Ist die Demokratie nur eine Staatsform für reiche Wohlstandsgesellschaften? Wird sie im Krisenfall geradezu zwangsläufig zum Fraß für Populisten und Autokraten? Eine nicht ganz abwegige Frage in einer Zeit, in der sich mancher wie in der Endzeit der Weimarer Republik fühlt und rechtsradikale und populistische Parteien wieder im Aufwind scheinen. Immer mehr Buchtitel beschäftigen sich zwangsläufig mit der Frage, wie gefährdet unsere Demokratie tatsächlich ist. Also wieder ein Haltung-zeigen-Buch?

Nicht ganz, auch wenn es solche Beiträge in diesem Band, zu dem Eric Hattke und Michael Kraske verschiedene Autor/-innen eingeladen haben, natürlich auch gibt. Denn natürlich braucht eine Demokratie Demokraten, die nicht den Kopf einziehen, wenn die Angreifer Gift und Galle spucken.Und so gesehen gibt es natürlich starke Parallelen zur Weimarer Republik, wie der Historiker Eckart Conze feststellen kann. Denn das Arsenal, mit dem die Demokratiefeinde angreifen, ist identisch. Ihr Ziel ist es immer, das politische System lahmzulegen, die staatlichen Instanzen wehrlos zu machen und zu diskreditieren und gleichzeitig den gesellschaftlichen Diskurs zu zerstören.

Aber 1933 war es eben auch die bürgerliche Mitte, die nur zu bereit war, den Pakt mit den Nazis einzugehen. Eine Lehre für jede bürgerliche Partei von heute. Worauf in diesem Band Paul Ziemiak zu sprechen kommt, der durchaus auch vor der Gefahr warnt, die von CDU-Fraktionen ausgeht, die den Schulterschluss mit der rechtsradikalen AfD suchen. Denn Pluralität und Diversität, die die AfD ablehnt, gehören zum Grundbestand einer Demokratie, machen sie sogar wesentlich aus.

Vielfalt vs. Totalität

Demokratie ist immer ein gefährdeter Versuch, die Vielfalt und Verschiedenheit einer Gesellschaft abzubilden und zu repräsentieren. Also die komplexe und oft genug auch schwer zu meisternde Vielschichtigkeit einer Gesellschaft, der die Radikalen von rechts immer das verlogene Bild einer „Volksgemeinschaft“ und Totalität entgegensetzen.

Attraktiv sind deren Formeln, weil sie eine Simplizität vorgaukeln, die es nur dann gibt, wenn Minderheiten unterdrückt, Andersdenkende ausgeschlossen, Meinungsvielfalt verboten wird. Und gleichzeitig die Demokratie in ihrer Stimmenvielfalt immerfort diskreditiert wird, lächerlich gemacht wird oder als „System“ verunglimpft, dem dann ein homogenes „Volk“ entgegengesetzt wird, das es so nicht gab und nicht gibt.

Aber tatsächlich profitierten Populisten und Faschisten immer von den Schwächen einer Gesellschaft. Eric Hattke zitiert dazu Hannah Arendt: „Was moderne Menschen so leicht in die totalitären Bewegungen jagt und sie so gut vorbereitet für die totalitäre Herrschaft, ist die allenthalben zunehmende Verlassenheit.“

„Über acht Millionen Menschen in Deutschland fühlen sich laut dem Institut der deutschen Wirtschaft oft oder immer einsam“, stellt Hattke fest. Er spricht von „sozio-ökonomischen Fehlentwicklungen“, die eng gekoppelt sind mit dem zunehmenden Auseinanderklaffen von Reichtum und Armut – auch in Deutschland.

Was eben nicht nur dazu führt, dass Millionen Menschen immer weniger Teilhabe an Gesellschaft und Wohlstand erleben, sondern auch resignieren. Es reicht nicht, wenn eh schon gewählte Politiker Rückgrat zeigen, wenn immer mehr Menschen das Gefühl haben, dass ihre Stimme und ihre Beteiligung nicht zählen.

Die Würde der Vereinsamten

Hattke spricht von diesem „Gefühl, auf sich allein gestellt zu sein und sich auf nichts wirklich verlassen zu können“, das Menschen dann in ihrer Hilflosigkeit anfällig macht für die simplen Parolen der Rechtsradikalen.

Da ist nicht nur die ökonomische und politische Teilhabe unter die Räder gekommen, sondern auch das, was Hattke „Verteidigung von Mitgefühl, Frieden und der Würde jedes einzelnen Menschen nennt“ und betont, „Frieden ist kein linkes Idealistentum (neudeutsch Gutmenschentum), wie oft von Gegnern dieser Werte behauptet, sondern unsere bürgerliche Pflicht qua Grundgesetz als Teil unserer Gesellschaft.“

Stoff zum Drübernachdenken.

Karl-Siegbert Rehberg greift im Grunde denselben Faden auf, weil auch den Soziologen interessiert, warum so viele Menschen (wieder) anfällig sind für die menschenverachtenden Thesen der Rechtspopulisten. Auch er stellt fest, dass das etwas mit dem ökonomischen Selbstverständnis unserer Gesellschaft zu tun hat – dem Neoliberalismus, der die Umverteilung von unten nach oben in den vergangenen Jahrzehnten massiv verstärkt hat.

Und im Neoliberalismus steckt ein zutiefst faschistisches Element: die Verachtung für den Staat. Hier nur in einer ökonomischen Verkleidung und aufgeladen mit falschen Thesen, die keiner wirklich wissenschaftlichen Untersuchung standhalten.

Dieses von Reagan und Thatcher forciert eingeführte Denken wird „bis heute als Modell der Zukunft angepriesen“, obwohl alle heute gebündelt auftretenden Krisen mit diesem Denken zu tun haben – die Klimakrise genauso wie das Artensterben und die Krise der Demokratie, die letztlich ihre Legitimation verliert, wenn sie ökonomischen Sachzwängen unterworfen wird. Dem sogenannten TINA-Prinzip.

Die Herrschaft der „Sachzwänge“

Wenn der Staat aber ausfällt als sozialer Stabilisator, zerfällt eine Gesellschaft, fühlen sich immer mehr Menschen abgehängt, wie weggeworfen. Das steckt nämlich auch in dem „Bürger 2. Klasse“, das viele Ostdeutsche als Gefühl benennen. Ein Ergebnis, so Rehberg: „Andererseits ist auch eine durch Versachlichung erzeugte Schwächung des Politischen zu bemerken, nämlich durch eine Herrschaft der ‚Sachzwänge‘“.

Aber was willst du als Bürger gegen „Sachzwänge“ machen? Da bist du machtlos. Und genau so fühlen sich auch viele Bürger, wahrscheinlich nicht nur im Osten: Dass sich längst Entscheidungsstrukturen etabliert haben, in denen „Sachzwänge“ regieren und Interessengruppen ihre Eigeninteressen ungehemmt durchsetzen können, ohne dass die am Ende Betroffenen das geringste Mitspracherecht haben.

Ein Thema, auf das mehrere Beiträge im Buch eingehen. Marina Weisband z. B., die sehr deutlich formuliert: „Vielleicht müssen wir Demokratie in erster Linie erreichen. Damit meine ich, dass das, was wir bisher hatten, keine Demokratie war. Wir leben in einer Demokratie. Aber wir leben in einer Demokratie, in der die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. In der es vom Nachnamen abhängt, wie leicht man eine Wohnung oder einen Job findet. In der man als Abkömmling bestimmter Familien sehr leicht Posten und Mandate erreicht, während es für andere Menschen, die vielleicht besser geeignet, aber schlechter vernetzt sind, schier unmöglich ist.“

Die nicht gefragten Bürger

Harte, aber klare Worte, die auch den Glauben infrage stellen, dass „Rückgrat“ allein helfen könnte. Jedenfalls nicht, wenn man ganze Bevölkerungsgruppen in Wirklichkeit von der Mitwirkung am Gemeinsamen ausschließt, sie letztlich abwertet und entmündigt. Und natürlich hat das mit Besitzstandwahrung zu tun, stellt Weisband fest.

Die, die besitzen, sorgen systematisch dafür, dass die Habenichtse nicht teilhaben und ihre Besitzstände nicht infrage stellen. Und dann wundern sie sich, dass diese Habenichtse extreme Parteien wählen. Auch in der sogar begründeten Überzeugung, dass sie von den bürgerlichen Parteien nicht vertreten werden. Auch nicht gewollt sind und schon gar nicht gefragt.

Marina Weisband – die ja mit den Piraten zu einer bekannten Persönlichkeit wurde – weist zu Recht darauf hin, dass sich an dem Punkt auch unsere Praxis der Demokratie ändern muss. Dass die scheinbar „Berufenen“ Verantwortung auch abgeben und übertragen – an all die, die man so pfleglichst stets versucht, außen vorzulassen.

Demokratie – oder eben das Missverhältnis zu ihr – lernt man schon in der Kindheit, stellt sie fest: „Welche Lektionen über das Leben Eltern uns auch immer erzählen – wirklich gelernt haben wir nur, was sie uns vorgelebt haben. Mit dem Handeln ist es genauso. Handeln kann nur, wer regelmäßig die Erfahrung macht, Entscheidungen zu treffen, sich Ziele zu stecken und diese Ziele erreichen zu können. Die Voraussetzung für diese Art von Selbstwirksamkeitserwartung ist eine Umgebung, in der das möglich ist.“

Wie bildet man Demokraten?

Eigentlich eine so simple Erkenntnis. Aber sie ist eben nicht Teil unserer Demokratie. Und auch nicht Teil unserer Bildung. Unsere Schulen sind zu Orten geworden, in denen Kinder nicht erleben, wie Demokratie funktioniert. Und auch nicht lernen, wie man Selbstbestätigung erlangt und damit Selbstwirksamkeit.

Auch das stellt Marina Weisband fest. Unsere Schule sieht genauso aus wie unsere Gesellschaft – genauso kaputt. Und letztlich undemokratisch. Weil eben der normgerechte Produzent als Ausbildungsziel steht, nicht der vielseitig gebildete Demokrat.

„Denn Demokratie ist in erster Linie Beziehungsarbeit“, schreibt Weisband. Und etwas weiter: „Doch es lohnt sich. Junge Menschen, die wieder und wieder solche Erfahrungen machen, die Beteiligung als selbstverständlichen Teil ihres Alltags leben, gehen in die Welt mit einer bestimmten Einstellung: Sie sind nicht bloße Konsument/-innen oder Opfer ihrer Umwelt – sie sind Gestalter/-innen. Es ist dieses Grundverständnis, das wir immer und überall stärken müssen.“

Spätestens da merkt man, dass die bisherigen Diskussionen über den Zustand unserer Demokratie noch längst nicht weit genug gingen. Dass wir viel zu oft stehengeblieben sind dabei, das Versagen von Justiz und Polizei gegenüber rechtsradikalen Umtrieben zu kritisieren – was wichtig und notwendig ist und auch in diesem Band mit einigen profunden Beiträgen untermauert ist.

Aber sowas kommt eben auch von sowas – rechtsaffine, gewaltbereite oder gar rechtsradikale Staatsdiener und Netzwerke aus einem Demokratieverständnis, das hochgradig auf Ausgrenzung und Ellenbogengesellschaft ausgelegt ist, auf ein durchökonomisiertes Verständnis von Gesellschaft, in dem von Gleich-Wertigkeit keine Rede sein kann. Und das erleben eben dann auch die meisten Bürger, die in diesem Land heranwachsen. Jene mit Ausgrenzungs-Merkmalen (Geschlecht, Glaube, Hautfarbe, Herkunft …) erst recht. Und zwar immer wieder, egal, in welchem Bereich des Alltags.

Demokratie stirbt in der Praxis

Und so betrachtet ist unsere Demokratie nicht nur geschwächt, sondern hochgradig gefährdet, gerade im Angesicht der Krisen, die das neoliberale Denken erst richtig befeuert hat. Wer kann das noch bändigen, ist da die Frage. Und wie sehr wird dann Demokratie wirklich noch als gemeinsame Sache empfunden, wenn mit der aufklaffenden Schere zwischen Arm und Reich auch die Schere zwischen Beteiligung und verweigerter Beteiligung aufklafft?

„Demokratie lebt und stirbt in der Praxis“, hat Michael Kraske seinen abschließenden Beitrag zu dieser Sammlung streitbarer Essays betitelt. Und da geht es nicht nur um die Abwehr rechtspopulistischer Angriffe, die bislang immer wieder im Zentrum der Betrachtung standen – auch bei der durch neoliberale Ignoranz groß gewordenen Hasskriminalität gerade im Internet.

Es braucht auch eine echte Stärkung der Demokratie und der demokratischen Strukturen. Was eben – da bleibt einem der Beitrag von Marina Weisband noch gegenwärtig – auch deutlich mehr Verantwortung für die Bürger/-innen voraussetzt, die jetzt immer noch übergangen und nicht beteiligt werden, gerade bei elementaren Entscheidungen, in denen sie und ihr Lebensumfeld betroffen sind.

Es geht tatsächlich um elementare soziale Fragen und den Blick auf den schlimmsten Auswuchs unserer Demokratie: ihre strukturell manifestierte Chancenungleichheit. Das Buch ist ein Diskussionsansatz, der möglicherweise wieder verhallt, weil wir in unserer Bequemlichkeit wieder den „Sachzwängen“ die Macht geben zu entscheiden, ob sich was verändert oder doch besser nicht.

Doch Demokratie lebt genau davon, dass sich alle ihre Mitglieder als selbstwirksam erleben können, beteiligt sind bei allem, was sie angeht. Und auch Verantwortung tragen dürfen. Denn verantwortlich fühlen kann man sich erst, wenn man auch verantwortlich handeln darf. Und nicht behandelt wird wie ein unmündiges Schaf.

Auf einmal geht es um Respekt und Menschenwürde. Genug Futter zum Nachdenken. Und wohl auch Stoff, den man nicht vergessen sollte, wenn die großen Krisenbewältiger wieder von „Sachzwängen“ reden und den Betroffenen suggerieren, sie könnten ja doch nichts tun und sie wären auch nicht gefragt.

Eric Hattke; Michael Kraske Demokratie braucht Rückgrat, Ullstein, Berlin 2021, 12,99 Euro.

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