„Der Starke ist am mächtigsten allein.“ So heißt es zu Beginn in Schillers letztem großen Drama „Wilhelm Tell“. Den zögernden Nationalhelden beschreibend, der sich dem Aufstand gegen die habsburgische Tyrannei noch nicht anzuschließen vermag. „Bedürft ihr meiner zu bestimmter Tat, dann ruft den Tell, es soll an mir nicht fehlen.“
Der Held in der Geschichte gibt sich und seine Energie nicht einfach so, er braucht den Moment des Innehaltens und Überlegens, der Einkehr in sich selbst. „Die schnellen Herrscher sind’s, die kurz regieren.“ So ist Tell überzeugt. Auf den richtigen Moment des Handelns, auf das inwendige Ruhen in sich selbst komme es an, auf Taten und Gedanken, die dann originär aus dem Individuum herauswachsen und sich zwangsläufig ergeben müssen.Rüdiger Safranski (*1945) lernte ich vor gut 10 Jahren im traditionellen „Old- School“-TV kennen. Dort moderierte er zusammen mit Peter Sloterdijk das „Philosophische Quartett“. Der zauselige Sloterdijk mit einer Spur Heiner-Müller-Duktus, daneben der etwas schnarrende, leicht lispelnde Safranski.
Beides kluge Männer, die die Welt eben philosophisch betrachteten, auch wenn es bisweilen verklärend daherkam … Politische Wirkungskraft und -stärke konnte man schwer gewinnen, eine komplizierte Welt wurde einem zwar verständlicher präsentiert, der Einzelne aber oftmals ohnmächtiger angesichts zunehmender spätkapitalistischer Problemvielfalt.
Den Schriftsteller Safranski mochte ich stets mehr. Von ihm fiel mir 2009 sein „Schiller oder die Erfindung des Deutschen Idealismus“ in die Hände. Das konnte ich verschlingen beim Lesen. Auch wenn man Safranski politisch-weltanschaulich schwer verorten konnte und kann, sein biografisch-historischer Stil fesselte einen, nahm die Leser irgendwie auf, und mit in eine große Erzählung.
Beeindruckend sein Studien- bzw. Recherchehintergrund – was hat der Mann nicht alles gelesen, fragte ich mich. Und seine Herausforderung wurde so zu meiner. Safranski schreibt wirklich professionell populärwissenschaftlich, seine Bücher (Biografien von Goethe, Hölderlin, Nietzsche, Schopenhauer) lesen sich wie erzählte Enzyklopädien mit Quellenverweisen, eine individuell entworfene Kunst- und Geistesgeschichte, immer zugespitzt, pointiert, manchmal fast reißerisch in Text und Titel („Schiller oder die Erfindung des Deutschen Idealismus“).
Aber so wird der Zugang leichter. Das praktiziert er wirklich geschickt, Rüdiger Safranski, ein politisch sicher nicht unumstrittener Autor. Im Pädagogen-Duktus gesprochen: 2015/16 – während der sogenannten „Flüchtlingskrise“ fiel Safranski negativ auf, als er von drohender „Überflutung“ Deutschlands sprach und vor unkontrollierten „Flüchtlingswellen“ warnte. Die meisten Philosophen sollten sich vorsichtig auf dem glatten Parkett der Tagespolitik bewegen und sie als ein anderes Feld intellektueller Herausforderung begreifen lernen.
Den philosophischen Politiker Rüdiger Safranski verstand ich plötzlich weniger. Seine intellektuelle Kälte und Distanz zum politischen „Gegenstand“ verstörten und ließen mich daraufhin auch am „Lesesinn“ seiner Bücher zweifeln. Mit der anhaltenden Begeisterung für seine Biografien der Klassiker („Goethe – Kunstwerk des Lebens“) schämte ich mich gleichzeitig, ihm bedenkenlos in seine historischen Erzählwelten zu folgen. Die sich irgendwie so gut lasen …
„Eine philosophische Herausforderung“ ist sein jüngstes Werk untertitelt. Ein kommerzieller Erfolg scheint dem Bestsellerautor Safranski, dessen Werk mittlerweile in 26 Sprachen übersetzt wurde, wieder sicher zu sein. Seinem „Einzeln sein“ fehlt aber noch ein weiterer Zusatz.
„Historisch“ ist das alles bei Safranski, muss man immer wieder betonen: Er schreibt brillant-rückwärtsgewandt. Hat dabei den Safranski-Stil in sich selbst perfektioniert, einzigartig, unverwechselbar. Und trotzdem liest er/es sich wie eine Schulspeisung mit überraschenden Süß-Sauer-Gewürzen.
Eine Herausforderung ist es schon allein durch die eigenwillige Philosophenauswahl, von den Renaissancedenkern (Aretino, da Vinci, Machiavelli) bis hin zu Jünger und Sartre. Differenziert spürt Safranski den „Querköpfen“ und Individualisten der Neuzeit nach (Montaigne, Rousseau, Thoreau …), würdigt moderne Frauen wie Ricarda Huch und Hannah Arendt, vergisst aber auch die französischen „Realisten“ des 18. und 19. Jahrhunderts nicht – Diderot und Stendhal.
Safranski tut dies alles mit einem präzisen kulturgeschichtlichen Blick, nimmt sich die Damen und Herren Philosophen vor, führt mit großer Werk- und Autor/-innenkenntnis zu deren Geheimnissen und zeigt deren „Dark Sides“. Der Mensch – einsam, unverstanden, aber als laufendes Alleinstellungsmerkmal auf zwei Beinen.
Das ist das Verbindende in Safranskis Werk, das „Einzeln sein“ als Herausforderung zwischen (manchmal notwendiger) Einsamkeit und Einzigartigkeit. Dies ist im Denken und Handeln großer Geister notwendigerweise Voraussetzung eines überzeitlichen Wirkens, ganz gleich, welchen Reaktionen sie der politischen und klerikalen Macht ausgesetzt waren (Luther, Kierkegaard).
Safranskis kurzweilige Reise in 600 Jahre Geistesgeschichte mit so verschiedenen personalen Haltepunkten, eigenen „Zwischenbemerkungen“ sind ein durchaus herausforderndes, aber dennoch bekömmliches Werk der Kulturgeschichte. Vielleicht nicht an Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“ heranreichend, aber in jedem Fall lesenswert.
Beinahe im Plauderton, ganz nebenbei bekommt man hier Stoffe zum Denken und Auseinandersetzen geliefert. Und es werden Widersprüche lebendig, nachvollziehbar. Zwischen Arroganz und Stolz, Hartnäckigkeit und Sturheit, Muße und Fleiß, Einsamkeit und Unverwechselbarkeit.
Rüdiger Safranski, Einzeln sein – eine philosophische Herausforderung, Carl Hanser Verlag, 2012, 288 S.
„Überm Schreibtisch links – Einsam oder einzigartig?“ erschien erstmals am 29. Oktober 2021 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 96 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.
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Herr Jopps Texte, die ich meist in der Druckausgabe lese, sind immer ein Genuss. So auch hier, wobei ich einen Absatz besonders herausstellen will. Jopp schreibt – sein eigenes Denken reflektierend – über Safranskis rechtskonservative Ansichten in der Flüchtlingspolitik:
“Den philosophischen Politiker Rüdiger Safranski verstand ich plötzlich weniger. Seine intellektuelle Kälte und Distanz zum politischen „Gegenstand“ verstörten und ließen mich daraufhin auch am „Lesesinn“ seiner Bücher zweifeln. Mit der anhaltenden Begeisterung für seine Biografien der Klassiker („Goethe – Kunstwerk des Lebens“) schämte ich mich gleichzeitig, ihm bedenkenlos in seine historischen Erzählwelten zu folgen. Die sich irgendwie so gut lasen …”
Es kommt nicht oft vor, dass Autoren ihre eigene Unsicherheiten offen ausstellen, deshalb Respekt dafür.
Zugleich aber zeigen diese Zeilen für mich ein generelles Problem, nämlich, dass wir zunehmend dahin kommen, Literatur, Kunst und Kultur und auch andere Dinge nach moralisch-ideologischen Maßstäben zu bewerten. Politische Ansichten, Geschlecht, Herkunft und andere sekundäre bzw. für die Bewertung eines Buches unwichtige Dinge scheinen zunehmend wichtiger zu werden. Herr Jopp ist schlau genug das zu reflektieren, auch wenn es ihm Bauchschmerzen macht. Aber immer öfter wird das nicht mehr getan und der Widerspruch politisch korrekt aufgelöst, d.h. in diesem Fall jemand wie Safranski lieber nicht gelesen oder zu gut besprochen, es könnte ja falsch verstanden werden.
Dieses Aushalten und Artikulieren der Differenzen, das müssen wir alle wieder lernen.