Wir erzählen uns unser Leben. Wir können gar nicht anders. Auch nicht in der Corona-Pandemie. Samira El Ouassil und Friedemann Karig hätten dieses Buch auch ohne die Corona-Pandemie schreiben können. Es ist ja nicht unsere erste Krise, die zeigt, wie sehr Geschichten, gute und schlechte Erzählungen, uns umgeben. Wir denken in Geschichten, ohne Narrative ergibt die Welt für uns denkende Affen keinen Sinn. Wir sind nicht wirklich ein Homo sapiens, auch wenn wir uns das nur zu gern einreden. Wir sind vor allem ein Homo narrans.
Das ist sehr wohl ein gewaltiger Unterschied. Den man freilich erst erfasst, wenn man sich mit der Geschichte unserer Menschwerdung etwas eingehender befasst und mit der Entstehung unseres Denkens über uns selbst. Also auch mit unserem Denken selbst. Wie denken wir eigentlich? Wie begreifen wir die Welt?Begreifen wir die Welt überhaupt oder sehen wir nur Muster, Schatten an Höhlenwänden, wie es Platon in seinem berühmten Höhlengleichnis beschrieb? Und Platon war dicht dran. Dichter als so mancher Wissenschaftler späterer Tage. Auch wenn er natürlich nicht auf die Forschungsergebnisse der modernen Kognitionswissenschaft zugreifen konnte.
Aber eines war ihm schon klar: Unsere Vorstellungen von der Welt, wie sie ist, entstehen erst in unserem Kopf. Und zwar als Bild und Geschichte. Als Interpretation dessen, was wir mit unseren Sinnen aufnehmen. Denn 1:1 können wir die Welt gar nicht wahrnehmen.
Alles, was wir meinen wahrzunehmen, ist schon eine Reproduktion unseres Gehirns. Das eben nicht wie ein Computer funktioniert, auch wenn das ein paar eingebildete Schnösel im Silicon Valley glauben und uns einzureden versuchen, um ihre völlig irren technischen Produkte an uns verscherbeln zu können.
Träumen Sie lieber nicht von Künstlicher Intelligenz. Sie werden bitter enttäuscht sein.
Wir erzählen uns die Welt in Geschichten
Die Kommunikationswissenschaftlerin Samira El Quassil und der Medienwissenschaftler Friedemann Karig haben sich sehr intensiv mit der kompletten neueren Literatur zur Kommunikation, PR, zu Medien, Literaturtheorie und Storytelling beschäftigt. Das Thema ist präsent – wenn auch nicht in unseren großen Medien und schon gar nicht in unserem Alltag.
Obwohl es Leser/-innen von Kurt Vonnegut und Terry Pratchett schon länger kennen, neben Ursula LeGuin die beiden modernen Autoren, die sich am intensivsten mit Erzähltheorien und dem Denken von Menschen in Geschichten beschäftigten. Denn sie wussten, dass nichts in unserer Gesellschaft funktioniert, ohne den erzählenden Affen in unserem Kopf. Gar nichts. Auch Literatur nicht.
Und mit gutem Recht nehmen Forscher inzwischen auch an, dass sämtliche menschliche Zivilisation und Kultur erst in dem Moment entstand, als unsere Vorfahren begannen, sich Zeugs auszudenken. Auch Lügen und Märchen. Lauter Kram, der in ihrem großen Gehirn entstand, das mit den simplen Überlebensabläufen völlig unterfordert war. Das Reich der Tiere verließen wir in genau jenem Moment, in dem einer oder eine von uns anfing, „Lügen“ zu erzählen, Dinge, die nicht „wahr“ waren.
Aber möglich. Wahrscheinlich geschah das parallel mit unserer Sprachentwicklung. Denn wer Worte hat für die Welt, der kann auch Dinge benennen, die gar nicht da sind. Vielleicht war es der legendäre Tiger im Unterholz, der so auf einmal zur ersten Tigergeschichte wurde.
Vielleicht war es auch der Kerl, der den Donner macht oder die fette Viehherde hinter den Bergen, die zwar noch keiner gesehen hat. Aber wenn man sich vorstellen kann, dass da eine fette Viehherde ist, dann ist es ja nur noch einen Schritt weit, das ganze Lager einzupacken und über die Berge zu ziehen.
Wir lieben Geschichten vom Unbekannten.
In den ältesten Geschichten stecken alle jüngeren Geschichten. Geschichten bringen Menschen dazu, Dinge zu tun, die sie sich eben gerade erst ausgedacht haben.
Wie uralte Erzählungen weiterwirken bis heute
Im ersten Teil des Buches führen Samira El Ouassil und Friedemann Karig ihre Leser/-innen tief hinein in diese Materie, die mit den frühen Höhlenmalereien (die natürlich auch alle Geschichten transportieren) und den frühen Mythen und Heldenlegenden immer konkreter wird, immer greifbarer.
Und spätestens mit Gilgamesch, der Bibel und den griechischen Sagen ist man mittendrin in ganz alten Ur-Erzählungen, in denen wir aber alle uns heute geläufigen Erzähltypen wiederfinden. Auch die ganz zentrale Erzählung, die wir fast überall finden, wo Menschen Dinge in Bewegung setzen: die Heldenreise.
Dass es nicht die Heldinnenreise ist, erörtern die beiden dann später im Buch, wenn sie auch ausgiebig diskutiert haben, wie diese Ur-Erzählungen uns Menschen nicht nur ermöglicht haben, unser eigenes Tun in (Helden-)Erzählungen zu begreifen, sondern auch zu akzeptieren, dass die Welt und unsere menschliche Gesellschaft so sind, wie sie sind. Denn Urgeschichten haben immer zwei Aspekte – den des Veränderns („Ich geh dann mal los …“) und den des Bewahrens („Das war schon immer so …“).
Wir und die, Ingroup und Outgroup
Alte Geschichten erzählen uns eben auch, warum wir so sein sollen, wie wir sind. Oder wie wir sein sollen, damit wir in die Geschichten der anderen passen. Denn Urgeschichten sind auch immer Stammesgeschichten. Sie erzählen uns auch, wer wir in den Augen der anderen sein sollten und wer wir nicht sind.
Und auch deshalb ist die menschliche Literaturgeschichte dominiert von Heldengeschichten. Nicht nur, weil wir uns die ganze Menschheitsgeschichte immer nur über Helden und ihr Handeln erzählt haben (und damit irgendwie geordnet und verstanden), sondern weil jeder von uns sich sein eigenes Leben auch als Heldenreise erzählt.
Denn erst so verleihen wir unserem eigenen Leben einen Sinn: indem wir unser Leben als Abenteuer und Aufgabe erzählen, als Aufbruch hin zu einem Ziel, das wir noch nicht kennen. Wir sind Held/-in unserer eigenen Geschichte.
Das merkt jeder spätestens dann, wenn er mal aufgefordert wird, sein Leben zu erzählen. Er wird es als Heldenreise erzählen – mit Herausforderungen, Kämpfen, Niederlagen und Bewährungsproben. Mit Spannungsbogen. Selbst dann, wenn sein Leben alles andere war als das.
Worauf Samira El Ouassil und Friedemann Karig näher eingehen, wenn sie auf die Rolle des Romans zu sprechen kommen, der nicht ganz zufällig parallel zur Bewegung der Aufklärung und der Entstehung der modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft entstand.
Romane sind eher die weibliche Form des Erzählens, auch wenn es Berge von Heldengeschichten auch in Romanform gibt. Aber anders als die alten Heldengeschichten vom Rasenden Roland bis zu den Nibelungen schaffen Romane auch Platz für eher weibliche Erzählweisen.
Narrative der Macht
Was die beiden Autoren natürlich zu der Frage bringt: Gibt es eigentlich ein besonderes weibliches Erzählen? Natürlich. Man kommt an dem Thema gar nicht vorbei und merkt spätestens an dieser Stelle, dass es vor allem männliche Geschichtsinterpretationen sind, mit denen wir uns Geschichte bisher immer erzählt haben. Oder erzählt bekommen haben.
In uralten Narrativen manifestieren sich auch alte Macht- und Geschlechterverhältnisse. Das heißt: Wir hängen auch in uralten Erzählmustern fest, die uns manipulieren und eine Sichtweise mitgeben, die jahrtausendelang funktionierte und die herrschende und gültige war. Die aber gerade jetzt ihre fatalen Folgen zeigt. Auch deshalb, weil es immer vor allem herrschaftsstützende Erzählungen waren. Und sind.
Sie stecken ja immer noch in den Köpfen. So wie das „Macht euch die Erde untertan“, das im modernen Wachstumswahn weiterlebt und in dem irren Glauben, wir könnten mit immer neuen tollen Erfindungen auch wieder reparieren, was wir kaputtgemacht haben. Aber wir müssten nicht verzichten auf Wachstum und Wohlstand.
Wobei auch hinter Wachstum und Wohlstand die alten Heldengeschichten stecken, die nach wie vor voller Aggression und Gewalt sind und Gewalt für selbstverständlich erklären als gültige Lösung aller Konflikte. Auch in der Vergewaltigung unseres Planeten, seiner Ausplünderung und der Vernichtung unserer Lebensgrundlagen steckt dieses Denken. Und wie stark diese alten Geschichten sind, merkt man spätestens, wenn es um eine andere Politik geht.
Oder auch nur die Einsicht, dass das alte Heldengehabe letztlich in die Katastrophe führt, weil es keine Grenze, keine Versöhnung, kein „Stopp!“ kennt. Und auch keine Verständigung. Denn Helden sind immer einsam. Sie werden gerufen, wenn die Kacke am Dampfen ist, besiegen dann den Drachen und kehren als gefeierter Sieger zur jubelnden Menge zurück.
Wenn die alten Heldenmuster nicht mehr funktionieren
Nur: Wer sind eigentlich die Drachen? Und wer die Helden? Wer die Bösewichte? Und was hat das mit uns zu tun?
Denn dass wir alle eine Erzählung über unser Leben brauchen, in der wir uns wiedererkennen, mit der wir uns im Einklang fühlen, das steht ja nicht infrage. Nichts ist deprimierender als zu erfahren, dass wir dem nicht genügt haben, den eigenen Ansprüchen oder denen anderer Leute.
Was eigentlich längst die Regel ist in einer Gesellschaft, in der einem selbst die Werbung erzählt, dass man sich sein Heldentum einfach kaufen kann. Dass aus jedem Tellerwäscher ein Millionär oder Aktionär werden kann. Dass jeder seines Glückes Schmied ist.
Und was, wenn nicht? Wenn die Tiefenerzählung einer Gesellschaft für einen nicht (mehr) funktioniert? Wenn die Tellerwäscher auch künftig in der Schlange stehen und niemals die Chance bekommen, je an den Kopf der Schlange vorzurücken? Andere aber einfach vorbeiziehen. Oder die da vorn gar nicht dran denken, den Platz mal frei zu machen.
Samira El Ouassil und Friedemann Karig versuchen es an der us-amerikanischen Tiefenerzählung nachzuempfinden und damit auch verständlicher zu machen, warum die USA derart zerrissen sind und selbst die Leute hinten aus der Schlange dann Typen wie Trump wählen, weil der ihnen verspricht, dass sie vielleicht doch mal belohnt werden für ihre Geduld in der Schlange.
Frustriert im falschen Märchen
Man merkt schnell, dass die alten Erzählungen, die aus zutiefst hierarchischen Gesellschaften stammen, schon lange nicht mehr funktionieren. Sie sind wirklich nur noch „Lügen für Erwachsene“. Und die Erwachsenen halten fest an dieser Lüge. Denn ein Eingeständnis, dass die große Erzählung nur ein Märchen ist, führt auch zum Selbstverlust.
Dann stimmt die eigene Heldengeschichte nicht mehr. Dann merkt man, dass man gar nicht erst zum Kämpfen kommt, weil die Heldenrollen alle schon von anderen besetzt sind. Und dass man für alle Zeit der Tellerwäscher bleibt. Und frustriert und unglücklich.
Und die heutige Marktwirtschaft mit ihren falschen Geschichten von Heldentum und Erfolg produziert Millionen solcher Enttäuschungen. Unsere Selbst-Erzählungen geraten in den Strudel: Wir inszenieren uns vor aller Welt, nehmen falsche Rollen an. Aber ein „Daumen runter“ genügt, um das ganze falsche Märchenbild in sich zusammenstürzen zu lassen.
Und alles hat mit der ganz simplen Erkenntnis zu tun: „Wir entdecken überall Geschichten, weil wir überall welche finden wollen beziehungsweise finden müssen, selbst wenn es sich um abstrakte Formen handelt. Unser Gehirn sucht nicht nur nach Geschichten – es ist regelrecht süchtig nach ihnen.“
Wir können ohne Geschichten nicht leben, weil wir uns ohne Geschichten kein Bild von der Welt machen können. Und auch nicht von uns selbst. Geschichten geben unserem Leben einen Sinn. Und unser Gehirn greift nach der schnellstmöglich passenden Geschichte, die irgendwie erklärt, warum wir so sind und die Welt so ist.
Sie muss nicht mal stimmen, nur irgendwie eine Erklärung geben für das, was uns verunsichert: „In dem Moment, wo wir eine passende Schablone, eine Erklärung für einen Input gefunden haben, die uns plausibel genug erscheint, und eine Situation für uns damit ausreichend Sinn ergibt, stellen wir das Nachdenken darüber ein“, schreiben die beiden im Kapitel „Die Weigerung. Wie werde ich mein eigener Held?“.
Und genau der Mechanismus erklärt auch, warum so viele Menschen in die Falle tappen und nur zu gern an Verschwörungstheorien festhalten: „Wir sparen unsere geistigen Ressourcen. Das Austauschen dieser Schablone ist so anstrengend, dass unser Kopf es unter allen Umständen versucht zu vermeiden.“
Das Gefühl, endlich dazuzugehören
Was an sich so schlimm nicht ist. Oder war. Bis die Narren im Silicon Valley die asozialen Medien entwickelt haben und damit Menschen, die sich auf schräge Geschichten über die Welt geeinigt, miteinander vernetzt und ihnen das Gefühl gegeben haben, eine riesige Menge zu sein. Was die Geschichten erst verfestigt hat. Denn: „Und je mehr Menschen sich auf bestimmte Erzählungen einigen, desto mehr verfestigen sich auch die darin eingebetteten Narrative.“
Mit Narrativen kann man Gesellschaften steuern. Und werden Gesellschaften auch gesteuert. Denn die Tiefengeschichten bieten eine Erklärung dafür an, dass die Welt ungerecht ist, dass nur aus Prinzen Könige werden und dass man im Diesseits leiden muss, damit man im Jenseits belohnt werden kann.
Märchen für Erwachsene, die jahrhundertelang bestens funktioniert haben und halfen, ziemlich grausame Hierarchien zu stabilisieren. Bis die Franzosen ihren König köpften und damit den Glauben an die Geschichte, dass ein Land einen König braucht. Auch so eine uralte Geschichte.
„Wer bestimmt, wer wann und wo mehr Recht auf die Validität seiner Geschichte hat? Konflikte vermeintlich kultureller Art sind oftmals narrative Konflikte, da Kultur selbst eine Erzählung ist von dem, was gut und wahr und schön ist – oder eben nicht.“
Geschichten erschaffen nicht nur Helden, sondern auch ihre Antagonisten – die Feinde, die es zu besiegen gilt. Jedenfalls funktionieren so die alten Heldengeschichten, in denen der tapfere Recke dann in der Regel zum Retter in der Not wird.
Die alten Heldengeschichten stabilisieren Gesellschaften, die sich bedroht fühlen. Und sie verfestigen die Legende, dass man nur einen starken Mann (einen König, einen Führer, einen Ritter, einen Diktator …) braucht, der alle rettet, indem er im letzten Moment loszieht und den Drachen besiegt.
Eine Geschichte, die bis heute funktioniert. Zumindest in der Politik und in den Medien. In der Realität unseres Planeten schon lange nicht mehr.
Wählt mich, ich bin ein Held!!!
Wir erleben gerade, dass ein Haufen uralter Tiefengeschichten nicht mehr funktionieren. Und trotzdem Millionen von Menschen nach Rettern und Helden suchen und jedem Politiker (eigentlich ausschließlich wieder Männer, die sich da als „Helden“ anbieten), der ihnen verspricht, dass er den Drachen töten kann.
Oder noch schlimmer: dass es den Drachen gar nicht gibt. Kein Coronavirus, keine Klimakrise, kein Artensterben, kein Auseinanderklaffen von Arm und Reich… Gewählt werden sie, weil ihre Wähler sich eine funktionierende Geschichte wünschen, ein Märchen, das sie auch in ihrem kleinen Dasein beruhigt…
Obwohl der Zustand der Welt sie zu Recht beunruhigt. Die „Helden“ haben genug Bockmist gebaut. Und wenn etwas übrig bleibt von ihrer Heldengeschichte, dann ist es das Armageddon der Faschisten, die wohl die stringenteste und simpelste aller Heldenerzählungen haben: Jeder ist ein Held und muss losziehen, den Drachen totzuschlagen. Jeder ist Teil der „letzten Schlacht“.
Aber: niemand muss sich ändern. Alles bleibt so, wie es ist. Das Ziel des blutigen Krieges ist nur der (End-)Sieg über alles, was der große Führer zum Feind erklärt hat. Was gewonnen wird, ist das, was man schon mal hatte. Oder glaubte zu haben: Eine idealisierte und romantisierte Vergangenheit.
Auch so eine Fluchtgeschichte. „Der Faschismus verweigert sich diesem Lernen aus eigenen Fehlern jedoch, er macht andere für Rückschläge verantwortlich und kultiviert den Schmerz, der aus ihnen entsteht, um Protagonisten zur dunklen Seite hin zu manipulieren. Die angebliche Entwicklung zur Erlösung hin ist in Wirklichkeit ein Stillstand der Verbitterung.“
Die Stärke der alten Narrative
Eigentlich eine ziemlich miese Erzählung: Loszuziehen – und nichts ändert sich. „Wo die pluralistischen Protagonistinnen an den Antagonismen wachsen, die sie überwinden müssen, brauchen die Faschisten schier unüberwindbare, maximale Antagonismen, um selbst nicht wachsen zu müssen.“
Ihre Helden lernen nichts und ändern sich auch nicht. Sie erleben nicht das Moment der „Schwelle“, an der sie merken, dass sie alleine gar nichts ausrichten können. Und mit sturem Drauflosschlagen auch nicht. In den großen Heldengeschichten suchen sich die Helden dann in der Regel Rat und Unterstützung, Freunde und Helfer.
Und sie setzen sich den eigenen Ängsten und Zweifeln aus. Die wirklich großen Helden in der Literatur sind zweifelnde und lernende Helden. Und sie warten auch nicht, bis ihnen einer den Drachen zeigt, den sie totschlagen sollen.
Es verblüfft schon, dass El Ouassil und Karig am Ende dennoch in den alten Narrativen bleiben. Denn natürlich können wir uns unser Dasein nicht einfach von heute auf morgen in völlig anderen Formen erzählen. Das funktioniert nicht. Dazu sind die alten Muster zu fest eingebaut in unsere Kultur. Aber wir können sie anders erzählen.
Und die Geschichte des Romans zeigt, dass sich die alten Aventiuren anders erzählen lassen, dass sehr wohl jede Menge Menschen offen dafür sind, ihrem Leben eine andere Tiefengeschichte zugrunde zu legen, eine, die besser zur heutigen Wirklichkeit passt, in der sie sich mit sich selbst und dieser Welt besser im Einklang fühlen.
Es gar nicht erst zum Armageddon kommen lassen
Vielleicht sind es weiblichere Formen der Geschichte. Narrative, die nicht den strahlenden (und einsamen) Helden in den Mittelpunkt stellen, der nach gloriosen Schlachten irgendeinen Feind besiegt. Denn so werden wir keines unserer Probleme lösen. Denn die „Feinde“, die wir heute vor uns haben, können wir so nicht besiegen. Es braucht ein völlig anderes Heldentum, das vielleicht – im alten Sinne – gar keines ist.
Obwohl es genauso Mut braucht, Ausdauer und Konfliktbereitschaft. Wir brauchen Held/-innen, die die Herausforderung annehmen, weit bevor der Tiefpunkt der Geschichte erreicht wird und nichts mehr zu retten ist. Held/-innen, die die Dinge ändern, bevor das Klima endgültig kippt.
Und wir brauchen ein anderes Narrativ, eines, das das dominierende Narrativ der Faschisten und der „Alles-bleibt-so“-Konservativen ersetzt, all diese Bilder von Armageddon und Weltuntergang, in denen sich die Schwarzmaler und Medien suhlen, die Hollywood mit grandioser Begeisterung für das dramatische Ende inszeniert, und die trotzdem achselzuckend beiseite gewischt werden mit dem Hinweis an die Gläubigen: Ihr braucht euch nicht zu ändern. Wir machen das schon.
Aber dieses Märchen gilt nicht mehr. Wir müssen uns alle ändern. Und wir müssen auch lernen, die falschen Narrative zu entlarven. Nein, eine ewige Wachstumsgesellschaft, wie sie uns eingeredet wird, gibt es nicht. Und der Wohlstand unserer Gesellschaft macht nicht glücklich, nicht mal die, die alles haben.
Denn jeder Bericht zum seelischen Zustand unserer westlichen Welt erzählt von Frustration, Depression, Sucht. Sucht aber erzählt davon, dass Menschen zutiefst unglücklich sind, dass sie sich in ihrem Leben nicht aufgehoben fühlen und nicht lebendig in ihrer Haut.
Denn natürlich merken wir alle, wenn unsere Lebensgeschichten nicht stimmen, wenn wir in lauter Surrogaten leben (die uns die Werbung aufdrängt), aber selbst nicht das Leben leben, das wir uns eigentlich wünschen. Und zwar ein richtiges. Kein virtuelles.
Die falschen Märchen der Wohlstandswelt
„Die Gewalt gegen unsere Lebensgrundlagen kann ein Ende finden“, schreiben El Ouassil und Karig. „Sie ist weder ‚alternativlos‘ noch Bedingung unserer Möglichkeiten. Dass wir dies noch nicht verstehen, liegt in der Natur unserer Heldenreise. Die Heldin muss erst an einem Tiefpunkt angelangt sein, um den Irrweg als Irrweg zu erkennen. Der Missbrauch der Macht, so Simone Weil, liege dabei nicht in der Verfolgung und Tötung des Gegners, sondern in der Maßlosigkeit der Mächtigen.“
Und kurz vorm Finale noch eine simple Feststellung: „Einige der stärksten (und verlogensten) Narrative unserer Zeit sind Anti-Heldenreisen. Sie versprechen den Menschen kein Abenteuer, keine Reise, keine Transformation. Ihre ebenso fatale wie verführerische Botschaft lautet: Alles kann so bleiben, wie es ist. Wir müssen uns überhaupt nicht ändern.“
Nichts muss so bleiben, wie es ist. Wir dürfen uns ändern. Aber das werden wir nur in einer realen Welt können, um deren Erhalt wir jetzt kämpfen. Gegen Drachen, die nur zu gern so tun, als wären sie unsere Verbündeten, während sie das Klima verheizen, die Natur zerstören, Kriege anzetteln und Pandemien Tür und Tor öffnen.
Und uns mit falschen Geschichten das Gefühl geben, man könnte ja dann auf einen Planet B übersiedeln, wenn dieser einzige lebendige Planet weit und breit in eine Kloake oder Wüste verwandelt wurde.
Der Weltuntergang der Maßlosen
Und es geht um die Geschichte danach, das, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Denn die Weltuntergangsszenarien haben auch noch einen anderen Sinn: Sie sollen uns entmutigen, uns einreden, dass wir nichts (mehr) ändern können, dass die Welt sowieso in den Abgrund kippt. Nichts ist so lähmend wie diese falsche Erzählung, die lediglich bezweckt, dass die Maßlosen weiter unsere Erde plündern und unsere Lebensgrundlagen vernichten dürfen.
Höchste Zeit, diese Heldengeschichten auf keinen Fall mehr den Schlagetots zu überlassen. Erzählen wir andere Heldinnengeschichten. „Unsere These war und ist, dass Narrative, verpackt in mächtige Kulturprodukte, politische Programme oder platte Popsongs, heute die größte transformative Kraft besitzen.“ Wir müssen uns ändern. Und wir können uns ändern.
Vielleicht sollte man genau damit anfangen: Es liegt in unserer Hand. Nichts von dem, was uns vorgesetzt wird, ist alternativlos. Wenn wir bleiben wollen, müssen wir uns ändern. Und lernen, andere Geschichten über das Morgen zu erzählen. Solche, zu denen es sich lohnt, aufzubrechen.
Samira El Ouassil; Friedemann Karig Erzählende Affen, Ullstein Verlag, Berlin 2021, 25 Euro.
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