Es ist zwar nicht der erste Fotoband zu Leipzig, aber er ist wirklich etwas Besonderes. Er zeigt nämlich, wie man die Schönheit dieser Stadt entdecken kann, wenn man völlig neu hier ist und nicht nur den üblichen Sehenswürdigkeiten seine Aufmerksamkeit schenkt. Und Jörn Daberkow war völlig neu hier, als er 2018 nach Leipzig kam. Frisch importiert aus der großen Hafenstadt Hamburg.

Und so ganz ist er die Sehnsucht nach seinem Hamburg nicht losgeworden, gibt er zu. Aber so geht es uns ja allen, egal, wie fasziniert wir von der Weltgegend sind, in die es uns verschlägt: Das Stück Welt, in dem wir groß geworden sind, bleibt immer ein Ort der Sehnsucht in unserem Kopf.

Uns fehlen dann die tutenden Dampfer, die Ebbe, die Flut und manchmal auch der unterkühlte Charme einer Stadt, in der man die riesigen Containerschiffe auf der Elbe bestaunen kann.Das kann in Leipzig nicht passieren. Und im Vergleich mit der Elbe in Hamburg ist die Weiße Elster natürlich auch kein Fluss, eher ein gemütliches Schunkelgewässer, in dem sich die umgebauten Fabriken spiegeln und das auch mal märchenhaft im Morgennebel daliegt. Eine stille Schönheit. Ohne Dampfer.

Aber Daberkow ist Fotograf. Er geht sogar mit seiner Kamera ins Bett, behauptet er. Und vielleicht stimmt es ja auch. Das kann jeder nachempfinden, der gelernt hat, mit der modernen Technik all jene Bilder einzufangen, die man im Vorüberrennen im Alltag meist nicht sieht, nicht genießt, nicht festhält.

Oft sind es nur Bilder für Momente, unwiederbringliche Stimmungen mit dem richtigen Sonnenlicht, mit menschenleeren Straßen und Plätzen oder eben auch Nebel in Parks, über dem Cospudener See, über der Weißen Elster.

Gefährliche Ortsteilgrenzen

Der Versuch, ein Vorwort zu schreiben, misslang Daberkow, obwohl er praktisch von Anfang an plante, ein Leipzig-Foto-Buch zu machen. Am Ende hat er sich dazu entschlossen, eine Art Tagebuch zu schreiben, das im Wesentlichen zeigt, wie das Buch so langsam reifte, wie er sich bestimmte Fototermine organisierte und am Ende auch mit ein bisschen Kritik der Erstleser diesen Bildband fertigbrachte. Kritik, die anfangs kränkte.

Wem geht das nicht so? Da steckt man jede Menge Zeit und Aufmerksamkeit in ein Projekt, und dann kommen Leute daher, die einem die Fehler unter die Nase reiben. Aber da hilft dann Einmal-drüber-Schlafen. Die Kränkung vergeht. Am Ende ist jede Kritik hilfreich. Selbst wenn es eine Korrektur aus dem Leipziger Rathaus ist, dass manche Ortsteilgrenze anders verläuft als gedacht. Das kann auch Leipzigern passieren, wenn sie in Plagwitz, Alt- oder Neulindenau die Grenze überschreiten.

Verwaltungsgrenzen sind oft keine logischen Grenzen. Und für Daberkow war es wichtig, genau zu sein, weil ihm einige Leipziger Ortsteile von Anfang an ans Herz gewachsen sind. Sie sind im Band mit eigenen Kapiteln untersetzt. Dort war er immer wieder mit seiner Kamera unterwegs.

Eigentlich hätte Meusdorf gleich am Anfang stehen müssen, denn in der JVA in Meusdorf setzte er ein Projekt fort, das er in Hamburg schon begonnen hatte: Fotografieren in Haftanstalten. Aber Meusdorf kommt etwas später – nach Lindenau, Plagwitz und Probstheida. Womit dann im Grunde seine Leipzig-Welt schon umrissen ist. Obwohl eigentlich zwingend auch noch Schleußig dazugehörte, der Ortsteil, in dem er anderthalb Jahre lebte und den er noch immer für den schönsten von Leipzig hält.

Typische Schleußig-Bilder findet man dann eher im Kapitel zur Weißen Elster, die ihre Schönheit ja tatsächlich erst entfaltet, wenn man sie im richtigen Licht sieht und immer wieder besucht. Und Daberkow muss es gar nicht extra erzählen, dass die Ausflüge an die Weiße Elster und die Pleiße fast zwangsläufig dazu führten, dass er auch den Auwald kennenlernte und ihn im Licht der sich wandelnden Jahreszeiten fotografierte.

Ein unverwechselbares Plätzchen

Jedes Kapitel erzählt auf diese Weise, was die Leipziger zwar wissen, aber eher hinnehmen, als wäre es normal: Dass dies ein sehr schönes Plätzchen auf Erden ist. Ein unvergleichliches sowieso. Was Daberkow fotografiert hat, wird man in Hamburg so nicht finden. Und auch in keiner anderen Stadt. Das trifft selbst auf die Innenstadt zu, wo sich Daberkow gehütet hat, all die immer fotografierten Sehenswürdigkeiten ins Bild zu nehmen.

Dennoch gibt es das Kapitel zur Innenstadt, in dem Daberkow eigentlich zeigt, was man alles nicht sieht, wenn man nicht hinschaut, sich den Spielen der Architektur und denen des Lichts hingibt und wieder staunen lernt, welche architektonischen Räume sich auftun, wenn man nicht das Übliche sucht.

Wozu natürlich auch gehört, dass Daberkow ein Frühaufsteher ist, der weiß, wann man die belebten Orte einer Stadt mal ohne Menschen vorfindet. Denn Menschen verändern eine Szenerie, schaffen immer Unruhe und lenken ab. Da übersieht man dann die schönsten Stellen, die besonderen Details und die Momente des Lichts, in denen das Besondere des Ortes spürbar wird.

Und noch während er an seinem Buch arbeitete, packte Daberkow wieder alle Kisten ein und zog weiter – nach Markkleeberg. Noch kleiner als Leipzig. Aber deshalb auch ruhiger. Irgendwie war es ihm auch in Schleußig zu laut. Die Folge für das Buch: Es gibt auch ein paar sehenswerte Fotoserien zum Cospudener See, den man von Markkleeberg aus ja auch in den Morgenstunden schnell erreicht und ihn eigentlich für sich allein hat, wenn Frost und Nebel darüber hängen.

Der Markkleeberger See findet sein Plätzchen. Aber auch die Neue Harth und das Kohlekraftwerk Lippendorf, das Daberkow unbedingt noch im Buch haben wollte, weil es Leipzig zumindest bis 2023 noch mit Fernwärme versorgt. Und weil er das Thema schon einmal aufgriff, hat er sich auch eine Fototour im Tagebau Vereinigtes Schleenhain besorgt. Denn dass der Kohlebergbau noch lange weitergehen wird, wenn Lippendorf Leipzig nicht mehr mit Wärme versorgt, dürfte sehr fraglich sein.

Da geht ein Zeitalter zu Ende. Noch kann man es auf Fotos bannen. Irgendwann hören die Bagger auf zu graben, verstummen die Pumpen und die Kühltürme werden gesprengt.

Das Andere mit offenen Augen entdecken

Es ist ein sehr persönliches Buch geworden. Man findet auch nicht alle Leipziger Ortsteile darin, sondern vor allem die, in denen sich Daberkow in seinen fast zwei Leipziger Jahren heimisch gefühlt hat. Nur einen Abstecher in den Leipziger Osten gibt es mit dem Bahnbogen Ost, der sich ja in den nächsten Jahren zur ersten Hochtrasse für Radfahrer und Fußgänger entwickeln wird. Im Grunde zeigt Daberkow, wie man sich eine neue Stadt systematisch aneignen kann.

Samt der schönen Sprache, die da gesprochen wird und die Daberkow in einem kleinen Glossar beigefügt hat. Was ja auch ein Trost ist: Noch sprechen einige Leipziger/-innen ein bisschen originales Sächsisch (nicht zu verwechseln mit dem Zeug, das deutsche TV-Comedians immer dann von sich geben, wenn sie ihre Verachtung für den Osten verbalisierten wollen).

Man muss eben öfter mal reisen und umziehen und sich einlassen auf Orte und Menschen. Was leider die Wenigsten machen, hüben nicht und drüben nicht. Denn dann hört man auf, auf die anderen immer mit Befremden und latenter Verachtung zu schauen. Die anderen sind auch nicht anders als Unsereiner. Nur anders. Und sie leben an Orten, die dem Wanderer mit der Kamera ihre Schönheit zeigen, wenn man nur mal die Augen von den Fußspitzen hebt und sich umschaut.

So betrachtet ist es auch ein Buch für die Einheimischen, die manchmal vor lauter Diggschen nicht mehr merken, dass sie in einer stellenweise wunderbaren Stadt wohnen. Da lohnt es sich, öfter mal innezuhalten und zu schauen. Und wer eine Kamera dabei hat, kann in Bildern baden. So wie all jene, die sich in diesen Bildband werfen.

Jörn Daberkow Leipzig Außergewöhnlich, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2021, 26,90 Euro.

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