So ein dickes Buch kommt dabei heraus, wenn sich einer tatsächlich fast ein halbes Jahrhundert mit einem deutschen Dichter namens Paul Zech beschäftigt. Immer wieder beschäftigt, wie der Germanist und Theaterwissenschaftler Alfred Hübner in seinem Vorwort betont. Seit 2005 ist dieser Zech mit Wucht zurückgekehrt in sein Leben. Denn irgendwann muss einmal gründlich aufgeräumt werden.

Es ist die dritte dicke Biografie zu einem beinah vergessenen deutschen Schriftsteller, nachdem schon Cécile Cordons Biografie der Schriftstellerin Imma Bodmershof und Armin Fuhrers Biografie des Schriftstellers Emil Ludwig bei uns aufgeschlagen waren. Beide schon dezente Hinweise darauf, dass selbst unsere heutige Rezeption der Literatur der 1920er Jahre sehr eng und schmalbrüstig ist und – trotz aller Vielfalt – nur ein kleiner Teil der damals erfolgreichen Autor/-innen heute auch noch in den Programmen der Verlage zu finden ist.Mit Paul Zech ist das ein wenig anders. Er ist nicht ganz vergessen. Aber er macht Verlegern und Biografen ein ganz anderes Problem: „Zech hatte die Angewohnheit, seinen Lebenslauf nach Belieben zu manipulieren“, beschreibt es der Wikipedia-Artikel noch ziemlich zurückhaltend und bemerkt auch etwas, was man so in Wikipedia-Artikeln eher selten formuliert findet: „Alfred Hübner (dessen Resultate bisher nur teilweise in Ausstellungskatalogen zugänglich, aber in den vorliegenden Wikipedia-Artikel schon in gewissem Umfang eingeflossen sind)“.

Man ahnt, dass die Wikipedia-Autoren berechtigt Furcht davor haben, den Zech-Artikel noch umfassender umarbeiten zu müssen. Denn was Alfred Hübner jetzt nach 15 Jahren noch einmal intensiver Quellenforschung vorgelegt hat, ist nichts weniger als die umfassende Korrektur aller Märchen und Legenden, die der 1881 in Briesen Sohn eines Seilmachers im Lauf seines Lebens über sich selbst, seine Werke, Herkunft, Bildung, Reisen usw. verbreitet hat. Deshalb auch der etwas verwirrende Buchtitel: „Die Leben des Paul Zech“.

Aber eigentlich ist es noch schlimmer.

Und so gesehen auch faszinierender.

Denn nicht nur mit den Fakten seines Lebens ist er so erfindungsreich umgegangen. Wenn es nur das wäre, dann wäre er beinah ein ziemlich normaler Zeitgenosse gewesen, auch heute noch, wo so mancher Berühmte sich eine „geschönte“ Biografie zurechtzimmert, um die Welt und die Mitmenschen zu beeindrucken. Woran Welt und Mitmenschen nicht ganz unschuldig sind, denn es gibt etliche unter uns, die wollen derart geblendet und betrogen sein.

Denen genügen landläufige Lebensläufe nicht. Die wählen keinen, der keinen Doktortitel hat und mit 21 Jahren nicht schon Praktika in Konzernzentralen in aller Welt gemacht hat. In einer Welt, die derart von Show, Glanz und Glamour besessen ist, wo Windbeutel große Reden schwingen und Leute, die sich wie bescheidene Leute benehmen, nicht mal zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden, ist die Hochstapelei keine Ausnahmekunst, sondern der Normalfall.

Und dieses ständige Entlarven von kleinen Betrügern ist schlichtweg nur Heuchelei. Heuchelei von Talentlosen, die nicht mal die kleine Bewunderung dafür unterdrücken können, dass jemand so frech war, derart kühn zu betrügen.

Lauter schön erfundene Leben

Der gravierende Unterschied aber ist: Bei diesem Paul Zech scheint das aufs Engste verquickt zu sein mit seiner dichterischen Phantasie. Und hätte er damit nicht schon vor dem Ersten Weltkrieg angefangen, den er tatsächlich ab 1915 als „Frontschwein“ an der Westfront durchstehen musste (hier ist so eine Stelle, wo der Wikipedia-Artikel dringend nachgearbeitet werden muss), würde man es vielleicht noch auf sein Kriegs-Trauma zurückführen.

Denn wirklich heil ist er auch nicht aus diesem Krieg hervorgegangen. Und seine (späteren) Kriegsgedichte erzählen in diesem Fall auch keine Phantasien, sondern so heftig und direkt, wie es kaum ein anderer seiner dichtenden Zeitgenossen schaffte, vom blutigen Drama des modernen Vernichtungskrieges. Seinen Platz in Kurt Pinthus’ legendärer Gedichtsammlung „Menschheitsdämmerung“ hat Zech sehr wohl verdient. Und wenn ihm seine Freunde und Bekannten und Kollegen etwas nicht absprachen, dann war es seine riesengroße dichterische Begabung.

Er hatte nur ein Problem: Anders als so ziemlich alle Kolleg/-innen der schreibenden Zunft dieser Zeit hatte er keine Herkunft in einem Bildungshaushalt, hat keine höhere Schule und erst recht keine Universität besucht. Zu den „Korrekturen“ in seinem Lebenslauf gehören deshalb auch etliche phänomenale Schulbesuche (am liebsten mit Berühmtheiten seiner Zeit auf derselben Schulbank) und gleich mal mehrere Jahre an begehrten Hochschulen.

Man kann das durchaus als den großen Wunsch eines Jungen aus einer eigentlich bitterarmen Familie lesen, der schon früh davon träumte, in die Welt der erfolgreichen Autoren aufgenommen zu werden.

Und Hübner versucht gar nicht erst, dieses Zech’sche Leben irgendwie in eine logische Geschichte zu bringen. Er hat den riesigen Berg seines Materials einfach sortiert und erzählt ihn nun in chronologischer Reihenfolge dicht und zitatreich einfach herunter. Anfangs hat man so beim Miterleben das Gefühl: Okay, das ist alles nur zu verständlich. Der Junge ist ja nicht nur von zu Hause weggelaufen und hat sich als Jugendlicher mit Knochenarbeit einen Lebensunterhalt verdienen müssen.

Er wollte den Aufstieg schaffen in die Kreise der George und Hauptmann. Aber wie kommt man da hin, wenn einen keiner kennt? Und man versteht ihn ja, wie er sich mühsam einen Platz erkämpft in den Zeitungen rund um Elberfeld und Wuppertal und den dortigen Dichterkreisen.

Da wird schon seine Beharrlichkeit sichtbar, sich seinen Platz zu erboxen und seine Artikel unterzubringen, denn davon wollte er irgendwann leben. Und irgendwann musste er davon auch eine Familie ernähren. Wie stark der Druck da ganz unten ist, wenn man auf das dicke Sparbuch reicher Eltern nicht zugreifen kann, das wissen nur die, die von da ganz unten gestartet sind.

Oder es versuchen.

Ein Leben, an Quellen nachgeprüft

Und wer ehrlich ist, weiß, dass das heute nicht viel anders ist. Nur die sogenannten „höheren Kreise“ tun so, als wäre alles ganz anders.

Was einen natürlich immer wieder auf die Frage bringt: Wie hätte eigentlich unsere Gegenwart so einen Mann wie Paul Zech angenommen? Meine Vermutung: Die Gutbezahlten in den Chefredaktionen hätten ihn mit dem Silberbesteck tranchiert und zum größten Lumpen aller Zeiten erklärt und dafür gesorgt, dass kein Verlag sich mehr getraut hätte, seine Texte zu veröffentlichen.

Andererseits ist dieser Paul Zech auch schwer zu nehmen. Denn er erzählte nicht nur immer neue Varianten über sein Leben. Schon vor seiner Einberufung als Grabenschipper an der Westfront (und er war tatsächlich im blutigen Frontabschnitt bei Verdun, bevor ihm ein mitfühlender Dichterkollege den Job bei einer Propagandaabteilung verschaffte) nahm es dieser Zech nicht so genau mit den Texten anderer Leute, wird auch in seinen Briefen der große Schwindler sichtbar, den Hübner im Lauf des Buches immer wieder korrigieren muss.

Natürlich so, wie Journalisten auch falsche Behauptungen in Politikerreden korrigieren, wenn sie diese zitieren. Eine zeitraubende Arbeit. Aber man merkt: Hübner hat das alles tatsächlich gelesen, hat die Quellen nachgeprüft, die tatsächlichen Lebensstationen Zechs, seine wirklichen Aufenthalte und tatsächlichen Begegnungen. Er lässt ihm nichts durchgehen, schafft damit aber auch so etwas wie eine gewaltige Rehabilitation.

Denn dahinter wird das Leben eines Mannes sichtbar, der sich tatsächlich viele der Dinge, von denen er behauptet, sie getan zu haben, nie im Leben leisten konnte, all die Reisen etwa, mit denen er sein oft wochen- und monatelanges Schweigen erklärte.

Die Macht der Phantasie

Das ging ihm so leicht von der Feder, dass man schon bald merkt, dass es diesem Zech überhaupt nicht schwerfiel, sich solche Dinge einfach so am Schreibtisch auszudenken, völlig unbekümmert darum, ob das zeitlich wirklich stimmig war oder irgendjemand auf die Idee kommen könnte, das einmal nachzuprüfen. Wobei es nicht ganz einfach ist, das tatsächlich Erlebte vom Erfundenen zu trennen. Denn Zech war ja tatsächlich mit zahlreichen bis heute Berühmten seiner Zeit bekannt, teilweise befreundet.

Wobei man nicht so recht weiß, ob er zu richtiger Freundschaft wirklich fähig war. Aber auf seine intensiven Bekanntschaften mit Else Lasker-Schüler, Stefan Zweig und Kurt Hiller wären auch andere zu Recht stolz gewesen. Spätestens nach seinem Umzug nach Berlin kam er praktisch mit fast allen zusammen, die in der brodelnden expressionistischen Literatur dieser Jahre einen Namen hatten und bis heute haben. Auch wenn er keine Scheu davor hatte, sich selbst mit Leuten wie Karl Kraus oder Kurt Wolf anzulegen.

Überhaupt hatte er heftige Fehden mit Verlegern, sah sich immer zurückgesetzt, nicht genug beachtet, nicht genug getan für seine Bücher, die auch aus Sicht von Hübner bis heute ihre Gültigkeit haben, denn von seinen Zeitgenossen hat keiner so intensiv über das Leben und Arbeiten im Kohlerevier geschrieben. Aber mehrere Affären begleiteten schon sein Leben in der Weimarer Republik, in denen ihm andere Autoren – teilweise zu Recht – Plagiate oder gar richtige „Diebstähle“ ihrer Texte vorwarfen.

Das sind die Stellen, da möchte man sich regelrecht stellvertretend schämen. Denn: Wie konnte er nur? Allein die Bibliografie, die Hübner seinem Buch beigegeben hat, zeigt einen Autor von unerhörtem Fleiß. Er hat unerhört viel geschrieben und – wie Hübners Aufarbeitung zeigt – auch viel veröffentlicht, an den entlegensten Stellen zum Teil. Faul war er ganz und gar nicht. Und wirklich nötig hatte er es eigentlich nicht, die Texte anderer Autoren einfach zu „klauen“.

Und dass ihm das „zufällig“ oder aus Unaufmerksamkeit passiert sein sollte, kann man auch nicht so recht glauben, wenn man erfährt, über wie viele seiner schreibenden Zeitgenossen er große Artikel in Zeitschriften veröffentlichte. Er kannte sich durchaus bestens aus, auch wenn ihm etwa eine Biografie Rilkes von Kennern nicht so gern abgenommen wurde. Und später natürlich berechtigte Zweifel auftauchten, ob er Rilke tatsächlich je getroffen hat und gar mit ihm im Briefwechsel stand. Hübner zeigt: Die Zweifel waren berechtigt.

Und Rilke war nicht der einzige, mit dem er einfach mal einen Briefwechsel erfand. Spätestens an der Stelle merkt man, wie sehr Paul Zech sich im Grunde auch eine komplette dichterische Welt erfand, in der er einfach all das platzierte, was er gern darin gehabt hätte. Da erfand er legendäre Begegnungen (die es teilweise bis in ernsthafte Biografien geschafft haben), erfand auch gleich mal eine Friedensbotschaft des belgischen Dichters Verhaeren (den er auch nie getroffen hat) und schrieb polemische Artikel für die Zeitungen, in denen er die Plagiatsvorwürfe rundweg abstritt und den Angreifern selbst Täuschung vorwarf.

Beser als Villon

Aber seine Glanzstücke in dieser Beziehung waren dann wohl die Gedichte, die er einfach mal in die Übersetzungen einmogelte, die er von großen französischen Dichtern anfertigte. Übersetzungen, die schon zeitgenössische Kenner würdigten, weil sie wuchtiger und eindrucksvoller waren als das Original. Und spätestens bei den Übersetzungen der Gedichte Francois Villons sind die Villon-Liebhaber noch heute begeistert von Zechs Übersetzung. Und auch von den Villon-Gedichten, die Villon gar nicht geschrieben hat.

Was aber nicht die einzigen Affären waren, die Zech auch öffentlich in Verruf brachten. Seine Rolle als Chef des „Werbedienstes“ in der Zeit der Novemberrevolution ist ein eigenes Abenteuer – und ein Kapitel in dieser Revolutionsphase, das bei den üblichen Geschichtsschreibungen fast nie erwähnt wird. In dieser Zeit legte er sich auch den Doktortitel zu, dessen Herkunft er später nie belegen konnte. Und er schaffte es, einige Millionen Mark zu verbraten für geradezu expressionistische Werbeaktionen für die junge sozialistische Republik.

Die so grandios verschleuderten Gelder sollten auch nach dem verordneten Ende des „Werbedienstes“ noch für einige Jahre für Ärger sorgen. Genauso wie seine Buchveruntreuungen später als Hilfsbibliothekar an der Berliner Stadtbibliothek. Immer wieder greifen ihm Freundinnen und Freunde, Bekannte und Förderer unter die Arme, haben Mitleid mit dem Dichter, der stets sehr blumig von seiner Geldnot zu berichten weiß.

Das würde sich auch nach seiner Flucht 1933 nach Argentinien nicht ändern, die er aber – entgegen seiner späteren Legendenbildung – nicht antrat, nachdem ihn die Nazis in ein KZ gesperrt hätten. Viel mehr war er vor den juristischen Folgen seines Bücherdiebstahls geflohen, war aber dennoch einer der prominentesten Autoren der Weimarer Republik im Exil.

Der Zorn des kleinen Mannes

Auch dort waren es wieder Frauen, die ihm immer wieder aus finanziellen Miseren halfen. Und so schäbig, wie er sich in seinem alten Anzug immer gab, lebte er auch nicht. Alfred Hübner demontiert alle seine Wehklagen und Betteleien, mit denen er sich stille Unterstützung gleich aus mehreren Quellen sicherte.

Er musste weder mit dem Bauchladen herumziehen noch nachts in üblen Kaschemmen Klavier spielen, um sich Miete und Essen leisten zu können. Entsprechend groß muss die Überraschung der Gäste bei seiner Einäscherung gewesen sein, als sie voneinander erfuhren, wer diesem immer so abgerissen daherkommenden kleinen Mann alles geholfen hatte.

Aber am schmerzlichsten liest sich eigentlich, wie leicht es ihm fiel, auch alte Freunde, Unterstützer und Wegbegleiter in Briefen herunterzumachen, zu verleumden, Geschichten über sie zu erfinden, die sie in den Augen der Briefpartner völlig desavouieren sollten. Selbst seine vertrautesten Freunde waren nicht davor gefeit, auf solche Weise verleumdet zu werden. Dass er sich damit sogar Chancen verbaute, scheint ihn nicht mal bekümmert zu haben. Er schwelgt stellenweise geradezu in Wut und Zorn.

Und eigentlich hätte man nur zu gern die Frage beantwortet bekommen, ob das vielleicht mehr war als nur eine Persönlichkeitsstörung, auch wenn man nur zu gut versteht, dass man vielleicht ein Leben lang nicht herausfinden kann aus diesem von der Kindheit her geprägten Gefühl, nicht genug Liebe und Anerkennung zu finden. Wir haben ja gelernt, vieles, was uns psychisch belastet, auch in den Erfahrungen der Kindheit zu suchen. Aber kam bei Zech nicht auch Psychosomatisches dazu? Wir erfahren es nicht wirklich, denn wirklich erzählen, warum er immer wieder für Wochen und Monate in eine Klinik muss, mochte Zech nicht. Dass das Leiden möglicherweise in der Familie lag, deutet Alfred Hübner zumindest an, wenn er das Schicksal von Zechs Schwester Ida erzählt.

Eine gelungene De-Konstruktion

Was Hübner am Ende schafft, ist die De-Konstruktion eines ganzen Lebens. Legende um Legende korrigiert er. Und was dahinter zum Vorschein kommt, ist trotzdem ein ganzes Leben. Aber eines, wie wir es hier unten zumeist alle leben – mit lauter Unsicherheiten, Zeiten der Ängste um das „Wie weiter?“, um die Versorgung der Familie, das kleine bisschen Erfolg im Leben. Denn auch das ist ein Mit-Geld-nicht-umgehen-Können, das Hübner hier zeigt – aber ein völlig anderes als bei Emil Ludwig, der tatsächlich aus dem Vollen schöpfen konnte.

Um den sorgsamen Umgang mit Geld lernen zu können, muss man erst mal welches haben, das länger reicht als bis zum Monatsende. Wirklich herausgekommen aus der Rolle des Jungen aus armen Verhältnissen ist Paul Zech eigentlich nie, auch geistig nicht. Gerade das steckt ja in dem irren Spagat, eigentlich immer Helferinnen und Unterstützer gefunden zu haben, und trotzdem immerzu Gefühle des Zurückgesetztseins, der Nichtanerkennung zu erleben. Und das scheinbar mit voller Wucht. Bettelei und Größenwahn. Man möchte nicht in seinem Anzug stecken.

Dass das irgendwie so gewesen sein muss, wird in einer Reflexion Stefan Zweigs sichtbar, der sich dessen durchaus bewusst war, dass dieser Paul Zech aus einer Gesellschaftsschicht kam, die ein in bürgerlichem Wohlstand aufgewachsener Stefan Zweig weit, weit unter sich verordnete. Und dieses Wissen und die Akzeptanz dessen machten es ihm augenscheinlich leichter, mit Zech auch in jahrelangem Kontakt zu bleiben, ohne dass die Freundschaft in einer bitteren Feindschaft endete, wie das anderen Wegbegleitern Zechs passierte.

Ein unpassendes Dichterleben

Aber all das, was dann wirklich übrig bleibt von Zechs Lebenserzählung, ist trotzdem ein ganzes, wenn auch oft fragmentarisch wirkendes Leben. Ein Leben, das in vielem ärmer und viel weniger abenteuerlich war, als es Zech seinen vielen Briefpartnern je aufgetischt hat. Aber was andere tatsächlich erlebten und dann oft genug langweilig und stereotyp darüber schrieben, erlebte dieser Zech auf jeden Fall an seiner Schreibmaschine.

Sein wirkliches Leben und das, was er sich schon von Jugend an anlas, floss ineinander. Er behandelte seine eigene Biografie fast genauso wie seine Dichtung (und erfand auch nur zu gern Veröffentlichungen, die es nie gegeben hatte). Und oft behandelte er echte Menschen so, als wären es nur literarische Figuren, die er mit scharfem Kritikerurteil für alle Zeit verdammen konnte.

In dieser Art ist nicht nur Alfred Hübners Zech-Biografie ein einzigartiges Stück echter Hingabe und Forschung an einem Dichterleben. Sie zeigt auch ein durchaus beispielloses deutsches Dichter-Leben, so störrisch und eigenwillig, dass es sich auch unter den Biografien seiner Zeitgenossen als sperrig und ungewohnt ausnimmt. Geradezu expressionistisch, so wie der Holzschnitt von Jakob Steinhardt, den der Verlag für das Cover genutzt hat und der ein wenig die Wucht zeigt, mit der Zech dichten und verbitterte Briefe schreiben konnte.

Es ist kein Porträt des Dichters, der eher wie ein kleiner gemütlicher Churchill aussah. Aber vielleicht zeigt es gerade deshalb noch viel mehr, wie sich Zech selber sah, wenn er ohne viel Nachdenken seine Texte in die Tasten hämmerte. Vielleicht. Das Vielleicht muss hier stehenbleiben.

So, wie über jedem Leben ein Vielleicht steht, die Diskrepanz zwischen dem, was einer sich erträumt und was es dann wirklich im Angebot gibt. Und wenn man Glück hat, fesselt das einen Biografen fürs Leben und er hat 15 Jahre lang alle Hände voll zu tun, das ganze sperrige Gut irgendwie in eine Ordnung zu bringen.

Hier ist Zechs Leben nun ordentlich und freundlich kommentiert aufbereitet. Vielleicht wäre er sogar ganz froh gewesen, wenn das schon früher mal einer gemacht hätte. Vielleicht auch nicht. Wir wissen es nicht. Aber wir lernen diesen Zech jetzt wohl erst richtig kennen. Der sich eben einfach was dazu erfand, wenn ihm noch was fehlte zu dem Bild, das er von sich haben wollte. Darf man das?

Schöne Frage. Wäre das Leben tatsächlich Literatur, dürfte man antworten: Ja.

Nur erwischen lassen darf man sich dabei nicht.

Alfred Hübner Die Leben des Paul Zech, Morio Verlag, Heidelberg 2021, 48 Euro.

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