Dieses Foto-Buch wird mal ein Klassiker. Das ist jetzt schon sicher. Denn es wird die Zeit kommen, da wir wieder maskenlos unterwegs sein werden. Vielleicht nicht รผberall und immer. Aber auf jeden Fall im รถffentlichen Raum. In der Leipziger City ist das ja schon lange wieder mรถglich. Fast vergessen ist schon, dass das im vergangenen Jahr mal anders war. Und ein freundlicher Fotograf die Passant/-innen um einen Augen-Blick bat.

Der freundliche Fotograf ist vielen Leipzigern, die neugierig sind auf die Fotografie dieser Stadt, lรคngst bestens bekannt. Seit 1982 lebt Mahmoud Dabdoub in Leipzig, hat an der HGB Fotografie studiert und auch schon einige eindrucksvolle Foto-Bรคnde aus dem Leipziger Leben verรถffentlicht. 2016 z. B. im Lehmstedt Verlag โ€žNeue Heimat Leipzigโ€œ mit Fotos aus den 1980er Jahren.Und im eigentlich schรถnen Jahr 2020 nutzte er die einmalige Gelegenheit, jenes Phรคnomen zu fotografieren, das irgendwann nur noch eine seltsame Erinnerung sein wird, die Erinnerung an das Jahr, als sich das Leipziger StraรŸenbild รผber Nacht รคnderte, weil die Corona-Pandemie auch Deutschland in Atem hielt und Maskentragen das einfachste und selbstverstรคndlichste Mittel war, die Mehrheit der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus zu bewahren.

Und gerade im ersten Lockdown im Frรผhjahr 2020, als es noch an den notwendigen Lieferungen an OP- und FFP2-Masken fehlte, entwickelten die Leipziger/-innen eine unbรคndige Phantasie, sich phantasievolle ganz persรถnliche Stoffmasken anzufertigen.

Die sind heute auch fast vรถllig wieder aus dem StraรŸenbild verschwunden, denn sie sahen zwar oft lustig, sehr kreativ, sehr persรถnlich aus. Aber sie schรผtzten nicht so gut wie die professionell fรผr den medizinischen Bedarf hergestellten Masken. Aber trotzdem trugen viele Leipziger/-innen diese Masken im Frรผhjahr 2020 mit einigem Stolz, zeigten sie doch โ€“ auch wenn sie Mund und Nase verbargen, dass hinter ihnen eine Persรถnlichkeit steckte.

Was T. O. Immisch in seinem einfรผhrenden Essay auf allerlei Gedanken bringt zum Verhรคltnis von Person, Portrรคt und Maske. Und รผber die Frage, was sich eigentlich verรคndert, wenn wir dem Gegenรผber nicht mehr auf den Mund schauen, wenn wir sie oder ihn ansehen, sondern in die Augen.

Augen, die sprechen

Und Mahmoud Dabdoub macht ja gerade dadurch sichtbar, wie viel Persรถnlichkeit wir mit unseren Augen vermitteln. Zumindest die meisten von uns. Es gibt auch Leute, die schauen durch einen hindurch, kรถnnen oder wollen sich auch nicht fokussieren. Und dem Gegenรผber auch ganz bestimmt nicht signalisieren, dass sie Kontakt aufnehmen wollen. Eigentlich zeigt Dabdoub mit diesen Fotos, die er zum grรถรŸten Teil in der Leipziger City bei herrlichstem Sonnenschein aufgenommen hat, dass die Pandemie etwas zum Vorschein gebracht hat, was auch vorher da war.

Denn es sind zwar โ€žAugen in der Pandemieโ€œ. Aber so haben einen diese Menschen auch vorher angeschaut. Wenn sie einen angeschaut haben. Wir sind ja nicht wirklich eine selbstbewusste Gesellschaft, in der sich alle mit gelebter Selbstsicherheit in die Augen schauen kรถnnen.

Wir tun nur gern souverรคn und cool. Aber in Wirklichkeit hat die Pandemie mit ihren Lockdowns auch ans Tageslicht gebracht, wie sehr wir schon vorher emsig aneinander vorbeigelebt (und geschaut) haben. Die feinen Risse, die seitdem auch mit kreuz-und-quer-denkenden Demonstrant/-innen sichtbar wurden, waren alle schon da. Nur haben das die meisten hinter einer โ€žIch-mach-mein-Dingโ€œ-Attitรผde versteckt, eine stille Verachtung fรผr die anderen, eine ausgestellte Coolness und entsprechende Maskeraden auch im รถffentlichen Raum.

Das wรคre ein Thema fรผr einen Fotoband โ€ฆ

โ€ฆ wie sich die Bewohner unserer hochtourigen Ellenbogengesellschaft auch sonst so maskieren, um nicht gesehen oder gar angesprochen zu werden. Und Sonnenbrillen wie aus Mafia-Filmen sind ganz bestimmt nur ein Teil dieser Inszenierung der Abweisung, des Nicht-erkannt-werden-Wollens. Denn wenn sich Menschen wirklich in die Augen schauen, zeigen sie auch Nรคhe und Wahrgenommensein.

Die offenen Blicke der Leipziger/-innen

Und Dabdoub hat viele dieser aufmerksamen, freundlichen und warmen Blicke eingefangen. Was auch an ihm selbst und seiner Freundlichkeit liegt. Er weiรŸ, dass man Menschen nicht einfach รผberfรคllt und dann posieren lรคsst auf der StraรŸe. Seine Bitten sind Einladungen. Und ganz bestimmt hat er sich auch viele Menschen herausgepickt, denen er schon ansah, dass sie nur zu bereit waren, sich selbst zu zeigen im Bild.

Offene Menschen, wie sie Dabdoub auch in den 1980ern schon in Leipzig getroffen hat. Menschen, die einfach die Freude ausstrahlen, da zu sein, so sein zu dรผrfen, wie sie sind. Ein Recht, das man sich ja nicht mehr nehmen muss. Und das sich doch so viele verkneifen.

Besonders eindrucksvoll sind sogar die Fotos der Kinder und Jugendlichen, die mit einem betรถrenden Ernst in die Kamera schauen, noch ganz sie selbst, noch durch kein Selbst-Bild konfiguriert. Man vergisst es ja als Erwachsener so schnell, dass es einmal eine Zeit in unserem Leben gab, in der wir nichts darstellen mussten, keine Rolle und keine Pose einnehmen mussten, weil das irgendjemand von uns erwartete.

Irgendwann am Ende der Jugendzeit schlagen diese Erwartungshaltungen ja zu, rutscht man in all die Bilder hinein, die sich andere von einem machen, โ€žHaltungenโ€œ, die uns eingeredet werden als das, was wir werden sollen, damit wir in die Welt der Auftritte, Uniformierungen und Gruppenzwรคnge hineinpassen.

Was bei den meisten zwar zu lebenslangen Enttรคuschungen fรผhrt. Aber die wenigsten verweigern sich dem, geben dem Druck nach und versuchen erst gar nicht, sie selbst zu sein. Denn das ist schwer genug in einer Gesellschaft, die durchsetzt ist mit Uniformierungen, Kasten- und Standesdรผnkel, von Auf- und Abwertung.

Deswegen wird man bestimmte Menschengruppen natรผrlich vermissen in diesem Buch. Menschen, die niemals mit einer bunten Blumen- oder Clowns-Maske durch die Stadt laufen werden, in Kleidung, der man ansieht, dass sie sich wirklich drin wohlfรผhlen, weil ihre Individualitรคt darin zum Ausdruck kommt.

Das Selbstbewusstsein der Individualisten

Es ist kein Zufall, dass Mahmoud Dabdoub hier jede Menge frรถhlicher, regelrecht entspannter Individualisten fotografiert hat. Jene Menschen, an die man zuerst denkt, wenn man an das Besondere an Leipzig denkt und daran, was Leipzig (vielleicht) wirklich von anderen Stรคdten unterscheidet. Das Lรคcheln gehรถrt natรผrlich dazu, diese stets unter der Oberflรคche mitschwingende Frรถhlichkeit, die offen ist fรผr die Welt, das Neue und dem Gegenรผber. Selbst in Zeiten, in denen ein unsichtbares Virus zu VorsichtsmaรŸnahmen und Abstand zwingt.

Auch das steckt ja in Dabdoubs Bildern: Die kleine Freude der Angesprochenen darรผber, angesprochen worden zu sein. So werden die Fotos auch zu kleinen Begegnungen, unverhofften Momenten in einer Zeit, in der man nicht so richtig wusste, ob das jetzt noch mรถglich sein kรถnnte, wieder mit Menschen Mensch sein zu dรผrfen. Und eine Zeit lang stand das ja wirklich nicht fest, war auch noch nicht klar, ob es bald Impfstoffe geben wรผrde, die unseren Gesellschaften nach und nach den Weg aus den Lockdowns ermรถglichen kรถnnten.

Zurรผck zu etwas, was einige Leute gedankenlos โ€žNormalitรคtโ€œ nennen. Dabei gehรถrt auch die Gefรคhrdung unseres Zusammenlebens zur Normalitรคt. Wir sehen die Gefรคhrdungen nur meistens nicht. Und auch nicht, wie gesellschaftliche Zwรคnge, Nรถte und Vereinsamungen diese Normalitรคt schon lange untergraben haben.

Es war auch ein Aufatmen in diesem Maskensommer, ein Gefรผhl von โ€žEs geht mir gut, ich bin so froh darรผberโ€œ. Stets mit der Gefahr im Hinterkopf. Man merkte wieder, wie wichtig es ist, achtsam zu sein und aufeinander achtzugeben.

Was Dabdoub nicht fotografiert hat

Natรผrlich fallen einem auch die anderen dabei ein, die sich bis heute anders benehmen. Aber von denen wird Mahmoud Dabdoub keinen Fotoband machen. Das wรคre ein Buch voller Frustration, Abwehr, Grimm und Aggression. Die sind noch da. Stimmt. Sie sind das verbitterte Kontra zu der Lebensfreude, die in Dabdoubs Fotos sichtbar wird, diesem freundlichen โ€žWir schaffen dasโ€œ. Und zwar: โ€žzusammenโ€œ.

Manche seine Portrรคtierten hat Dabdoub auch in Pรคrchen und kleinen Gruppen erwischt. Da wird das Moment schon sichtbar, dass die Bewรคltigung so einer Krise nur zusammen gelingt, dass man in so einer Zeit sogar erst wieder entdeckt, wie wichtig alle diese anderen Menschen um uns herum fรผr uns sind. Dass wir eigentlich gar nicht ohne sie sein wollen und kรถnnen.

Ein herzerwรคrmendes Buch und fรผr manche Kรคuferin / manchen Kรคufer die verblรผffende (Wieder-)Entdeckung, wie intensiv und lebendig menschliche Blicke sein kรถnnen. Denn das war vorher schon klar: Unsere Augen verraten fast alles รผber uns. Auch deshalb schauen wir uns oft lieber nicht in die Augen, aus lauter Grรผnden, die meistens keine sehr guten und angenehmen sind. Die aber sehr viel รผber die Vereinsamung und die zunehmende Kรคlte in unserer Gesellschaft verraten, die so gern die Freiheit feiert, aber nur den Egoismus meint.

Das kรถnnte anders sein. Auch davon erzรคhlen diese lebensfrohen Fotos aus dem Leipziger Maskenjahr 2020.

Mahmoud Dabdoub Augen in der Pandemie, Passage Verlag, Leipzig 2021, 17,50.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der โ€žCoronakriseโ€œ haben wir unser Archiv fรผr alle Leser geรถffnet. Es gibt also seither auch fรผr Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. รœber die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstรผtzen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tรคgliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikรคufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den tรคglichen, frei verfรผgbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit fรผr Sie.

Empfohlen auf LZ

So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:

Ralf Julke รผber einen freien Fรถrderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar