Eigentlich ist ja kein Kafka-Jahr, jedenfalls kein rundes. Aber irgendetwas liegt da in der Luft, das den 1924 verstorbenen Autor wieder allgegenwรคrtig macht. Auf einmal sitzen wieder รคltere Herren in der Straรenbahn vor einem, die Kafkas โSchlossโ mit ernsthafter Hingabe lesen. Eine Rezension von Tucholsky aus dem Jahr 1928 fรคllt einem in die Hand, in der er fast flapsig meint, ein Buch mรผsse รผberhaupt nicht druckfrisch sein, um es zu besprechen.
Das Buch, das Tucholsky von seinem Nachtisch nahm, war das postum von Max Brod herausgegebene Fragment โDer Verscholleneโ, dem Brod aber den viel markanteren Titel โAmerikaโ gegeben hatte. Und Tucholskys Urteil war klar: Wir sollten nicht so verflixt besessen davon sein, immer die neuesten Bรผcher zu lesen, sondern sollten lieber die besten Bรผcher lesen. Und Kafka zรคhlte fรผr ihn lรคngst dazu.Und er sagte Kafka einen erst noch kommenden groรen Ruhm voraus. Tucholsky hat recht behalten. Auch weil er in Kafkas Bรผchern das entdeckte, was sie bis heute so verblรผffend aktuell macht: Das Verlorensein des Individuums in Institutionen, die es weder รผberblickt, noch begreifen kann, die stur ihre Arbeit verrichten und keine Rรผcksicht nehmen auf den kleinen Herrn K., der sich in ihnen verloren fรผhlt.
Das ganze 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert solcher Kafka-Institutionen. Selbst da, wo die kleinen Angestellten nicht das Gefรผhl hatten, dass die Sache sich lรคngst verselbstรคndigt hatte. Manche merken es erst jetzt. Oder spรผren es zumindest, dass der Mensch es tatsรคchlich in all seiner Ohn-/All-Macht fertiggebracht hat, Prozesse in Gang zu setzen, die er weder noch steuern noch aufhalten kann.
Selbst das einst leuchtende Traumbild Amerika zerbrรถselt. Keiner hat das frรผher gemerkt als Frank Kafka, der sich vom Weltbeglรผckungsmythos der neuen Zeit nicht blind machen lieร. Denn dieser Mythos hatte von Anfang an nichts Menschliches, nahm keine Rรผcksicht auf die verstรถrten Gregor Samsas, die dem versprochenen Konsumglรผck Tag fรผr Tag nachjagten, indem sie eifrig zu Dienst liefen.
Nur um sich eines Tages als hilfloser Kรคfer im Bett wiederzufinden, zu nichts mehr nutze und damit รผberflรผssig. Das ist โ Kafka wusste es nur zu genau โ die gรคrende Angst der neuen Zeit. Man muss nur ein bisschen an der bunten Werbetapete kratzen. Oder ehrlich sein mit sich.
Wobei einem auch der 2019 verรถffentlichte Soundtrack der Kafka Band zu Amerika einfรคllt, mit und ohne Anfรผhrungszeichen. Denn das eine Amerika ist so sehr Fiktion wie das andere. Und auch zu Dalibor Markoviฤ Buch gibt es einen Soundtrack. Die Komponisten des Soundtracks zu โPappelโ sind das Berliner elektronische Duo Psycho & Plastic (Alexandre Decoupigny & Thomas Tichai). Den Soundtrack zum Buch โPappelโ findet man hier. Man kann diesen auch unter orcd.co/soundtrack2-pappel online anhรถren, wรคhrend man sich das Buch schnappt und sich hineinliest in Markoviฤs ersten Roman.
Das Ende der (falschen) Idyllen
Bislang war Markoviฤ eher mit Gedichten prรคsent. Sein erster Roman entfรผhrt den Leser erst einmal in den Wald, wo er regelrecht miterlebt, wie ein Pappelsamen Fuร fasst und zu einer kleinen stattlichen Pappel heranwรคchst in einer Umgebung, die noch zutiefst lรคndlich ist โ mit Fรถrster und Knecht und Magd. Also so ungefรคhr, wie auch viele Autoren die โheileโ lรคndliche Welt sahen, bevor sie merkten, wie die gefrรครige Gewalt der Moderne auch diese Idyllen zunehmend vermarktete und verschlang.
Was eigentlich auch dem Wald blรผht, in dem die Pappel nun schon ein paar Jahre lang wuchs und gedieh. Doch als die Holzfรคller kommen, macht sich die junge Pappel dรผnne. Aus der Pappel wird Konrad Pappel, der Baum verwandelt sich in einen Menschen, vollzieht also den umgekehrten Prozess wie Gregor Samsa in โDie Verwandlungโ.
Und was nun folgt, ist quasi ein umgekrempelter Kafka, geschrieben von einem Autoren, dem sehr wohl bewusst ist, wie die riesigen Maschinen arbeiten, die unser Leben bestimmen.
Der aber auch weiร, dass die kleinen Versicherungsangestellten trotzdem mit unerschรผtterlicher Betriebsamkeit ihrer Arbeit nachgehen und nicht mal eine Minute โ so wie der Versicherungsangestellte Kafka โ darรผber nachdenken, welche Rolle die eigentlich in der Maschine spielen, was die sture Gewalt der industriellen Verwertung mit den Arbeitern in den Fabriken anstellt und wie sich die mikroskopische Macht des kleinen Angestellten in diesem Prozess vervielfacht und verselbststรคndigt.
Aber Konrad Pappel wird kein Angestellter. In den ersten Kapiteln scheint er zwar noch in einer Welt unterwegs zu sein, die an Kafkas โDas Schlossโ erinnert, ist Vagabund, Eremit, sogar Rรคuber, lernt seine erste wilde Geliebte kennen und lebt noch fern von den Stรคdten.
Doch man ahnt es da schon: Dieser Konrad Pappel lebt kein normales Menschenleben. Als geborener Baum wird er ja viel รคlter, erlebt das Vergehen von Zeit ganz anders, oft driftet er mitten in der Handlung ab, trรคumt sich in groรe, kosmische Vorgรคnge, erlebt irre Abenteuer, nur um dann mit dem Leser wieder zurรผckzukehren in die Geschichte, die meistens gar nicht gut steht.
Aber anders als bei Kafka ist das nie ausweglos. Denn dieser Konrad Pappel macht sich bis zu Schluss nichts aus den ganzen Normen, die sich die Bewohner des weltweiten Amerika auferlegt haben, all diese Pflichten und รngste und Versicherungen. Wenn es ihm zu viel wird, taucht er ab, geht zurรผck in die Wรคlder, wo er ganze Kriege hinter sich bringt, sucht sich einen Job als Kartenabreiรer oder Nachtwรคchter oder wird gar Obdachloser, lรคsst sich wieder ein auf den Fluss von Tag und Nacht und den Wechsel der Jahreszeiten, bis er nicht mehr weiร, ob Mittwoch oder Freitag ist. Es ist egal.
Die Fiktion der Sicherheit
Ihm ist es egal. Denn etwas hรคlt ihn immer mit dem ganzen Kosmos verbunden. Dalibor Markoviฤ kann ja auch Dinge einflechten, die Frank Kafka noch nicht kannte. Die Erkenntnisse der modernen Quantenphysik etwa, die auch wissenschaftlich auf einmal den Raum der groรen Ungewissheit erรถffnet hat. Vom Standpunkt des tapferen Angestellten, dem nichts wichtiger ist als vertraglich festgeschriebene Gewissheiten, ein einziger Grund zum Fรผrchten und รngstigen. Denn was ist das fรผr eine Welt, in der nichts mehr ist, was es scheint?
Nur ist Konrad Pappel eben nicht K. Auch wenn sich sein Leben als Mensch schon frรผh mit diesem Kafka aus Prag verbindet, wenn auch nur mit dessen Stimme, heimlich aufgenommen auf einer Parlographen-Walze. Eine Sensation eigentlich, wenn es sie denn gรคbe. Oder gibt es sie gar? Die Erzรคhlschichten schieben sich immer wieder รผbereinander.
Und wรคhrend Pappel die Papprolle mit Kafkas Stimme immer wieder verliert, kehrt sie auf Umwegen immer wieder zu ihm zurรผck. Ganz zum Schluss darf er sogar hรถren, was auf der Wachsrolle festgehalten ist. Da aber hat er schon 150 Jahre gelebt, war auch bei einem kleinen Terrorkommando dabei, das sich โZirkusโ nannte, wurde von der Polizei gejagt und entkam auf wundersame Weise.
Wie auch anders? Fรผr einen zum Menschen gewordenen Baum gelten die Regeln der Menschen ja nur bedingt. Auch wenn er sich ihnen immer wieder fรผgt. Denn manchmal sucht er sich auch eine Arbeit, so wie im Kapitel โAmerikaโ, das im Grunde eine freundliche Parodie auf das schon frรผh verรถffentlichte Stรผck โDer Heizerโ von Kafka ist, das eigentlich schon Teil von โDer Verscholleneโ war.
Doch genauso wie Kafkas Held erreicht er das reale Amerika nie, nur ein fiktives Amerika spinnt seine Abenteuer fort, wรคhrend er im Krankenbett liegt und das Schiff schon lรคngst wieder auf Heimatkurs ist ins Deutschland der Nazi-Zeit.
Die selbstbewussten Frauen in Konrads langem Leben
Aber Dalibor Markoviฤs Roman ist auch keine neue Deutschland-Geschichte, auch wenn sie sich auf kafkaske Weise durchaus erzรคhlen lieรe. Das weiร man nach dem Lesen dieses Buches.
Denn dazu braucht es genau diese Welthaltung Kafkas: Die Unerbittlichkeit der riesigen Hierarchien, Bรผrokratien und โMรคrkteโ wenigstens ahnen zu wollen, die alles in sich verwerten und verschlingen, den einzelnen Menschen, der eben noch stolz als Herumtreiber durch den Wald zog, einspannen, einnummerieren und funktionieren lassen, ohne dass er weiร, welches Urteil รผber ihn verhรคngt ist und was im fernen Kopf der Maschine eigentlich vor sich geht. Wenn es den รผberhaupt gibt und nicht auch die Kapitรคne im Steuerhaus nur Getriebene sind, Pflichterfรผller, Handlanger.
Wobei es durchaus Stellen gibt im Buch, in denen Dalibor Markoviฤ seinen Kafka vรถllig verwirft, diesen Liebes- und Beziehungsscheuen. Denn wรคhrend sein Konrad Pappel die Dinge nimmt, wie sie ihm gegeben werden, und meist nicht einmal mitbekommt, wie die Dinge ausgehen, weil er gedanklich lรคngst wieder durch den Kosmos reist, sind es die Frauen, die ihm begegnen, die rebellieren, die auferlegten Rollen nicht akzeptieren.
So wie Luda, die ihn zum Rรคuber macht, oder Rosa, die die zugewiesene Opferrolle im Film nicht annimmt. Oder spรคter Dora, die ihn in ihre โrevolutionรคre Zelleโ holt. Alles Frauen, wie sie bei Franz Kafka nie vorkommen. Frauen, die aber mit ihrem Handeln die Weltbilder der scheinbar so weltsicheren Mรคnner infrage stellen, all der Kerle, die glauben, sie mรผssten irgendwelchen Bildern und Erwartungen genรผgen und dann auch nur zu bereit sind, Gewalt anzuwenden, wenn โes verlangt wirdโ.
Weil sie โder Sacheโ dienen, der Ordnung oder der Pflicht. Dรคmliche Ausreden, mit denen auch noch die grรถรten Schandtaten โentschuldigtโ werden. Aber nicht entschuldigt werden kรถnnen. Aber diese Jammerlappen in Heldenpose haben wir ja heute immer noch. All diese Dienstwilligen, die in den Hierarchien eifrigst immer nur nach oben krabbeln, Diener ihrer Herren, bis sie selber mal Herr sein dรผrfen.
Herumtreiben als Lebenshaltung
Da begegnen sich Kafka und Dalibor Markoviฤ durchaus, auch wenn dieser Konrad Pappel scheinbar genauso arglos und hilflos in die Mรผhlen gerรคt und nicht weiร, warum ihm das passiert. Doch er will gar nicht wissen, warum das so ist. Er hat ja einen vรถllig anderen Blick auf all das โ den Blick eines Baumes, der eigentlich nie aufgehรถrt hat, sich dem Flieรen des Wassers und dem Spiel der Photonen verbunden zu fรผhlen.
Der immer weiร, dass es auch auรerhalb dieser gesellschaftlichen Engen einen Platz fรผr ihn gibt. Das Herumtreiben ist sein Metier. Und nicht einmal als der lรคngst in den Ruhestand versetzte Kommissar Krohm ihn aufstรถbert und lebensgefรคhrlich verletzt, verliert er diese Verbundenheit.
In groรen farbigen Bildern schildert Dalibor Markoviฤ sein Wieder-Eins-Werden mit der Welt, seine Rรผckkehr ins Reich der Vegetation. Ein ganz und gar nicht tragischer Vorgang. Und damit eigentlich auch eine literarische Gegenthese zu Kafkas โVerwandlungโ, dem Buch, das Konrad Pappel in der Erstausgabe die ganze Zeit mit sich herumtrรคgt.
Er ist zwar nur zum Meister seines Lebens geworden, hat sich fast immer eher treiben lassen, anders als Kafkas Helden, die nicht ablassen konnten, die Urteile zu erfahren, die โda obenโ รผber sie gefรคllt wurden, die aber nie publiziert wurden. Man kann Kafka ja durchaus als eine radikale Vorwegerzรคhlung dessen lesen, was die Nazis nach seinem Tod รผber die Welt brachten.
Man kann ihn aber auch so lesen, das er sehr wohl verstand, wie all die Apparate und Institutionen funktionieren, die der Mensch sich schafft, nicht ahnend, wie er damit die Hoheit รผber sein Handeln aus der Hand gibt und sich Macht und Gewalt immer mehr verselbstรคndigen, sodass eigentlich niemand mehr richtig weiร, wo sie denn jetzt eigentlich zu verorten sind.
So gesehen ist auch das, was Menschen anrichten auf diesem Planeten, nur Teil eines groรen Seins, nur dass sie es nicht merken. Sie haben keinen Blick dafรผr. In seiner letzten Traumsequenz treibt Konrad Pappel รผber ein von den Fluten verschlungenes Frankfurt. Nur noch die Spitzen der Bankentรผrme ragen aus dem Wasser.
โTief unten im Ozean machten die Menschen gewiss weiter wie gewohnt, durch das Wasser im Takt gedรคmpft.โ Ahnungslos wie immer, nicht mal besorgt wie all die besorgten K.s in Kafkas Geschichten. Aber Weitermachen (man darf durchaus die Inflation des Wortes โmachenโ im aktuellen Wahlkampf bemerken) hat nichts mit Treibenlassen zu tun, dieser fast traumhaften Herumtreiberei von Markoviฤs Held, die sehr viel mit diesem letzten Herumtreiben auf den Wellen des Ozeans zu tun hat.
Einem fast gleichgรผltigen Einssein mit der Welt, wie sie ist. Was man auch als Gelassenheit beschreiben kรถnnte, der Fรคhigkeit, die Dinge lassen zu kรถnnen, wie sie sind. Was sicher einem, Baum leichterfรคllt als einem armen Wรผrstchen von Mensch, dem frรผh schon beigebracht wird, zu tun, was von ihm verlangt wird. Und sich gleichzeitig wichtig zu nehmen.
Anders als dieser Pappel, der sich auch โsichtlich zufrieden, aber orientierungslosโ verlaufen kann. Und auch deshalb keine Angst hat, verloren zu gehen. Auch das so eine kleine, fast frรถhliche Antithese zu Kafka. Und zu den vielen so verzweifelt um ihr kleines Ich bangenden Bewohnern der Gegenwart, die Kafka nie lesen wรผrden, schon aus Angst, sich in Gregor Samsa wiederzuerkennen.
Dalibor Markovic Pappel, Voland & Quist, Berlin 2021, 24 Euro.
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