Darf man das eigentlich fragen? Woher? Wohin? Wahrscheinlich nicht, wenn man mit der Tür ins Haus fällt. Ihre Geschichten erzählen Menschen in der Regel erst, wenn es ein Vertrauen gibt, das gegenseitige Gefühl, dass man sich respektiert und vor allem auch interessiert. Dann kann man – wie Ekkehardt Oehmichen – losgehen und sich die Geschichten von Menschen erzählen lassen, die in Sachsen Zuflucht und Heimat gefunden haben. Genauer: im 14.000-Einwohner-Städtchen Frankenberg in der Nähe von Chemnitz.
Oehmichen selbst ist Medienforscher und -berater, Buchautor und selbst ein Zugezogener, wie man so schön sagt. Grenzgänger zwischen Ost und West, lange in Frankfurt/Main und Hamburg wohnhaft, nun im kleinen Frankenberg in Sachsen. Das ist das kleine Städtchen, das 2021 mit dem Wunsch in die Schlagzeilen kam, unbedingt den Zusatz „Garnisonsstadt“ führen zu dürfen.2015, als Deutschland so viele Flüchtlinge aufnahm wie kein anderes Land in der EU, stand Frankenberg weniger im Fokus als andere sächsische Kleinstädte, in denen wütende Bürger gegen die Zufluchtsuchenden protestierten und Asylunterkünfte attackierten. Was seither schon von vielen Seiten her analysiert wurde. Aber Oehmichen halt wohl recht, wenn er im Nachwort dieser Ereignisse mit der Tatsache in Verbindung bringt, dass die meisten Sachsen bis 2015 nie wirklich mit Migranten zu tun hatten.
Wer aber „Fremde“ nicht im Alltag erlebt und ihnen auf der Arbeit, beim Einkauf, in der Freizeit und Nachbarschaft regelmäßig begegnet, reagiert durchaus irrational – aber eben auch menschlich, wie Oehmichen aus eigener Erfahrung weiß als Kind einer Familie, die in den 1950er Jahren in den Westen ging und dort ebenso erlebte, wie man als „Fremde“ geschnitten und ausgegrenzt wird.
Auch Sachsen ist längst Einwanderungsland
„Dabei ist es ein Unterschied, ob Einheimische über Jahrzehnte die Erfahrung mit Menschen ausländischer Herkunft machen konnten, wie in Westdeutschland, oder ob diese Erfahrungen gar nicht oder nur am Rande stattfinden konnten, wie in Ostdeutschland“, schreibt er. Eine Erfahrung, die man zwar in Großstädten wie Leipzig machen konnte, aber in den ländlichen Regionen Sachsens so gut wie gar nicht.
So betrachtet, war das Jahr 2015 auch ein verspäteter Kulturschock für viele Sachsen, emsig missbraucht von rechtsradikalen Scharfmachern. Aber seit 25 Jahren eigentlich überfällig, auch wenn selbst westdeutsche Politiker herumdrucksen und ewig nicht zugeben wollten, dass Deutschland ein Zuwanderungsland ist. Und sogar sein muss. Denn ohne den stetigen Zustrom ausländischer Arbeitskräfte würde die deutsche Wirtschaft schon lange nicht mehr funktionieren.
Und auch in Sachsen gibt es längst die Phänomene eines allgegenwärtigen Fachkräftemangels. All die Menschen, die aus den verschiedensten Gründen in Sachsen einen Neuanfang suchen, werden gebraucht, würden auch nur zu gern auch sofort arbeiten, wenn sie denn nur dürften.
Doch immer wieder erfährt Oehmichen bei den Gesprächen mit den Menschen, die ihm ihre Geschichten und ihre Wohnung öffnen, dass gerade die Menschen, die vor Krieg und Bürgerkrieg geflohen sind, immer auf gepackten Koffern sitzen. Nicht, weil sie nicht bleiben wollten. Ihre Heimat ist in der Regel verwüstet, zerbombt wie in Syrien, von Gewalt verheert wie Afghanistan.
Doch ihnen werden immer wieder nur befristete Duldungen gewährt. Die deutschen Ausländerbehörden setzen all die Gesetze mit bürokratischer Sturheit um, die deutsche Politiker seit 1992 erlassen haben, um dem rechtsradikalen Rand unserer Gesellschaft zu signalisieren, dass man das Asylrecht so scharf handhabt, dass nur ja keiner dableiben darf, der vielleicht „nur“ aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kam.
Was für eine Farce. Was für eine Lüge. Selbst dann, wenn Menschen aus Hunger und Not kommen und nicht verzweifelt in morschen Booten übers Meer, verjagt von entfesselten Diktatoren: Es ist nur eine dumme, leere Phrase, mit der sich kleine Populisten einreden, wirtschaftliche Gründe für eine Flucht wären inakzeptabel. Als wären zerstörte Existenzen und zerbombte Wohnungen kein richtiger Grund, ausgerechnet nach Deutschland zu fliehen.
Wenn das Fußfassen extra schwer gemacht wird
Man schluckt jedes Mal, wenn die von Oehmichen Interviewten auf die Handhabung des deutschen Asylrechts zu sprechen kommen und die Schwierigkeiten, die ihnen sächsische Ausländerbehörden in den Weg legen, wenn es um die Anerkennung von Berufsabschlüssen, um Arbeitsgenehmigungen und Aufenthaltsrechte geht. Dabei erzählen sie alle Geschichten davon, wie sie sich bemühen, auf eigene Füße zu kommen, sich und ihre Familie mit eigener Hände Arbeit zu ernähren.
Frankenberg ist eigentlich nur ein Beispiel. Es sieht so überall in Sachsen aus. Es ist auch ein Beispiel dafür, wie sich eine kleine Stadt zusehends mit den „Fremden“ arrangiert. Man lernt sich kennen. Oft sind es die Frauen und die Kinder, die als erste Kontakte knüpfen und sich auch unter den Einheimischen einen Bekanntenkreis aufbauen.
Was nicht verhindert, dass sie trotzdem Menschen begegnen wie dem selbstgerechten Wüterich an der Supermarktkasse, dem selbst ernannten Ordnungshüter, der wegen spielender Kinder die Polizei holt, dem Ärger machenden Nachbarn, der mit fingierten Anzeigen dafür sorgen will, dass die Ausländer wieder ausziehen, oder der Lehrerin, die ihre Vorurteile gegen Kinder aus Ausländerfamilien damit auslebt, dass sie versucht, sie auf eine Förderschule abzuschieben.
Aber immer wieder begegneten auch Oehmichens Gesprächspartner Menschen, die ihnen halfen, die dem Wüten der Unbelehrbaren einen Riegel vorschoben und stattdessen Türen öffneten.
Auch wissend, dass es sowieso schon schwer ist, in einem anderen Land, dessen Sprache die Ankömmlinge meist nicht beherrschten, überhaupt Fuß zu fassen und sich zurechtzufinden. Das war auch für Oehmichens Kontaktsuche ein Problem – denn für ausführliche Interviews braucht es schon eine gute Sprachbeherrschung. Er wollte selbst mit seinen Interviewpartnern reden – ohne Dolmetscher.
Jede Fluchtgeschichte ist anders
Und sie haben völlig unterschiedliche Geschichten zu erzählen. Das vergisst man ja oft, wenn man die summarischen Statistiken zu Ausländern liest. Familien, die vor dem Wüten des Bürgerkriegs in Syrien fliehen mussten, haben ganz andere Geschichten zu erzählen als die jungen Leute, die den langen Weg von Afghanistan nach Deutschland auf sich genommen haben, syrische Armenier andere Geschichten als eine Familie aus dem Irak, die vor dem IS nach Deutschland floh.
Und mit den Lebensgeschichten einer Vietnamesin, eines Nordmazedoniers und einer Tschechin erweitert Oehmichen den Fokus, zeigt die ebenso unterschiedlichen Schicksale von Menschen, die teilweise schon seit Jahrzehnten in Deutschland leben, sich eine Existenz aufgebaut haben und im Ort längst anerkannt sind.
Man merkt schon, dass dieser Prozess des Kennenlernens seine Zeit braucht. Etwa an der Geschichte eines alten Mannes, der erst grantig auf die Betreuung eines Ausländerkindes durch seine Frau reagierte und am Ende selbst fast zum liebevollen Ersatzopa wurde.
Die Mauern und Vorurteile sitzen nun einmal im Kopf. Und 2015 konnte man in Sachsen erleben, wie schnell das zum Problem wird, wenn es auf einmal wie eine Überforderung wirkt – und es gab damals genug Leute, die diese Hysterie befeuerten, während die Politik sehr, sehr sprachlos war.
Dabei erwiesen sich auch die meisten Sachsen als freundlich und hilfsbereit. Gerade in der Zeit, in der der Fokus der Medien auf den Krachmachern und Randalierern lag.
Die Mauern im Kopf
Oehmichens Schilderungen machen sichtbar, was für gefährliche und aufreibende Fluchten viele seiner Gesprächspartner hinter sich hatten. Aber da er 2019 seine Kontakte knüpfte, wird auch deutlich, wie gerade die Kriegsflüchtlinge seit ihrer Ankunft versucht haben, Zugang zu finden – zur deutschen Sprache, zur Ausbildung, zum Arbeitsmarkt.
Man kann sich durchaus in ihre Position hineinversetzen, denn sie erzählen ja die Grundgeschichte aller Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – ihre Heimat verlassen mussten, um in einem völlig fremden Land ganz von vorn zu beginnen. Was natürlich neue Ängste mit sich bringt, wenn man dann dem geballten Zorn der Ausländerfeinde begegnet.
Oder der kafkaesken Undurchschaubarkeit der Behörden, in denen oft genug auch Bearbeiter sitzen, die vergessen zu haben scheinen, dass sie es mit Menschen zu tun haben. „Wir waren nicht arm“, betonen einige der Gesprächspartner. Um dann zu erzählen, wie sie – etwa in Syrien – von einer zerbombten Stadt in die nächste fliehen mussten.
Oehmichen hat mit seinen Interviews etwas gemacht, was eigentlich schon viel öfter hätte passieren müssen: Er zeigt die Menschen mit ihren Schicksalen, die im kleinen Frankenberg angekommen sind. Einige für immer, weil sie sich hier wohlfühlen und aufgenommen.
Andere würden vielleicht doch lieber weggehen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Und wäre es nur nach Chemnitz, um endlich die tägliche Fahrerei zur Schule oder zur Arbeit loszuwerden. Andere vielleicht nach Hamburg, wenn sich da eine Arbeitsmöglichkeit auftut.
Eigentlich ein guter Ansatz, auch die sächsische Migrationspolitik endlich einmal zu ändern und nicht mehr aus der Perspektive von Mauern und Abschiebungen zu denken, wie es leider noch immer die Norm ist. Eine Norm, die bei vielen Sachsen das Gefühl untermauert, dass „die da“ nicht hierhergehören.
Statt endlich zuzugeben, dass auch Sachsen ein Zuwanderungsland ist. Und dass es gut täte daran, die alten Mauern in den Köpfen nach 30 Jahren endlich abzubauen. Denn die mauern sie selbst ein, sperren sie ein in einer Angst vor dem „Fremden“, das sich – wenn man erst einmal miteinander spricht – als dasselbe Hoffen und Bangen erweist, das auch die Einheimischen umtreibt im Leben.
Angst war noch nie ein guter Berater. Schon gar nicht für ein selbstbestimmtes Leben. Und das gilt für beide Seiten – die der Ankömmlinge und die derer, die sich anfangs so schrecklich überfordert fühlten.
Ekkehardt Oehmichen Woher? Wohin?, Edition Ãœberland, Leipzig 2021, 12 Euro.
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