Im Kunstmuseum Moritzburg in Halle begann am 3. Oktober die große Retrospektive zu Willi Sittes 100. Geburtstag. Was das Kunstmuseum parallel dazu bei E. A. Seemann herausgegeben hat, ist mehr als nur ein Katalog. Denn kein anderer Künstler aus dem Osten stand so sehr für die enge Verquickung von Staat und Kulturpolitik wie der langjährige Vorsitzende des Verbandes bildender Künstler. Wäre da nicht der Künstler Willi Sitte gewesen. Und die Frage: Wohin mit der ganzen Ost-Kunst?
Das Fegefeuer der sogenannten Staatskunst
Eine Frage, die ja schon Bernd Lindner in seiner umfassenden Übersicht über die deutsch-deutschen Teilungs-Bilder „Über Mauern“ aufgetan hat. Und die Michael Hametner in „Deutsche Wechseljahre“ noch viel schärfer diskutiert. Gerade er hat ja aus eigener Arbeit als Journalist beim MDR mitbekommen, wie sehr auch die Interpretation der in der DDR entstandenen Kunst seit 1990 fast ausschließlich von westdeutschen (Groß-)Kritikern, Lehrstühlen, Museumsdirektoren, Feuilletonchefs und wirkmächtigen einzelnen Künstlern dominiert und bestimmt wurde.
Mit dem Ergebnis, dass nicht nur die so genannten „Staatsmaler“ des Ostens alle in einen Sack gesteckt wurden, sondern auch hunderte exzellenter Künstler/-innen aus dem Osten im Nichtwahrgenommenwerden verschwanden, ignoriert, übergangen oder gleich mit in das große Fegefeuer „Staatskunst“ verbannt wurden.
Vom Liebling zum Unerwünschten
Wenn man es genauer betrachtet, ist das Schicksal Willi Sittes so einzigartig nicht, auch wenn ihn der Absturz und die Verdammung ab 1990 am heftigsten trafen und er den größten Sturz von allen erlebte – bis 1988 Präsident des Verbandes bildender Künstler, sogar Mitglied des ZK der SED, ein auch von westdeutschen Sammlern umworbener Künstler – und danach regelrecht zur persona non grata erklärt, heftig angegriffen und geradezu zum Typus des parteihörigen Staatsmalers gemacht.
Erst untersagte er deshalb in allen ostdeutschen Galerien und Museen die Austellung seiner Bilder, die dort oft genug immer nur als Beispiele angeprangerter Staatskunst gezeigt wurden. Nach der irrenden Debatte um eine Austellung in Nürnberg beendete er auch dort dieses Vorhaben. Natürlich auch dünnhäutig geworden und zutiefst frustriert, weil es augenscheinlich wieder nur um seine Staatsnähe ging und nicht um sein Werk.
Höchste Zeit für die Frage: Wohin mit der Kunst aus der DDR?
Das ist die Stärke dieses wirklich großen und verlagstechnisch aufwendig gestalteten Buches zur Retrospektive, dass es eben nicht nur die Bilder zeigt, die in der Moritzburg ausgestellt sind, und sich auch nicht nur auf eine Kurzbiografie des Künstlers beschränkt. Im Grunde reiht sie sich ein in die oben genanten Buchtitel. Die Zeit ist reif.
Denn auch unter Museumsdirektoren und Kunstwissenschaftlern verändert sich der Blick auf diese deutsch-deutsche Geschichte, die viel zu viele Wortmächtige versucht haben bis heute immer nur als eine „richtige“ westdeutsche Geschichte zu ezählen, in der die 40 Jahre DDR immer nur als Verirrung, Sündenfall und nicht-dazugehörend behandelt werden.
Nicht nur Schriftsteller/-innen aus dem Osten erfuhren so eine massive Abwertung, auch die einstigen „Dissidenten“, die man zuvor im Westen nur zu gern hofiert und gedruckt hatte, weil sie so schön das Real-Existierende im Osten kritisierten. Den Künstler/-innen ging es genauso, wenn man vom erstaunlichen Erfolg der Leipziger Schule und ihres Nachfolgers Neue Leipziger Schule absieht.
Offizielle Kunstkritik urteilt vor allem politisch
Und da ist man schon mitten im Thema. Denn während die Kritiker, Direktoren und Kunstwissenschaftler alles taten, die Kunst aus dem Osten zu ignorieren und in den Fundus zu verbannen, bringt es selbst der Wikipedia-Artikel zu Willi Sitte so auf den Punkt: „Bis heute fließen in Kritiken zu Sittes Werken oft nicht nur künstlerische Aspekte, sondern auch politische Beurteilungen ein. Andererseits sind seine Werke bis heute bei Kunstsammlern und Galerien im Westen Deutschlands und in Westeuropa begehrt.“
Die offizielle Kunstkritik in fast ausschließlich westdeutschen Medien zeigt also einen völlig anderen Blick auf Willi Sitte (und auch die anderen ostdeutschen Künstler/-innen) als „der Markt“. Sie urteilt politisch, wo ihr sichtlich der Wille fehlt, wirklich die Kunst zu sehen.
Und wer nach Halle in die Sitte-Ausstellung im Kunstmuseum Moritzburg fährt, erfährt Kunst, erfährt die ganze Wucht der Malerei Willi Sittes, der ja sogar in seiner langjährigen Heimatstadt Halle lange ignoriert wurde, weshalb die Willi-Sitte-Galerie in Merseburg entstand und nicht in Halle.
Auch darüber schreiben die Autor/-innen in diesem Band, die sich seit 2018, als die erste Idee zur Retrospektive entstand, intensiv mit Wlili Sittes Leben, seinem Nachlass und seinem Wirken als Hochschullehrer und Verbandspräsident beschäftigt haben.
Vom “Rebellen” zum Verbandspräsidenten
Im Grunde steckt alles schon in dieser Neuwahl des VbK-Präsidiums im Jahr 1988, als Willi Sitte nicht wiedergewählt wurde und als Trost zum Ehrenpräsidenten erkoren wurde. Noch hatte die SED-Führung Einfluss auf den Verband. Aber sie konnte die Rebellion der jungen Künstler/-innen nicht verhindern, für die der seit 1974 amtierende Willi Sitte zum alten Eisen gehörte und auch für das rigide Kontrollregime der SED stand, mit dem die Parteiführung versuchte, auch die Kunst zu kontrollieren.
Fast vergessen schon, dass Sitte selbst einst ein junger „Rebell“ war, gemaßregelt, von SED-Funktionären öffentlich kritisiert und lange Jahre ganz und gar nicht der Staatsmaler, als der er in den 1970er und 1980er Jahren betrachtet wurde.
Recht haben die Kuratoren der Ausstellung, dass man so einer Biografie nicht gerecht wird, wenn man Sitte nur durch die Brille des Kunstfunktionärs betrachtet. Das wird nicht einmal dem Kunstbetrieb in der DDR gerecht, der nun einmal extrem reguliert und bevormundet war. Die entsprechenden Kapitel zum Bitterfelder Weg, den man eher unter dem Schriftsteller-Slogan „Greif zur Feder, Kumpel!“ kennt, findet man natürlich auch im Buch.
Aber der galt auch für die bildenden Künstler und war der orchestrierte Versuch der SED-Spitze, die Künstler und Autoren des Landes auf eine bestimmte Linie zu bringen. Die Künstler gingen in die Betriebe und sollten dort das “richtige Leben” der Arbeiterklasse kennenlernen. Und die Arbeiter sollten zu Künstlern werden. Und herauskommen sollte dabei so etwas wie ein „sozialistischer Realismus“. Nur war das eben keine neue Kunstrichtung und letztlich so ideologisch definiert, dass eigentlich keiner wirklich wusste, was das sein sollte.
Am Ende half ihm vor allem das Glück
Am Ende kam dabei eine Menge staatsideologischer Kitsch heraus, zu dem auch Sitte einiges beitrug. Die Autor/-innen bescheinigen ihm wirklich ein redliches Bemühen, diesen nebeligen Erwartungen der Partei, der er seit 1947 angehörte, zu genügen.
Doch selbst bei dem Versuch, die Erwartungen 100prozentig zu erfüllen, erlebte er seine Niederlagen, erlebte, wie seine Bilder auskuratiert wurden und in der regionalen Parteizeitung die öffentliche Verdammnis über diesen unerzogenen Sohn der Partei ausgesprochen wurde, der einfach nicht begreifen wollte, was die Kulturoberen von ihm erwarteten.
Dass er dabei noch Glück hatte, weil er im Hallenser SED-Schwergewicht Horst Sindermann einen Fürsprecher fand, half ihm später, dennoch Anerkennung zu finden und ab den 1970er Jahren das Bild von DDR-Malerei regelrecht zu prägen. Und das gerade deshalb, weil er eben nicht so malte, wie es Hardliner wie Alfred Kurella einst gefordert hatten, deren Verständnis von sozialistischer Malkunst ausgerechnet bei einem deutschen Historienmaler namens Peter von Cornelius hängen geblieben war.
Der Weg zum eigenen Stil
Ein Phänomen, mit dem eigentlich alle Maler/-innen in der DDR alle zu tun hatten, dass die Vorstellung der Kunstfunktionäre irgendwo in der Schinkenmalerei des späten 19. Jahrhunderts hängen geblieben waren, während auch ein Willi Sitte sich ab 1946 intensiv mit den Strömungen der europäischen Moderne beschäftigte.
Was dann zu einem Konvolut von Arbeiten führte, die er in den ersten 20 Jahren seiner Arbeit in der DDR nicht öffentlich ausstellte, die aber in Halle derzeit zu sehen sind und zeigen, wie stark etwa Picasso, Matisse, Guttuso und Fernand Léger auf Sittes Weg zum eigenen Stil eingewirkt haben. Lovis Corinth muss man zwingend noch nennen, dem er später noch ein ganzes Gemälde widmete.
Und so ging es ja auch den anderen Malern, die seinerzeit als „Großmaler“ galten – Heisig, Tübke und Mattheuer. Sie entwickelten – mit völlig unterschiedlichen Bezügen zur Weltmalerei – ihren eigenen Stil, der sich deutlich von den platten Erwartungen der Funktionäre unterschied, die durchaus die Macht hatten, Karrieren zu beenden und Künstler völlig in Verruf zu bringen.
1950er als Zeit ideologischer Treibjagden auf Kunstschaffende
Die 1950er Jahre waren eine Zeit solcher Treibjagden, Verurteilungen und Generalverrisse im Stalin-Stil. Damals sorgten viele Weggänge derart frustrierter Künstler auch aus Halle dafür, dass sich für Sitte tatsächlich ein eher überraschender Weg an die Kunsthochschule ergab.
Auch das gehört zu Karrieren und Nicht-Karrieren in der DDR, genauso wie der Glaube der Sindermann & Co., sie könnten Künstler erziehen. Was sie dann oft auch ganz im Stil von „Wie der Stahl gehärtet wurde“ auch versuchten. Und Sittes Lebensweg erinnert sehr an diese Form der Funktionärs-Erziehung, die auf das persönliche Leid und die Suche nach einer eigenen Sprache keine Rücksicht nahm.
Sitte unternahm zwei Suizidversuche
Es war auch Sitte nicht vorgezeichnet, dass der expressive Stil, den er in den 1960er Jahren entwickelte, von den Juroren und Kritikern der DDR einmal Anerkennung finden würde. In den entsprechenden Kapiteln im Buch kann man sehr detailliert nacherleben, wie die gnadenlosen Kunst-Richter selbst auf zutiefst programmatische Bilder wie „Memento Stalingrad“, „Karl Liebknecht kommt aus dem Gefängnis“, „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ oder „Unsere Jugend“ reagierten.
Und die meist thematisch mit den entsprechenden Bilderzyklen verbundenen Texte zu Sittes vielen verschiedenen Welten zeigen auch, dass seine beiden Selbsttötungsversuche 1963 nicht nur mit persönlichen Beziehungskrisen zu tun hatten, sondern dass das Kesseltreiben der Funktionäre durchaus auch eine Rolle spielte, den durchaus willigen Parteikader in eine Situation zu manövrieren, aus der er keinen Ausweg sah.
Das neue Menschenbild – ganz nackt
Umso überraschender war dann seine Anerkennung mit der beginnenden Honecker-Zeit (nachdem er einem direkten Bekenntnis zu Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag 1968 noch ausgewichen war). Die Autor/-innen stellen diesmal nicht in Frage, dass ein Maler wie Sitte auch noch 1990 und später überzeugt war, dass die DDR ein legitimer Versuch war, Gesellschaft zu gestalten.
Anders als viele Wendehälse blieb er seiner kommunistischen Überzeugung treu und damit auch einem Menschenideal, das nicht einfach verschwunden ist, bloß weil es ab nun für überflüssig und entsorgt deklariert wurde. Ein Menschenbild, das man gerade in seinen riesigen Aktbildern sehen kann und in dem nicht nur viele Ausstellungsbesucher/-innen in der DDR dargestellt sahen, wie sie sich wirklich einen freien und auch sexuell befreiten Menschen und Partnerschaft vorstellten.
Die Realität war weitaus spießiger
Ein Punkt, an dem mehrere Beiträge natürlich auch den tatsächlichen Stand von sexueller Befreiung und Emanzipation in der (späten) DDR diskutieren. Nur zu recht. Denn die Realität sah in der Regel anders, wesentlich spießiger und kleinbürgerlicher aus. Was Sittes riesigen Akten eine umso größere Brisanz und Wucht gab.
Wenn seine Bilder in den Kunstausstellungen der DDR hingen, waren sie nicht zu übersehen und zeigten im Grunde mit Wucht auch, was nicht nur der Künstler von dieser Gesellschaft erwartete. Eine Wucht, die ihn durchaus mit Malern wie Heisig verband und westdeutsche Sammler faszinierte.
Anspruch und Wirklichkeit der Gesellschaft sichtbar machen
Auch deshalb faszinierte, weil diese so von der Kritik verachteten Großmaler eben nicht – wie viele erfolgeiche Maler im Westen – in die abstrakte Kunstebene auswichen, um ja nicht politisch anzuecken. Das hatten die jungen, rebellischen Künstler/-innen, die in den 1980er Jahren auch gegen Sitte aufbegehrten, durchaus mit den großen „Staatsmalern“ gemeinsam: Sie wollten zu Wort kommen, sie wollten mit künstlerischen Mitteln den Anspruch und auch das Versagen ihrer Gesellschaft sichtbar machen.
Und das taten sie auch. Vor diesen Bildern steht man nicht und rätselt, was vielleicht darin stecken könnte. Sie sprechen und springen einen an. Auch dann, wenn man eigentlich all diese Ikonen der Arbeiterklasse und die Verklärung des real existierenden Sozialismus nicht mehr goutierten mag.
Aber es steckt – nicht nur bei Sitte – auch ein Anspruch an menschlicher Stärke und Präsenz darin, den man nicht ausblenden kann. Eine Intensität, die man bei Corinth, Nagel und auch Beckmann findet.
Auf einmal ein Platz in der europäischen Kunstgeschichte
Wenn man auch mit diese Ausstellung die Spuren deutlicher sieht, die sich in Sittes Werden und Werk finden lassen, ordnet sich auch seine Malerei auf einmal ein in die großen Zyklen der deutschen und der europäischen Malerei. Unübersehbar sind die Bezüge zu Gustave Courbet. Manche sehen gar die Nähe zu Michelangelos Monumentalität.
Aber letztlich zeigt eigentlich diese so spät zustande gekommene Retrospektive zum bekanntesten Maler aus Halle, dass es den Kulturfunktionären letztlich nicht gelungen ist, den „sozialistischen Realismus“ zur Kunstdoktrin zu machen, dass der Bitterfelder Weg – so wie es Christa Wolf früh formuliere – gescheitert ist und sich die Künstler/-innen in der DDR sehr wohl an den Kunstentwicklungen der Moderne orientiert haben.
Und einige haben die neuen Entdeckungen, wie man malen kann, zu einem unverwechselbar eigenen Stil entwickelt, mit dem sie sehr wohl einen Platz haben auch und gerade in der deutsch-deutschen Kunstgeschichte. Auch wenn das Feuilleton sich dagegen sperrt und es seit 30 Jahren eigentlich ignorieren möchte.
Mauer und Teilung konnten Einfluss westlicher Kunst nicht stoppen
Aber eigentlich ist ein Zeitpunkt gekommen, an dem man das nicht mehr ignorieren kann, an dem auch vor Kuratoren und Kunstwissenschaftlern die Aufgabe steht, das so rigide Ausgesonderte wieder einzusortierten und endlich das gesamte Bild der deutschen Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wahrzunehmen.
Das ja – Bernd Lindner hat es ja gezeigt – nicht an der „Mauer“ entzweigeschnitten war. Das ist das falscheste Bild, das man von Kunstentwicklungen haben kann. Nicht nur Sitte in Halle rezipierte die großen Kunstentwicklungen im Westen. Das taten auch die Maler an der HGB in Leipzig. Man kommunizierte im künstlerischen Arbeiten mit den Kunstströmungen in der Welt.
Der abgeschnittene ostdeutsche Dialog
Und wo bleibt da die Verdammnis? Was macht man nun mit den Funktionären wie Sitte? Wahrscheinlich liegt die Unfähigkeit der westdeutschen Kunstkritik, damit umzugehen, gerade darin, dass sie das Phänomen nicht versteht. Denn dergleichen gab es im Westen nie. Und es konnte dort auch keinen Verbandspräsidenten geben, der für die Verbandsmitglieder Aufträge (Staats-, Betriebs- und Parteiaufträge) besorgte, sich um ihre soziale Versorgung und ihre Privilegien kümmerte – wie die so attraktiven Westreisen und Ausstellungen im Westen.
Das ist ein Thema, über das vor allem die Betroffenen diskutieren sollten, was sie ja mit der Verbandswahl von 1988 schon begonnen hatten. Es wäre ein vor allem ostdeutscher Dialog, in den westdeutsche Beteiligte vor allem Sachlichkeit und Moderation einbringen könnten, aber nicht diese fürchterliche Selbstgerechtigkeit von Leuten, die nie betroffen waren.
Emanzipatorisches Menschenbild auf dem Müllhaufen der Geschichte?
Hat sich Sitte menschlich verhalten? Widerspricht sein Werk gar dem, was er als Verbandspräsident tat? Oder ist auch dieser innige Glaube an ein lebendiges Menschenbild in einer sozialistischen Gesellschaft erledigt? Eine durchaus berechtigte Frage, die eben auch die Frage impliziert, ob diese DDR letztlich nicht auch an ihren eigenen Ansprüchen gescheitert ist.
Ansprüche, die man eigentlich am deutlichsten in Büchern wie „Das Prinzip Hoffnung“ von Bloch oder „Die Alternative“ von Bahro aufgehoben findet. Ist dieses von Emanzipation her gedachte Menschenbild damit auch „auf dem Müllhaufen der Geschichte“ gelandet oder steckt in Sittes Bildern viel mehr von Bettina Wegners Kinderlied, als man auf den ersten Blick zugestehen möchte?
Die Beschäftigung mit Sitte lohnt sich allemal
Jedenfalls bringt dieses opulente und sehr biografisch dominierte Buch diesen Hundertjährigen in einer Lebendigkeit zum Vorschein, die er in den Plattitüden der durchaus parteiischen Kunstkritik selten haben durfte. Bis hin zum „Scheitern der Ideale“ und der „Faustischen Empörung“ der letzten Jahre, in denen sich Sitte immerfort angeprangert sah und auf seine Rolle als „Staatsmaler“ reduziert.
Was ja eigentlich auch das Irritiertende dieser Nach-“Wende“-Jahre war: die gewaltige polemische Aufladung der Diskussionen über Kunst und Literatur, als wolle man öffentlich dafür sorgen, dass der ostdeutsche Teil der Geschichte schleunigst im Nirwana verschwinde.
Aber so geht man mit einem Landesteil und seinen Bewohnern und Künstlern nicht um. Selbst wenn man die seinerzeit gefeierte Kunst nicht mag. Sie wird dadurch nicht weniger legitim. Wo man diesen Willi Sitte freilich am Ende einordnet, ist völlig offen. Dazu muss man ihn erst einmal wahrnehmen – möglichst in Gänze.
Und in Buch und Ausstellung ist nun einmal derzeit mehr zu sehen, als all die Jahre vorher. Und gerade die Texte im Buch zeigen, dass sich die ernsthafte Beschäftigung mit diesem Künstler durchaus lohnt. Und dass sein Werk Überraschungen bereithält, die man bei all der Staatsmusik bei ihm nicht erwartet hätte.
Christian Philipsen; Thomas Bauer-Friedrich; Paul Kaiser (Hg.) Sittes Welt, E.A. Seemann Verlag, Leipzig 2021, 45 Euro.
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