Oha, wir leben noch. Spätestens, wenn die Kalender fürs kommende Jahr auf dem Tisch liegen, merkt man jedes Mal, dass wieder ein Jahr vergangen ist. Dass man nicht von einem unaufmerksamen BMW-Fahrer im Drogenrausch überfahren wurde, auch nicht von einem rechts abbiegende Lkw an der Ampel oder einem Stück abstürzendem Weltraumschrott aus der Spur geworfen. Die Bäume stehen zwar kahl. Aber jeder Sonnenstrahl erinnert einen an die erleuchtete Schönheit der Welt.
Die flüchtige Schönheit des Moments
In der wir alle nur Gast sind. Das vergessen wir unterwegs immer wieder, wenn wir uns aufregen, funktionieren, abspulen, uns um tausend Dinge kümmern, die alle so tun, als seien sie wichtig.
Obwohl wir sie schon am nächsten Tag wieder vergessen haben. Unser Leben besteht aus so vielen eigentlich belanglosen Taten, dass es zuweilen einfach einen Kalender braucht, der uns daran erinnert, dass das Am-Leben-Sein ein ganz besonderes Geschenk ist. So wie dieser einmalige Planet, auf dem wir für ein letztlich sehr kurzes Weilchen herumlaufen dürfen. Am besten mit offenen Augen. Auch für die Schönheit der Stadt.
Denn zum Glück ist Leipzig an einigen Ecken tatsächlich schön. Und bei besonderer Beleuchtung erst recht. Und wer an solchen Tagen mit der Kamera unterwegs ist, der kann diese Momente versuchen einzufangen. Was nicht einfach ist. Denn die richtig schönen Momente sind flüchtig.
Wir leben in einer Welt, in der sich immerfort etwas ändert. Und seien es nur die Taubenschwärme, die auf die Thomaswiese einfliegen und im frisch gefallenen Schnee nach Futter suchen, so wie im Januar-Bild in diesem neuen Tischkalender aus dem Sax Verlag.
Das Licht in der Stadt
Überhaupt der Schnee: Im Februar gab es ja mal wieder welchen, richtig viel, wie er selbst für das frühere Leipzig eher die Ausnahme war. Künftig wird er noch viel seltener zum Phänomen in einer Stadt, in der der Klimawandel längst spürbar ist. Und damit werden auch die Fotografien mit Schnee in der Stadt seltener werden, werden wirken wie der Blick in eine seltsame Vergangenheit.
Und künftige Generationen werden staunen über Schlittschuh laufende Leipziger/-innen auf dem zugefrorenen Karl-Heine-Kanal. Wer die Zeit genutzt hat und aufs Eis ging, hat eine bleibende Erinnerung. Und – wenn er Bilder gemacht hat – erst recht etwas, was man später noch bestaunen kann.
Sogar die Sonne schien, als Birgit und Jürgen Röhling das Treiben auf dem Karl-Heine-Kanal festhielten. Überhaupt die Sonne: Oft nehmen wir kaum noch wahr, wie sie mit ihrem Licht unsere Stadt in eine Bühne verwandelt. Gerade dort, wo die Architekten das wandelnde Licht auch mitbedacht haben. So wie im großen Lesesaal der Universitätsbibliothek, der im April zeigt, was für schöne, lichterfüllte Plätze es in Leipzig gibt.
Die „Oasen der Ruhe“, die man im Freien besuchen kann, kennt ja fast jeder – die Freiluftgaststätte im Clara-Zetkin-Park genauso wie den Freisitz am Dr. Schreber’s. Selbst der Thomaskirchhof, der den Juli ziert, ist fast immer eine Insel der Ruhe in der Leipziger Innenstadt. Um die Mittagszeit wird er auch zu einem sonnigen Platz, an dem man zu Füßen Johann Sebastian Bachs unverhofft stehen bleiben und den nahe stehenden Stadtführern lauschen kann, welch fluffige Geschichten sie so erzählen über den Thomaskantor und seine herausgestülpte Hosentasche.
Inseln der Ruhe
Überhaupt diese Leipziger Plätze, die ihre Faszination meist erst entfalten, wenn man mal wirklich ohne Zeitdruck, einfach so, des Genießens wegen, darauf steht und in sich aufnimmt, wie Raum und Licht einen einfangen. Was sie ja auch tun. Jeder dieser Plätze hat seine unverwechselbare Stimmung, auch wenn man sie in der Generalperspektive, die in diesem Kalender für September und Oktober gewählt wurde, nicht wirklich nachempfinden kann.
Dazu muss man – was den Augustusplatz betrifft – schon am Rand des großen Wasserbeckens stehen oder in das Geplätscher des Mendebrunnens eintauchen, um den herum ja seit zwei Jahren die Hummeln brummen und die Schmetterlinge flattern, seit die Stadtreinigung hier ein richtiges Blütenbeet angelegt hat.
Und wer diese Stimmung kennt, weiß, dass der Markt dagegen ein hektischer Ort ist. Wahrscheinlich auch deshalb, weil er keine Bäume und keine Brunnen hat.
Das Geschenk liegt vor unseren Augen
Das Dezemberblatt verabschiedet sich noch einmal mit Schnee. Auch wenn es zu Weihnachten in Leipzig auch früher sehr, sehr selten mal Schnee gab. Aber trotzdem animiert selbst dieser kleine Kalender dazu, sich einfach auch 2022 wieder Zeit zu nehmen und für ein paar Atemzüge auszuspannen aus dem Geschäftig-Sein, sich in die Stadt zu stellen mit dem Wissen, dass auch dieser als Leipzig bezeichnete Ort nur ein Punkt auf einem großen Planeten ist, der auf viele Lichtjahre hinaus mit seinem Wasser, seiner Luft und dem Leben die absolute Ausnahme darstellt.
Auch für dieses Tier auf zwei Beinen, das in der Lage ist, das auch noch zu reflektieren. Was es aber selten tut, viel zu selten. Und so vergisst es immer wieder, wie fragil das alles in Wirklichkeit ist. Und dass man viel öfter einfach aufhören müsste, um falscher Wünsche willen immerfort geschäftig zu sein.
Denn das Geschenk ist da draußen – oft genug faszinierend ausgeleuchtet. Wir sehen es. Und wir sehen es doch nicht. Und am Ende verfliegen die Jahre und nichts bleibt zurück als das dumme Gefühl, wieder einmal die Schönheit der Welt völlig verpasst zu haben.
Birgit Röhling, Jürgen Röhling, Tischkalender „Leipzig 2022“, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2021, 5,95 Euro
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