Ist das jetzt nur ein Faible? Natürlich nicht. Auch wenn es einen wie den Münchener Autor Wolfgang Seidel natürlich auch wegen der Frauen, der begnadeten Sängerinnen in die Oper zieht. Aber was er mit diesem Buch macht, ist dennoch ein Novum. Denn einfach ums schöne Aufzählen der berühmten Frauengestalten in der Oper geht es ihm gar nicht. Denn nichts erzählt derart eindrucksvoll vom Zustand der Gesellschaft wie die Rolle der Frau. Auch und gerade auf der Bühne. Ohne Frauen und ihre Liebe ist Oper undenkbar.

Abbild unserer Wirklichkeit

Und Gesellschaft erst recht nicht. Denn was uns da vorne bannt und aufregt und erschüttert, das ist immer ein Abbild unserer Wirklichkeit. Und ihrer Verzerrungen, Machtgefälle und uneingelöster Versprechen. Was erst richtig deutlich wird, wenn einer wie Seidel sich die berühmtesten Opern anschaut und den Blick auf die handelnden Frauen richtet.

Und gleichzeitig das nötige Wissen mitbringt über die Herkunft der Stoffe, die Komponisten und Librettisten und die Zeit, in der die jeweiligen Opern erstmals auf die Bühne kamen. Denn das alles spielt mit. Samt dem Publikum, das da vorn seine Erwartungen erfüllt sieht oder enttäuscht.

Denn auch und gerade weil Opern die größten Live-Inszenierungen ihrer Zeit sind, funktionieren sie nur, wenn sie etwas zum Klingen bringen, aufregen, von den Sesseln reißen oder eben sichtbar machen.

Es ist einfach alles dabei

Sie erzählen schließlich Geschichten auf mehreren Ebenen. Warum begeistert eine Carmen bis heute, warum kennt fast jeder Tosca oder die Königin der Nacht? Nur wegen ihrer großartigen Gesangsstücke? Manche wohl wirklich nur deshalb. Auf Tonträgern ist das alles ja jederzeit verfügbar.

Aber Oper ist eigentlich kein Gesangswettbewerb, Opern erzählen Geschichten. Und für drei, vier Stunden leidet man – auch wenn man den Stoff schon kennt – mit all diesen Frauen: furchtsamen, naiven, stolzen, eigenwilligen, angepassten, machtbewussten, liebesuchenden.

Es ist alles da. Und Seidels Buch ist vor allem eines: Eine großartige Würdigung für die Frauen, auch in Opern, in denen sie nicht im Titel stehen. Obwohl die ganze Story ohne sie nicht funktioniert.

Die Konflikte einer verklemmten Gesellschaftsmoral

Meist geht es um Liebe. Aber nicht immer. Liebe ist klassischerweise immer das Ding, bei dem Menschen ehrlich werden, ihre Rollen verlassen und sich öffnen. Wahrscheinlich nicht ohne Grund die eigentliche Nagelprobe auf das Menschsein und den Mut zum selbstgewählten Leben.

Was historisch betrachtet oft fast unmöglich war. Viele Konflikte in den berühmten Opern funktionieren nur, weil sie in brachialer Wucht die Liebenden mit den Normen einer Gesellschaft kollidieren lassen, in der strenge Regeln des Anstands, des Status, des Besitzes gelten.

Es verblüfft, aber Seidel hat wohl recht, wenn er selbst in der Entwicklung der Oper sichtbar macht, wie die neue bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts auch eine rigide neue Moral wirksam machte, die er als die größte Demanzipation in der Geschichte beschreiben kann.

Das Publikum erkennt seine eigenen Nöte

Denn natürlich ist es die bürgerliche Moral des 19. Jahrhunderts, die in „La Traviata“, in Verdis „Otello“ oder Donizettis „Lucias di Lammermoor“ für den Zunder sorgt, der die handelnden Frauen in unlösbare Konflikte und Nöte stürzt. Natürlich beginnt Seidel aber bei Händel und Mozart, um deutlich zu machen, wie sich das Frauenbild auf den Bühnen wandelte. Und es war egal, ob dabei historische Stoffe verarbeitet wurden oder zeitgenössische erfolgreiche Literaturvorlagen etwa von Scott oder Dumas.

Die Konflikte auf der Bühne funktionieren nur, wenn das Publikum darin seine eigenen Konflikte wiedererkennt, die Zwänge des eigenen Standes, die Seelennöte einer von Standesdünkel geradezu korsettierten Gesellschaft.

An allem sind die Frauen schuld

So gesehen, kann man die berühmten Opern auch als Proteststücke verstehen. Manche der heute Berühmten wurden ja bei ihrer ersten Aufführung ausgebuht und wurden trotzdem zum gefeierten Triumph, weil sie Neues erzählten, ein neues Stück einer gesellschaftlichen Wirklichkeit sichtbar machten, was man sich draußen gar nicht getraute auch nur zu artikulieren.

Denn um was bangte und litt man denn eigentlich, wenn man sich nicht mit den Frauen da oben auf der Bühne identifizieren konnte, die sich immer wieder auch in den Tod stürzten, weil sie keine Lösung für ihre Konflikte fanden? Aussichtslos verrannt in Situationen, in denen die herrschende Moral ihnen keinen anderen Ausweg mehr ließ?

Wobei man das natürlich auch hinterfragen kann. Und Seidel zeigt sehr anschaulich, dass Komponisten wie Richard Strauss, Alban Berg oder das Duo Brecht / Weill das auch kräftig taten. Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war auch ein Aufbegehren und ein Aufbrechen der alten Vorstellungen vom Heimchen am Herd, der braven Hausfrau und treuen Gemahlin, die ja die Vorgestrigen von heute noch immer als Bild im Kopf haben.

Und die immer so falsch waren. Auch davon erzählen ja viele Opernstoffe – von all den Ausbrüchen aus arrangierten Ehen, dem Scheitern an aufgezwungenen Partnerschaften. Da konnte selbst ein altes Gallierstück wie Bellinis „Norma“ geradezu zum Spiegel einer gesellschaftlichen Doppelmoral werden, die Frauen von vornherein zur Verführerin, Untreuen und Fremdgeherin deklarierte.

Prüderie und Besitzdenken gibt es nach wie vor

Eigentlich auch bis heute. Seidel schreibt ja einen sehr feuilletonistischen, anspielungsreichen Stil, in dem er auch immer wieder Vergleiche zur Gegenwart heranzieht. Denn die alte Prüderie und das piefige Besitzdenken bis in die Ehe hinein sind ja nicht tot. Im Gegenteil: Sie sorgen noch heute für ganze Opern-Bilderstrecken in Boulevardzeitungen.

Und sie funktionieren als geballte Abwehrmauer, wenn immer neue Skandale von übergriffigen Männern ruchbar werden, Männern, die in der Überzeugung aufgewachsen sind, dass sie das mit Frauen machen dürfen.

Die lieben Vorurteile in unseren Köpfen

Natürlich hat das mit dem Bild von Frau in unserem Kopf zu tun. Und die Opernstoffe, die Seidel sehr aufmerksam auseinandernimmt, machen sichtbar, wie tief unsere Vorurteile sitzen, wie eng verkoppelt das Bild des übergriffigen Mannes (und Opernbühnen sind voller übergriffiger, rabiater und lernunwilliger Männer) mit dem ist, was auch in Medien nur zu gern als gültige Moral gehandelt wird.

Und natürlich fragt man sich – im Publikum sitzend – immer wieder, warum Norma sich in diesen Depp von Pollione verliebt. Oder Tatjana in diesen Windbeutel Onegin. Aber Liebe ist nun einmal ein chaotisches Gefühl. Das wissen ja auch alle, die unten im verdunkelten Saal sind und selbst noch einmal träumen dürfen, weil sie alle wissen, dass ihnen ein Leben mit Rosalinde vielleicht möglich wäre, aber keins mit Lulu und schon gar nicht mit Elektra.

Scheinheilige Moral

Auch weil die wirklich selbstbewussten Frauen mehr fordern als das pantoffelige Hausmannsdasein. Und alles sagt einem, wenn man da unten in der fast immer grandiosen Musik zerschmilzt, dass die Frauen recht haben, dass das Leben nicht dazu da ist, es in starren Regeln und bürgerlicher Scheinheiligkeit hinzubringen.

Dass es ein wirkliches Leben ohne befreite Frauen auch nicht gibt. Frauen, die das feige Männervolk dann nur zur gern zu Hexen und Huren erklärt. Nur um sich seiner eigenen Gelüste und Lebenslügen nicht ernsthaft bewusst werden zu müssen.

Die ganze Verlogenheit der zelebrierten Moral. Und das Erstaunliche ist wohl, dass diese Opern alle noch funktionieren, oft auch als Spielfilm. Das Publikum erkennt sich wieder in all seinen Sehnsüchten und Ausflüchten.

Und das darf man auch, wenn die besten Sängerinnen der Zeit die großen Frauenrollen singen und mit Verve interpretieren: Königinnen, Rächerinnen, konsequent bis zur letzten Szene, in der sie dann oft genug ihr Leben hingeben für Männer, denen der herrschende Anstand wichtiger war als ein Bekenntnis zur Frau ihrer Träume.

Oper als Ort der Sehnsucht

Fast kommt der Verdacht auf, dass Seidel ein ähnliches Buch über die berühmten Männergestalten in der Oper nicht schreiben könnte. Denn die Opern, die er ausgewählt hat – und es sind die berühmtesten – erzählen in dieser Zusammenschau vor allem von der Emanzipation der Frau, ihrem Aufbegehren gegen verklemmte und verlogene gesellschaftliche Konventionen und von ihrem Scheitern an dieser herrschenden Moral, in der es für die selbstbewusste und unabhängige Frau keinen Platz gibt.

Und da es alles männliche Librettisten und Komponisten sind, wird noch etwas deutlich: Dass es eben auch Männer waren, die diese muffige Moral nicht aushielten und ganz bewusst starke, eigensinnige Frauengestalten in die Konflikte ihrer Opern stellten, Frauen, mit denen sie – mit grandiosem musikalischen Können – all das ausfochten und thematisierten, was sich die jeweiligen bürgerlichen Gesellschaften draußen außerhalb des Theaters gar nicht trauten zu thematisieren.

Weil Frauen sich opfern …

Im Grunde ist Seidels Buch eine große Einladung, wegen dieser Frauengeschichten bei nächster Gelegenheit einfach mal wieder in die Oper zu gehen. Und auch die berühmtesten Stücke einfach mal aus der Perspektive der weiblichen Geschichte zu betrachten, die da erzählt wird. Selbst bei Wagner, bei dem Seidel starke Frauengestalten wie Kundry und Brünnhilde entdeckt, die einem für gewöhnlich sehr fremd und sagenhaft vorkommen.

Aber so, wie es Seidel erzählt, werden selbst diese Frauengeschichten als Aufbegehren gegen eine alte (Männer-)Welt und eine verkommene Moral verständlich. Da hat wohl Wagner tatsächlich versucht, seine Interpretation der Rolle der Frau zu finden. Auch wenn das bei ihm dann drei lange Opernabende dauert.

Und wenn man so genau beschreibt, was Frauen da auf der Bühne erleben, wird eben nicht nur die gesellschaftliche Moral dahinter sichtbarer, sondern auch die sture Ignoranz der Männer, die ihr Bild von Frau auch heute noch versuchen zum gesellschaftlichen Standard zu machen. So kann und sollte man Oper wohl auch rezipieren.

Denn erst hier merkt man, was uns darin wirklich aufwühlt, mitleiden und trauern lässt. Seidel in seinem Text zu Brünnhilde: „Selbstopfer für den Mann, für die Familie, für die Gemeinschaft – wenn man es recht bedenkt, ist es durchaus eine Standardrolle von Frauen, auch heute. Männer opfern sich ebenfalls – vorzugsweise als Soldaten im Krieg. (….) Aber ansonsten? Sind Männer im Alltag opferbereit?“

Die Oper als revolutionäres Element?

Gerade Frauen zeigen auf der Opernbühne das Unerfüllte in unserer Gesellschaft, das, wovon eigentlich alle träumen, auch die Männer da unten im Publikum. Von starken und selbstbewussten Frauen natürlich (vor denen sie sich aber gewaltig fürchten) und von der Lebendigkeit, wenn man sich selbst mal traute, aus den Zwängen einer Gesellschaft auszubrechen, die sich so gern als „frei“ verkauft, aber eigentlich vor allem Anpassung und Bravheit fordert. Oder mit den Lieblingsworten unserer konservativen Besserwisser: Sicherheit und Ordnung.

Oper als revolutionäres Element? Man darf staunen. Aber Seidel hat recht: Es steckt in all diesen Stoffen, die mit grandioser Musik zum Lieblingsrepertoire auf allen Opernbühnen der Welt geworden sind. Selbst in Staaten, wo vergnatzte kleine Scarpias regieren, die ihre Misogynie nicht mal mehr kaschieren bei ihrem Regieren.

Und solange solche Typen regieren, werden diese Opernstoffe ihr begeistertes Publikum finden. Und auch die bravsten Bürger den Sängerinnen zujubeln, die diese Rollen grandios ausfüllen.

Frage der Emanzipation

Wer bisher immer nur eine vage Ahnung hatte, warum ihn diese Opern so in Bann geschlagen haben, bekommt mit diesem Buch im Grunde eine schöne Anleitung in die Hand, wie man sich die Dramen da vorn auf der Bühne erschließen kann. Gar nicht mal nur aus weiblicher Sicht.

Denn – wie gesagt – es waren Männer, die hier mit Verve das thematisiert haben, was unsere Gesellschaft bis heute in Unruhe hält. Und was ungelöst bleiben wird, bis wir endlich anfangen, uns wirklich zu emanzipieren. Auch wir Männer im Publikum.

Wolfgang Seidel Die Braut des Holländers, Faber & Faber, Leipzig 2021, 24 Euro.

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