Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Aber für Oliver Schröm ist das Jahr 2021 so etwas wie ein Abschied von den Recherchen zum „größten Steuerraub der Geschichte“. Seit 2013 war er einer der wichtigsten Journalisten bei der Aufdeckung der Raubzüge, mit denen Banker, Anwälte und Superreiche die Staatskassen plündern und sich Steuern zurückerstatten lassen, die sie niemals gezahlt haben. Das Buch ist Bilanz und Zwischenstandbericht zugleich.
Als Schröm 2013 seine Recherchen begann, arbeitete er noch beim „Stern“. Ein Anruf unterwegs bringt ihn auf die Spur einer großen Verschwörung, in der sich clevere Steueranwälte mit Bankern und Superreichen zusammengetan haben, um die Steuerkassen zu plündern. Diese trickreichen Geschäfte rund um die Tage der Dividendenausschüttung großer Konzerne sind heute als Cum-Ex-Geschäfte bekannt.
Und zumindest in deutschen Medien ist das Thema seitdem immer wieder präsent. Auch durch die Arbeit Schröms und seiner Kollegen – zuerst beim „Stern“, später beim ARD-Magazin „Panorama“ und bei dem von ihm mitgegründeten Rechercheportal Correctiv, wo man natürlich auch entsprechende Übersichtsseiten zu Cum-Ex findet.
Organisierter Raubzug im feinen Zwirn
Im Rechercheverbund erschienen Artikel auch in der „Zeit“ und im „Handelsblatt“ und über Correctiv gibt es seit 2018 auch einen europaweiten Rechercheverbund, denn die organisierten Räuber im feinen Zwirn haben nicht nur in Deutschland die Finanzämter dazu gebracht, ihnen Steuern zu erstatten, die sie niemals gezahlt hatten. Dieselben Tricks haben sie auch in den Nachbarländern angewandt.
Correctiv beziffert den Gesamtschaden für die Haushalte der geplünderten Länder mittlerweile auf 150 Milliarden Euro. „Dieses Geld fehlt den Staaten in den Etats für Umweltschutz, Bildung, Verkehrswende oder Digitalisierung“, kann man da lesen. Deutschland steht allein mit 36 Milliarden Euro Steuerschaden da, in Frankreich – wo diese Recherchen viel später starteten – sind es über 33 Milliarden, in den Niederlanden 27 Milliarden usw.
Wenn Journalisten der Wirtschaftsspionage verdächtigt werden
Dass Schröm mit diesem Buch auch eine Art Punkt setzen konnte, hat auch damit zu tun, dass es 2020 die ersten strafrechtlichen Urteile gab und der Bundesgerichtshof im Juli 2021 endgültig feststellte, dass Cum-Ex eine strafbare Steuerhinterziehung ist und eben nicht – wie von den Anwälten und Bankern immer wieder behauptet – ein Steuerschlupfloch, das der Gesetzgeber nur vergessen hätte zu schließen. Motto: Die Politiker sind schuld …
Diese Argumentation hat lange gewirkt – und das Leben von recherchierenden Journalisten wie Schröm gefährlich gemacht. Denn seine Recherchen begannen in der Schweiz, die sich bis heute viel zugutehält auf ihr Steuergeheimnis, das vor allem eine Gruppe schützt: Steuerflüchtlinge. Als der „Stern“ dann aber begann, über die Machenschaften der Sarasin-Bank und der mit ihr agierenden Steuerräuber zu berichten, behandelte ein Schweizer Staatsanwalt den Fall, als hätte Schröm Wirtschaftsspionage betrieben.
Zuletzt brachten die Schweizer sogar noch die Hamburger Staatsanwaltschaft dazu, gegen Schröm zu ermitteln, obwohl längst öffentlich war, wie trickreich und mit welcher kriminellen Energie da Banker und Finanzjongleure und eine ganze Reihe sehr bekannter deutscher Superreicher die Staatskassen plünderten.
Und ein Glücksfall war, dass es zumindest zwei Staatsanwaltschaften in Frankfurt und Köln gab, denen die Sache so suspekt war, dass sie viel Zeit und Kraft dahinein investierten, die krummen Geschäfte hieb- und stichfest zu belegen und die ersten Täter vor Gericht zu bringen.
Der Aufwand journalistischer Recherche
Im letzten Teil des Buches steht dann die Warburg Bank in Hamburg im Zentrum von Schröms Zeitleiste, auch wenn sie nicht die einzige deutsche Bank war, die das perfide Spiel um unsere Steuergelder mitspielte. Doch sie und einer ihrer Inhaber standen seit 2020 besonders im Fokus der Aufmerksamkeit, als – auch durch Schröms Recherchen – bekannt wurde, dass die Bank ihre Beziehungen zum damaligen Hamburger Bürgermeister spielen ließ, um die Rückzahlung der zu Unrecht kassierten Beträge zu verhindern.
Ausgesprochen brisant ist der Vorgang ja deshalb, weil der damalige Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz hieß. Und dessen Finanzsenator Tschentscher ist heute Scholz’ Nachfolger als Bürgermeister in Hamburg.
In diesem Buch nimmt Schröm seine Leser/-innen mit auf die Reise und erzählt die Geschichte der Aufdeckung dieses Cum-Ex-Raubzugs chronologisch, sodass man praktisch mittendrin ist in der aufwendigen und mühsamen Arbeit der Rechercheure, die sich selbst ja auch durch tausende Dokumente arbeiten mussten, um die Vorgänge überhaupt verstehen, überblicken und belegen zu können.
Demokratie braucht starken Investigativjournalismus
So ganz beiläufig bietet das Buch einen Einblick in die ressourcenintensive Arbeit von journalistischen Recherche-Kollektiven, die ohne moderne (und besonders geschützte) Speicher und Archivierungsprogramme gar nicht mehr arbeiten können. Ein Aufwand, den sich nur noch wenige große Medien und Redaktionen leisten können.
Was Schröm durchaus bewusst war. Die Gründung von Correctiv war ja eine Folge dieses Bedarfs. Es ist zumindest ein kleiner – spendengestützter – Versuch, den Verlust von jeder Menge Knowhow und Investigativkraft in einem vom Auflagenschwund geprägten Medienmarkt aufzufangen. Gerade die Cum-Ex-Recherchen zeigen, wie bitter nötig eine Demokratie einen gerade in der Recherche starken Journalismus hat. Denn ohne diese Recherchen und die entsprechend stark rezipierten Veröffentlichungen wären auch die juristischen Ermittlungen wohl nicht in Gang gekommen.
Die Macht des wirklich großen Geldes
Denn die Leute, die hier im Scheinwerferlicht stehen, kennen alle Tricks, wie man seine Beziehungen spielen lässt, haben engste Verbindungen in die Politik, nehmen – über Banken und Lobbyverbände – immer wieder direkten Einfluss auf Gesetze und sorgen dafür, dass immer wieder auch Steuerschlupflöcher in den Gesetzen stehen.
Und sie sind reich, unvorstellbar reich, was besonders emotional in jenem Abschnitt wird, in dem Schröm den wohl wichtigsten Seitenwechsler zu Wort kommen lässt, der sein Wissen mit der Staatsanwaltschaft teilte und (maskiert) vor laufender Kamera erzählte, wie diese Welt tickt, die die meisten Deutschen nur aus Boulevardzeitungen kennen – und manchmal anschmachten. Obwohl es da nichts anzuschmachten gibt.
Immer wieder dasselbe Spiel
Denn selten hat ein Buch so deutlich gemacht, wie sehr Geld den Charakter verdirbt und die Besitzer von viel zu viel Geld regelrecht skrupellos werden, wenn es darum geht, auch noch die Kasse des Staates zu plündern. Es sind dieselben Leute, die in jedem Wahlkampf dafür sorgen, dass mindestens eine Partei mit Steuersenkungsplänen ins Rennen geht und den wirklichen, nämlich den kleinen Steuerzahlern einredet, sie würden dem „gierigen Staat“ zu viel Geld in den Rachen werfen.
Es sind genau diese Leute, die die Erzählung am Kochen halten, „der Markt“ könne alles besser als der Staat, Umverteilung sei des Teufels und der Staat sei sowieso übergriffig, wenn er von „Leistungsträgern“, die jedes Jahr Millionen scheffeln, auch noch Steuern haben wolle.
Die Verachtung der Superreichen für die da unten
Der im Buch Frey genannte Gesprächspartner beschreibt das so: „Stellen Sie sich ein 38 Stockwerke hohes Haus in Frankfurt vor. Wenn Sie da runtergeguckt haben auf die Straße, auf die Taunusanlage, dann haben Sie nur noch ganz kleine Menschen gesehen. Wir haben von da oben aus dem Fenster geguckt und haben gedacht: Wir sind die Schlauesten. Wir sind die Genies. Und ihr seid alle doof.“
Und da auch einige der im Boulevard so gern umschmeichelten Superreichen ins Bild kommen, wird auch deutlich, wie wenig soziales Gewissen bei diesen Leuten zu finden ist. Sie gingen auf die Cum-Ex-Angebote auch dann ein, wenn sie wussten, dass dahinter keine realen Geschäfte steckten, sondern nur eine besonders ausgefeilte Methode, sich vom Staat Steuern erstatten zu lassen, die nie gezahlt worden waren.
Die Mentalität eines kleinen Paralleluniversums
Beim Besuch einer der Männer, die diese Geschäfte eingefädelt hatten, kann Schröm selbst besichtigen, mit welchen geradezu erschütternd kitschigen Vorstellungen diese Leute ihr Geld dann ausgeben. Da darf man ruhig an den alten Sparkassen-Werbeclip von „Mein Haus, mein Auto, meine Jacht“ denken. Man landet in einer Welt, in der sich Männer, die von ihrer Genialität überzeugt sind, gegenseitig nur noch zu übertreffen versuchen mit einer noch größeren Jacht, noch größeren Villen und noch größeren Autos.
Eine wirklich aufregende Idee, was aus dem Leben zu machen wäre, haben sie alle nicht. Dafür einen CO2-Fußabdruck, der eigentlich nur noch erschreckend ist – und so nebenbei auch erzählt, wer und was eigentlich für unsere Klimakatastrophe verantwortlich ist. Und wie das lächerliche Bild von Wohlstand, das diese Herren ausstellen, auch das Wohlstandsbild all der kleinen Menschen da unten ist, die die da oben um ihren Ausblick aus der 38. Etage beneiden.
Und wie sehr diese von sinnlosem Raffen beherrschte Gier auch Teil und Ursache der Finanzkrise von 2008 / 2009 war, hat ja Joris Luyendijk 2015 schon in seinem Buch „Unter Bankern“ geschildert, das wir hier und hier in zwei Teilen besprochen haben.
Die Ausreden funktionieren nicht mehr
Und eben dieses von der Gier und dem Druck, Cash zu machen, beherrschte London, das Luyendijk schildert, ist auch wesentlicher Teil des Cum-Ex-Karussells, das Schröm hier schildert. Im Anhang erklärt sein Kollege Manuel Daubenberger dann noch einmal, wie Cum-Ex und Cum-Cum und ein Produkt, das Journalisten inzwischen Cum Fake nennen, funktionieren. Für Außenstehende, die mit Aktienhandel und Aktienspekulationen nie etwas zu tun hatten, wirkt das Ganze auf den ersten Blick wie ein Buch mit Sieben Siegeln.
Aber Schröm zeigt eben auch, dass man sich nur tief genug einarbeiten muss in die Materie, die Verbindungen und die Rolle der einzelnen Spieler, um zu sehen, dass das mit Steueroptimierung alles nichts mehr zu tun hat, sondern tatsächlich kriminelle Machenschaften am Werk sind, bei denen sich keiner der Beteiligten damit herausreden kann, er wüsste nicht, wer da eigentlich geplündert wird.
Woanders marodiert der moderne Raubzug einfach weiter
Und das übrigens nicht erst seit Cum-Ex, das es möglicherweise erst seit 2000 gibt. Denn Cum-Cum als kriminelle Ausnutzung der Steuerkassen gibt es augenscheinlich schon seit den 1970er Jahren. Auch seit damals schon von cleveren Bankern, Anwälten und Multimillionären vorangetrieben und wohl auch heute noch im Gange. Denn wenige Staaten sind bei der juristischen Verfolgung dieser noblen Räuberbande überhaupt schon so weit wie Deutschland oder Dänemark. Anderswo gehen diese Raubzüge augenscheinlich munter weiter.
Und Schröm macht noch etwas sichtbar, was die meisten braven Steuerzahler überhaupt nicht wahrnehmen: Dass diese schwerreichen Diebe auch keine Skrupel kennen, Whistleblower und Journalisten strafrechtlich verfolgen zu lassen. Denn mit ihrem Geld können sie sich die teuersten und schlagkräftigsten Anwaltskanzleien leisten.
Freibrief zur Kriminalisierung
Unterm Datum „Brüssel, 26. November 2018“ geht Schröm auf den sehr seltsamen Versuch der Bundesregierung ein, den Paragrafen 17 im „Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb“ (UWG) zu reformieren – aber nicht im Sinne der EU-Vorgabe zu mehr Transparenz, sondern im Gegenteil.
Der Referentenentwurf aus dem Bundesjustizministerium machte nicht nur die Weitergabe betriebsinterner Dokumente durch Whistleblower strafbar, sondern auch deren Annahme durch Journalisten. Das Wettbewerbsrecht wäre also zum Handwerkszeug geworden, Journalisten, die kriminelle Vorgänge in großen Unternehmen öffentlich machen wollen, zu kriminalisieren.
Medien unter juristischem Dauerfeuer
Die Novelle konnte damals durch einen öffentlichen Aufschrei verhindert werden. Aber sie machte eben auch sichtbar, welche Macht die Superreichen und Skrupellosen haben, sich Gesetze nach Maß schneidern zu lassen und jede Aufklärung zu verhindern. Dieser Versuch, das Wettbewerbsrecht gegen lästige Journalisten anzuwenden, fiel ausgerechnet in die Zeit, in der die Hamburger Staatsanwaltschaft gegen Schröm ermittelte.
Spätestens hier weiß man, warum große Medien auch eine gut ausgestattete Justizabteilung brauchen, in der die wirklich brandheißen Beiträge vor der Veröffentlichung geprüft werden und auch schon dicke Schutzschriften bei allen mögliche Gerichten hinterlegt werden, bevor auch nur die Anfragen an die im Text Erwähnten rausgehen.
Totale Einhegung unmöglich – und trotzdem etwas Zuversicht
Auf den letzten Seiten geht Schröm auch noch auf die Möglichkeiten der Politik ein, den systematischen Steuerbetrug einzuhegen und zu unterbinden. Auch wenn ihm einige Gesprächspartner versichert haben, dass eine völlige Einhegung dieser kriminellen Masche wohl nicht möglich sein wird.
Ein Grund dafür sind die nicht miteinander verbundenen Erfassungssysteme der Steuerbehörden. Ein anderer ist die fehlende internationale Kooperation. Einige Länder, die nachweislich genauso schwer von Cum-Ex-Diebereien betroffen sind wie Deutschland, haben das Thema immer noch nicht ernst genommen.
Aber gerade die Entwicklungen 2020 und 2021 geben Schröm etwas Zuversicht, dass jetzt zumindest Politik und Justiz in Deutschland wach geworden sind und sich von den faulen Ausreden, hier wäre es nur um „legale“ Steuerschlupflöcher gegangen, nicht mehr in die Irre führen lassen. Und mittlerweile sind auch die Verjährungsfristen erweitert worden, sodass etliche der Täter und Mittäter die zu Unrecht kassierten Millionen wohl doch noch zurückzahlen müssen. Plus Zinsen.
Ein wirklich realer Wirtschaftskrimi
Die ersten Prozesse sind gelaufen. Gegen hunderte weitere Beteiligte laufen die Ermittlungen noch. Und auch die Schweiz, die einst die Ermittlungen wegen Wirtschaftsspionage gegen Schröm ausgelöst hat, ist kein sicheres Land mehr für die Räuber mit den weißen Hemdkragen.
Im Grunde ist dieses Buch, in dem Schröm eigentlich nur erzählt, wie aufreibend auch die Arbeit eines Journalisten sein kann, ein Krimi aus dem realen Leben. Mit echten Ganoven, denen der Rausch des Geldes zu Kopf gestiegen ist, Bankern ohne jedes Gewissen, Politikern mit riesigen Erinnerungslücken, und natürlich diversen Recherche-Kollektiven, verängstigten Whistleblowern. Und selbst Mitarbeitern von Ministerien und Staatsanwaltschaften, die lieber konspirativ mit den Journalisten Kontakt aufnahmen, wissend darum, dass die mächtigen Reichen niemanden lieber vor den Kadi zerren, als den Boten, der ihre schmutzigen Geheimnisse verrät.
Spannung pur. Und ein gelindes Entsetzen für alle, die die vielen Cum-Ex-Geschichten bis jetzt nur als Unterhaltung wahrgenommen haben, nicht als Berichterstattung über die tiefschwarze Seite unserer vom Reichtum verblendeten Welt.
Oliver Schröm Die Cum-Ex-Files, Ch. Links Verlag, Berlin 2021, 18 Euro.
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