild dieser Stadt, auch wenn schon wenig später die ersten Fotografien auch mit Leipziger Stadtansichten entstanden. Aber bekanntlich alle in Schwarz/Weiß. Die Farbigkeit der Stadt bekommt man nur in den kolorierten Stichen und den stimmungsvollen Gemälden zu sehen.

Die aber – beim Blättern im Buch kann man es sehen – erstaunlich detailreich sind. Die Künstler nahmen sich wirklich noch richtig Zeit, um Häuser und Straßen möglichst genau zu zeichnen. Man könnte sich tatsächlich direkt hineinzoomen in Eltzners Draufsichten. Und so ungefähr hat das Alberto Schwarz auch gemacht, der in diesem Band etliche Bilder zeigt, die so in den jüngeren Publikationen zur Stadtgeschichte nicht zu sehen waren.

Und in den Begleittexten geht er dann sehr detailreich auf die einzelnen Gebäude ein, ihre Besonderheiten und ihre damaligen Eigentümer. Da darf es sogar schon mal richtig nach Stall und Misthaufen riechen, denn in den Vorstädten gab es noch etliche Vorwerke, Landwirtschafts-Ökonomien und jede Menge Gasthäuser mit Pferdeställen.

In der Pleiße badeten nicht nur die Leipziger/-innen, sondern auch die vielen hundert Pferde, die damals auch in der Innenstadt anzutreffen waren. Esel wohl auch. Und wer die tatsächliche Herkunft des Namens Eselsplatz noch nicht kannte, erfährt sie hier. Und nicht ganz grundlos lässt Schwarz auch an einigen Stellen seine Ratlosigkeit durchblitzen, warum die Leipziger viele der sprechenden Straßen- und Platznamen von damals ausradiert haben, weil sie ihnen irgendwie zu anrüchig oder nicht weltstädtisch genug waren.

Verschwundene Straßen

Aber mit dieser Rundreise – erst durch die alte Stadt, die wir heute als Innenstadt verstehen, dann um den noch ganz und gar nicht zur Autobahn ausgebauten Promenadenring und dann in die damals existierenden Vorstädte – zeigt Alberto Schwarz ja, dass sprechende Straßennamen eben auch jede Menge Ortsgeschichte erzählen.

Geschichte, die natürlich verschwindet, wenn erst die alte Bebauung abgerissen ist und dann auch noch der alte Name entfernt wird. Die Straße An der Wasserkunst ist ebenso verschwunden wie der Kautz und das Klitzschergäßchen.

Natürlich wirkt so manches an den alten Bildern gemütlich, fast zu bieder, selbst die auf den Schneckenberg spazierenden Bürger oder die stolzen Insassen der Kaleschen. Aber andererseits zeigen die Bilder auch eine Stadt, in der die klassizistischen Bauten eines Albert Geutebrück und eines Eduard Pötzsch das Modernste darstellten, was man damals baute, was ja trotzdem die quasi letzte klassische Architekturepoche war, bevor der viel geschmähte Historismus mitsamt dem industriellen Aufschwung die Stadt regelrecht umkrempelte und nur ganz wenig von dem übrig ließ, was auf diesen Bildern noch zusehen ist.

Die unendliche Liebe zum Detail

Alberto Schwarz lädt hier zu einer richtigen Zeitreise ein in jenes Leipzig, dem der große Sprung ins Industriezeitalter noch bevorstand. Das sich zu Fuß oder zu Pferd fortbewegte und die radikale Zeitverkürzung mit der Eisenbahn nach Dresden als echten Quantensprung empfand. Da und dort ahnte so mancher, wohin das noch gehen könnte.

Aber die meisten lebten ein durchaus noch im Fußmarschtempo machbares Leben, auch der Grafiker Eltzner, dessen Können man erst so richtig würdigen kann, wenn man weiß, dass er keine Drohnen, kein Google Maps und keinen Fotoapparat zur Verfügung hatte. Nur jede Menge Zeit, um alles so detailgetreu aufzunehmen, wie ihm das mit den messtechnischen und zeichnerischen Möglichkeiten der Zeit möglich war.

Da und dort auch mal fröhlich in der Perspektive verzerrt, damit die Betrachter auch mal tiefer hineinschauen können in Straßen, die eigentlich bis heute davon erzählen, dass es in Leipzig über Jahrhunderte doch eher beengt zuging und viele der Hofverbindungen quer durch die Quartiere wohl vor allem deshalb entstanden, weil spätestens zu Messezeiten auf den großen Straßen kein Durchkommen mehr war.

Kein Wunder also auch, dass die Leipziger bei gutem Wetter auf den Promenadenring strömten, auch wenn der ungepflastert und wohl auch recht schlammig war. Dafür war dort Platz und Luft und Licht und viele der reichen Leipziger bauten sich dort ihre ersten prachtvollen Wohn- und Geschäftshäuser. Man hat also auch sehr konkret jenes Leipzig vor sich, das sich endgültig aus seinem schon größtenteils niedergelegten Mauerring befreite und sich Platz verschaffte.

Und was in den Augen der Neuerer als für zu alt und zu klein und zu schäbig empfunden wurde, verschwand. In einer Geschwindigkeit, die selbst aus heutiger Perspektive verblüfft. Vielleicht aber auch nicht. Denn wie schnell so etwas gehen kann, wissen zumindest die etwas Älteren, die das heruntergewirtschaftete Leipzig von 1990 noch kennen und die Atemlosigkeit jener Jahre, die mancher als „Boomtown“-Jahre noch in Erinnerung hat.

Alberto Schwarz Leipzig um 1850, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2021, 29,80 Euro.

Bereits erschienene Zeitreisen auf L-IZ.de

Der Leipziger Osten im Jahr 1886

Der Leipziger Westen im Jahr 1886

Westlich von Leipzig 1891

Leipzig am Vorabend des I. Weltkrieges 1914

Einblicke in die Jüdische Geschichte Leipzigs 1880 bis 1938

Der I. Weltkrieg – Leipzig im letzten Kriegsjahr 1918

Leipzig in den „Goldenen 20ern“

Leipzig im Jahr 1932

Alle Zeitreisen auf einen Blick

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