Was ist wirklich wichtig im Leben? Was bleibt in Erinnerung? Was gibt uns das Gefรผhl von Zuhause? Ziemlich oft landet man bei solchen Fragen bei Omas Kochbuch im Regal und den Gerichten unserer Kindheit. Manchmal auch gleich beim Klassiker aus dem Verlag fรผr die Frau โ€žWir kochen gutโ€œ. Aber was kommt dabei heraus, wenn man die Ostdeutschen bittet, ihre Lieblingsrezepte einzusenden?

Der Buchverlag fรผr die Frau hat dazu einige im Osten erscheinende Medien wie die โ€žSuperilluโ€œ um Mitwirkung gebeten. Oder kam die selbst auf die Idee? Ist auch egal. Denn das Ergebnis hรคtte es so auch mit anderen Medien gegeben, vielleicht noch viel dicker. Denn Essen ist identitรคtsstiftend. Es sind die GroรŸmรผtter und Mรผtter, die den Geschmack der Kinder prรคgen, geprรคgt haben und geprรคgt haben werden.Man kann nur hoffen, dass die Kรผche nicht ausstirbt in Deutschland, erschlagen von Fastfood und Fertigprodukten aus dem Supermarkt und einem Einheitsgeschmack fรผr alle, der es egal werden lรคsst, wo man was isst. Oder besser bleiben lรคsst, weil diese auf Normgeschmack getrimmten Produkte nicht nur sehr ungesund sind, sondern auch die Geschmackserlebnisse killen. Und damit eine ganze Welt. Die Welt der Geschmacks- und Essensabenteuer.

Aber noch gibt es diese Kรผchen. Und viele Einsender/-innen berichten mit Stolz davon, woher sie die Rezepte haben, dass manche schon seit Generationen so in der Familie bewahrt werden. Und dass diese Rezepte fast immer auch die Erinnerungen an geliebte GroรŸmรผtter und UrgroรŸmรผtter enthalten. Wobei auch einige mรคnnliche Kochmeister sich zu Wort melden โ€“ die es natรผrlich gibt.

Leckere Kรผche, aus der Not geboren

In gewisser Weise ist dieses Buch auch ein Blick in eine vergangene Welt, die nichts an ihrer Herzenswรคrme verliert, wenn man trotzdem meist Frauen am Herd stehen sieht. Frauen, die auch kochen mussten, weil es anders nicht ging. Weil man nicht einfach abends irgendwo eine Pizza bestellen konnte oder ein frisches Sushi. Was es ja sowieso nicht gab. Fast kรถnnte man meinen: zum Glรผck.

Denn die ostdeutsche Kรผche war โ€“ gezwungenermaรŸen โ€“ bis 1989 immer eine Kรผche der Improvisation, der begrenzt verfรผgbaren Zutaten und damit des Einfallsreichtums der Kรถchinnen und Kรถche, die aus dem im Angebot Vorhandenen etwas zaubern mussten. Und das auch schafften.

Denn โ€“ die teilweise sogar abgebildeten uralten Kochbรผcher und Rezeptsamlungen beweisen es โ€“ damit konnten die Kรถch/-innen in der DDR immer auch auf die Erfahrungen und Erfindungen aller vorhergehenden Gesellschaftsordnungen und Notzeiten zurรผckgreifen.

Mit der Brennnesselsuppe, der Kohlrรผbensuppe und der Brotsuppe kommen sogar drei dieser immer wieder neu zu Ehren kommenden Nachkriegsgerichte ins Bild, die in manchen Familien bis heute bewahrt werden und im Zeichen unserer heutigen Fastfood-รœbersรคttung zeigen, dass man mit einfachen Mitteln jederzeit auch eine gesunde Mahlzeit bereiten kann.

Wir sind nicht auf die Gnade der groรŸen Lebensmittelkonzerne angewiesen. Das ist eigentlich das Beglรผckende an solchen Bรผchern, an all den Reprints aus dem Buchverlag fรผr die Frau oder den ganzen Bรผchern zu Regionalkรผchen: Sie erzรคhlen davon, dass wir armen Hungerleider am Ende der Nahrungskette ganz und gar nicht machtlos sind und nicht darauf angewiesen, das mit Zucker, Salz und Ersatzstoffen aufgepeppte Angebot aus dem Supermarkt zu kaufen und auch noch zu essen.

Alle nahrhaften, leckeren und gesunden Gerichte brauchen in der Regel nur wenige, jederzeit auch original beim Gemรผsehรคndler oder Fleischer zu bekommenden Zutaten.

Der Reichtum einer Mangelwirtschaft

Und die DDR-Kรผche, fรผr die ja auch die legendรคren Kochbรผcher aus dem Verlag fรผr die Frau stehen, hat eigentlich bewiesen, dass man selbst in einer Mangelwirtschaft gut und herzhaft und gesund essen kann. Da haben sich ja bekanntlich ganze wissenschaftliche Kollektive drum gekรผmmert. Und in fast allen Haushalten im Osten stehen diese durchdachten Kochbรผcher bis heute im Kรผchenschrank.

Und niemand wird sich wirklich daran erinnern, dass das nicht schmeckte und Mutter oder Vater, Oma oder Opa mit der Anleitung aus diesen Bรผchern nicht echte, unverwechselbare Familiengerichte zubereitet haben. Solche, die es in vielen Familien noch heute zu Geburtstagen, Ostern und Weihnachten gibt.

In der Regel leicht zubereitet mit Zutaten, fรผr die man nur auf den Frischemarkt gehen muss, um sie zusammenzubekommen. Auch fรผr jene Exoten, die in vielen Familien ganz selbstverstรคndlich zur Tradition wurden, obwohl es eigentlich lauter eingewanderte und eingemeindete Rezepte sind โ€“ so wie Soljanka oder in diesem Band Bigos, Shakshuka oder Liwanzen.

In den vielen kleinen Texten, die die Einsender/-innen mitgeschickt haben, spรผrt man den Stolz darauf, mit diesen Rezepten etwas unverwechselbar Eigenes zu besitzen. Es hรคngen Geschichten und Erinnerungen an unzรคhlige Familienfeiern und ungemein liebenswerte Menschen daran.

Wahrscheinlich ist das auch ein Stรผck Wahrheit: Ostdeutsche Frauen haben auch mit ihrer Kochkunst geherrscht, gewaltet und Familien befriedet. Am Ende mit Liebe, die durch den Magen ging. Hartnรคckig, manchmal resolut. Es kommt sogar ein echtes Mรคkelkind vor, das hartnรคckig alles verweigerte, was es von Haus aus nicht kannte. Aber an der Oma biss es sich die Zรคhne aus.

Die wilde Welt der Geschmacksvielfalt

Man lernt so auch: Hartnรคckigkeit zahlt sich aus. Kinder brauchen manchmal Widerstand, gerade heute, wo sie allseits mit ungesundem Zeug gekรถdert werden und sich natรผrlich davor fรผrchten, dass Dinge vรถllig anders schmecken kรถnnen als nach Industriezucker.

Das kennt eigentlich jeder irgendwie: Gerade weil Geschmackserlebnisse oft heftig, neu, irritierend und wild sein kรถnnen, ist man als Knirps natรผrlich erst mal skeptisch. Das ist gut so. Denn es erzรคhlt davon, dass das Kind seine Geschmacksnerven noch hat und lieber kein Risiko eingehen mรถchte, mit Dingen, die erst einmal so seltsam aussehen wie Nudelkuchen, Aschebrรคtel, Kรถnigsberger Klopse, Kรคserolle oder Speckkuchen.

An so etwas tastet man sich lieber ganz vorsichtig heran โ€“ mit beharrlichem Zureden von Oma. Und spรคter dann kann man sowieso nicht mehr anders, als sich so etwas immer wieder zu wรผnschen, wenn man bei Oma zu Besuch ist. Und dabei ist das nur eine Auswahl, viele berรผhmte Gerichte aus der Ostkรผche sind hier gar nicht abgebildet.

Die stehen in den anderen Kochbรผchern aus dem Buchverlag fรผr die Frau und sind ebenso in Millionen Familien lรคngst zu Familienrezepten geworden. Leicht abgewandelt mit Zutaten, die es damals nicht immer gab. Oder mit den Frรผchten der Jahreszeit. Aber man wird in fast allen Fรคllen fรผndig in diesen alten Kochbรผchern, die ja ihrerseits auch wieder Sammlungen aus Familienkochbรผchern waren.

Denn als der Verlag fรผr die Frau damals โ€“ vor 75 Jahren โ€“ anfing, den kochenden Frauen und Mรคnnern im Osten Tipps und Ratschlรคge zu geben, griff das Redaktionsteam selbst auf die Erfahrung von Frauen zurรผck, die in vielen kargen Jahrzehnten davor gelernt und ausprobiert hatten, was man mit dem normal im Laden Verfรผgbaren alles kochen kann fรผr eine hungrige Familie.

Oder backen, schmoren, anrรผhren. Es gibt ja auch wieder einen Teil mit Kuchen und Desserts im Buch. Gedarbt hat man ostwรคrts der Mauer nie wirklich. Und die westdeutsche Kรผche war es garantiert nicht, die die Ostdeutschen am 9. November 1989 dazu brachte, die Mauer niederzureiรŸen.

Herzhaft essen im Malocherland

Alle diese Rezepte und Erinnerungen zeigen, dass es diesseits von Harz und Elbe bis heute eine eigenstรคndige, fast verschworene Kรผchentradition gibt. Einfallsreich, da und dort ein wenig exotisch, aber niemals etepetete, aufgetakelt und aufgemotzt.

Denn hier ging es โ€“ der Staatsdichter Brecht hat es ja so schรถn formuliert โ€“ um das Essen, nicht um die Moral. Und zwar um deftiges Essen, denn der Osten war ein Malocherstaat, in dem jeder und jede zumeist sehr krรคftig mit anpacken musste.

Was die Hausfrau kochte, musste also auch die Jungs am Tisch richtig satt machen, die โ€“ anders als heutige Kinder โ€“ eben nicht mit Smartphone und PC-Game ruhiggestellt wurden, sondern rausgeschickt wurden auf die StraรŸe zum Toben.

Und natรผrlich hat der Verlag auch die mit ihm kooperierenden Autorinnen und Autoren gebeten, ihre eigenen Familiengerichte beizusteuern โ€“ von Kabarettist Gunter Bรถhnke รผber den Zauber-Peter bis zu Regina Rรถhner und Gudrun Dietze. Nicht zu vergessen Ute Scheffler, die in diesem Jahr verstarb und der der Verlag das Buch gewidmet hat.

Und da auch viele junge Einsender ihre Familienrezepte geschickt haben, darf man wohl Hoffnung haben, dass die Ostdeutschen das Kochen und Backen nicht verlernen, vielleicht gerade jetzt erst richtig wieder fรผr sich entdecken, da wir ja nun einmal alle wissen, dass man nur so wirklich weiรŸ, was drin ist in den Mahlzeiten. Und was besser nicht.

Es ist ein Stรผck Rรผckgewinnung von Souverรคnitรคt. Und wenn das รผber das Essen passiert, ist das vielleicht gar nicht mal der falsche Weg. Auch Selbstbewusstsein geht durch den Magen. Und wer das Gefรผhl kennt, sich am Lieblingsrezept der Familie richtig satt gefuttert zu haben, der weiรŸ auch, wie sehr es sich von dem flauen, unfertigen und ziemlich unglรผcklichen Gefรผhl unterscheidet, das man nach dem Verzehr eines Fertigprodukts im Magen hat.

Mehr muss man dazu wohl gar nicht sagen. Es ist wirklich Zeit, dass wir uns wieder wertzuschรคtzen lernen. Und das Glรผck wiederfinden, das darin besteht, genauso lecker und unverwechselbar kochen zu kรถnnen wie Oma. Mancher hat ja dafรผr sogar sein Familienfotoalbum geplรผndert, meist unscharfe uralte Schwarz-WeiรŸ-Fotos.

Aber wenn man Omas Rezept dann bis aufs Tรผpfelchen genau nachkocht, ist es, als wรผrden auch die alten Fotos wieder lebendig. Auch Erinnerung geht durch den Magen. Und wenn man etwas vererben sollte, dann sollte es immer das Familienkochbuch sein.

Das Familienkochbuch Die Rezepte unseres Lebens, Buchverlag fรผr die Frau, Leipzig 2021, 19,95 Euro.

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