In den letzten Jahren hat sich die alternative history als eigenes Genre innerhalb der Fantasy etabliert. Denn da geht es tatsächlich vor allem um Phantasie: Was wäre eigentlich passiert, wenn die historische Entwicklung einen anderen Verlauf genommen hätte? Napoleon also zu Beispiel in der Seeschlacht von Trafalgar 1805 gewonnen hätte und nicht Admiral Horatio Nelson. Und dann England erobert hätte.
Hat er aber nicht. Wissen wir ja alle. Nelson wurde zum britischen Helden. Manche Historiker sind sich auch sicher, wie Wikipedia es formuliert: „Sie (die Schlacht, d. Red.) trug indirekt zu Napoleons Niederlage auf dem europäischen Festland bei.“Denn damit war England als militärische Größe nicht ausgeschaltet und Spanien begann zu rebellieren. Es deutet vieles darauf hin, dass Geschichte eben doch nicht so einfach von tollkühnen Feldherrn gemacht wird, sondern ihre Widerstände, Trägheiten und Kipppunkte kennt, an denen alle Napoleons der Welt nichts ändern können und an denen sie scheitern. Letztlich sogar gesetzmäßig und zwangsläufig.
Was ja bekanntlich auch die deutschen Generäle und Feldmarschälle nicht begriffen haben. Wer die Welt nur in militärischen Kategorien sieht, ist mehr oder weniger blind wie ein Ochse, auch wenn er die Schlachten anfangs mit Überwältigung gewinnt. Da waren sich Leute wie Hitler und Napoleon gleich.
Deswegen ist der eigentliche Reiz der alternativen Geschichtserzählung zwar, Brennpunkte der Geschichte mal probehalber anders verlaufen zu lassen – Nelson hätte ja vielleicht doch verlieren können. Aber was wäre dann wirklich passiert? Welche geschichtlichen Kräfte wären dann wirksam geworden? Und: Hätte die Geschichte dann tatsächlich einen völlig anderen Verlauf genommen?
Alles sehr faszinierende Fragen, die zumindest ahnen lassen, dass in jedem Kipppunkt der menschlichen Geschichte auch Alternativen stecken. Die wahrscheinlich in der Regel nicht weit vom tatsächlichen Geschehen gelegen hätten, aber weit genug, um Geschichte nachhaltig zu verändern.
Und nachdem sich hochkarätige Historiker Ende des 20. Jahrhunderts mit diesen „Was wäre wenn …“-Geschichten beschäftigt hatten, griffen um die Jahrtausendwende immer mehr Fantasy-Autoren diese Erzählweise auf.
Was man durchaus mutig nennen darf, denn dazu gehört auch jede Menge Wissen über die Gesellschaft, die Technik, die Ökonomie und den Alltag der Menschen in der ausgewählten Zeitepoche. Denn erst dann funktioniert die Logik, werden die Leser/-innen tatsächlich mitgenommen in die alternative Erzählung einer etwas anderen Geschichte.
Natürlich kann man auch weiter abweichen. Umso mehr Beinfreiheit hat man beim Erzählen und kann auch Elemente nutzen, die eher aus anderen literarischen Sparten stammen wie in diesem Fall dem historischen Roman der Romantik, den ja selbst jüngere Erdenmenschen kennen, weil die Erzählmuster ja auch in Hollywoodfilmen nur zu gern verwendet werden.
Die Autoren kennt jeder zumindest dem Namen nach: Alexandre Dumas und Walter Scott. Beide haben den „edlen Helden“ zur Hauptfigur gemacht und dabei die tatsächlichen Geschichtsereignisse auch kräftig gegen den Strich gebürstet. Oder vielleicht besser formuliert: phantasievoll verwurstet. Man sollte die „Drei Musketiere“ oder „Ivanhoe“ nicht unbedingt als Blaupause benutzen, wenn man versucht, die wirklichen historischen Ereignisse dahinter zu ergründen.
Aber das Buch, das der seit kurzem in Markkleeberg heimisch gewordene Fantasy-Autor Carsten Steenbergen hier vorlegt, erzählt auch davon, wie stark die Figur des romantischen Helden heute noch immer in unseren Köpfen verwurzelt ist und unser Verständnis von Geschichtenerzählen prägt. Denn natürlich erzählt Steenbergen hier eine total romantische Geschichte – selbst mit zwei Liebenden, die sich am Ende finden, obwohl sie sich am Anfang wie Hund und Katz begegnen.
Ein bisschen Jules Verne steckt auch in der Geschichte, auch wenn Steenbergen die technische Entwicklung, die den französischen Schriftsteller in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so faszinierte, in die erste Hälfte verlegt, weil er unbedingt einen Kaiser Napoleon haben möchte, der über Frankreich und England herrscht.
Und 1820 lebte Napoleon ja noch, hat aber im Roman wohl – statt die ganzen sinnlosen Kriege in Deutschland und Russland zu führen – eher auf die Technik gesetzt und eine furiose technische Revolution ausgelöst, die seinem Imperium schon 1820 Luftschiffe und Dampfmobile beschert, die nun wieder Steenbergens Heldin Florance faszinieren, ein hochtalentiertes Waisenkind, das von seinem französischen Mentor im Haus des Earls Albert Hellingway als Anzulernende beschäftigt wird, der wiederum ein berühmter Gelehrter und treuer Vasall Napoleons ist. Die Geschichte beginnt ihren Lauf, als eine geheimnisvolle neue Maschine auf seinen Landsitz geschleppt wird und der Landsitz auf einmal von Rebellen angegriffen wird.
Wer seinen Walter Scott kennt, wird sich in heimischen Gefilden wiederfinden, auch wenn es diesmal kein König Richard Löwenherz ist, der am Ende seine treuen Untertanen vom Unhold befreit, und der wichtigste Rebell auch nicht Robin von Locksley heißt. Aber es entwickelt sich alles, wie man es aus den romantischen historischen Romanen kennt: die Guten finden zueinander, merken mitten in dem schlimmsten Fluchten und Niederlagen, wer eigentlich wirklich der Böse ist und wer zu edlen Taten fähig ist.
Die Sache entwickelt sich bis auf Messers Schneide und es geschehen überraschende Wendungen, bei denen sich Hollywoodregisseure die Finger lecken würden vor lauter Special-effects-Vergnügen. Und just in dem Moment, in dem der absolute Bösewicht zu triumphieren scheint, nimmt alles die seit Dumas berühmte Wendung: der König … na ja, in diesem Fall die Entsandte des Kaisers kommt zur Rettung. Der englische König wird in diesem Fall befreit. Und wäre Florance nicht so ein pfiffiges Mädchen mit absoluter Begeisterung für ihr Metier gewesen, wäre am Ende alles schiefgegangen.
Und da die Held/-innen nach dem Beschuss von Hellingways Landsitz auf unterschiedlichsten Wegen auf der Flucht sind, lässt sich die Sache schön dramatisch in parallelen Strängen erzählen, manche kurz vor dem Enden, weil die Flüchtenden nur geradeso den Verfolgern entkommen können. Die wiederum hat Steenbergen diesmal bei den Nazis geklaut: eine brutale Totenkopf-Einheit, die im Dienst des französischen Geheimdienstchefs durch England wütet.
Man sieht: Steenbergen benutzt lieber die großen, deftigen Farbtöpfe. Auch weil er ja eher nicht im erwachsenen Teil der alternative history unterwegs ist (wo man eher Bruce Sterling und William Gibson mit „Die Differenzmaschine“ finden wird), sondern im Jugendbuchbereich. Der hat seine eigenen über Jahrzehnte von Vermarktern, Lektoren und Verlagen geschaffenen Regeln, zu denen auch gehört, dass nichts unmöglich ist. Wer damit aufgewachsen ist, weiß, dass das nicht nur Drachen, Kobolde und Zauberer betrifft, sondern auch technische Wunderwerke.
Denn natürlich glauben auch junge Leser heutzutage nicht mehr an Wunder. Beziehungsweise nur noch, wenn dahinter eine „richtige Erfindung“ steckt. Denn wenn man die Geschichte mit genialen Erfindern spickt, die ihrer Zeit um Jahrhunderte voraus sind, kann man natürlich die ganze lahme Wirklichkeit vergangener Jahrhunderte so richtig in Schwung bringen.
Wie langweilig hätte eine echte Invasion napoleonischer Truppen in England 1805 ausgesehen im Vergleich mit den technischen Gerätschaften, mit denen das Kaiserreich bei Steenbergen das tapfere England unterdrückt. Wobei ich nicht weiß, ob die jungen Leute das alles so gern lesen, weil es derart viel action darin gibt, oder weil nun mal gerade die Zeit dafür ist.
Zeit in dem Sinn, dass sich auch eine Menge Erwachsener wieder nach Heldinnen und Helden mit edler Haltung sehnen, nach richtigen Kämpfen zwischen Gut und Böse, weil die Gegenwart mit ihrer Uneindeutigkeit so schwer auszuhalten ist. Oder geht eine derart von Individualismus geprägte Gesellschaft nur, wenn in den Köpfen der Menschen der Traum vom romantischen Leben, Lieben und Handeln noch lebendig ist?
Jeder glaubt, er wäre im Ernstfall fähig, selbstlos und ritterlich zu handeln? In diesem Fall projiziert auf eine Heldin, wobei das ja auch längst romantisch ist, auch wenn man Charles Dickens und seine „Little Dorrit“ eher der Satire und dem realistischen Roman zuordnen mag. Aber mit Dickens kommt auch die tatkräftige Heldin in die Literatur, die sich von Widrigkeiten nicht unterbuttern lässt und trotzdem ein Herz zu verschenken hat.
Das alles taucht als Erzählmuster hinter Steenbergens Geschichte auf, die er im Jahr 1820 handeln lässt, in einem England, das eher dem romantischen England Walter Scotts ähnelt als jenem, aus dessen Schattenseiten Charles Dickens seine Stoffe bezog. Was natürlich dazu anregt, die erwähnten Autoren noch einmal zu lesen. Denn im Anfang des (romantischen) Romans steckt auch die tiefe Ahnung, dass diese neue Gesellschaft, die ja wirklich ab 1820 in Europa entstand, weder romantisch noch heldenhaft noch ritterlich sein würde.
Was einem Alexandre Dumas nur zu bewusst war: Er gab den Lesern seiner Romane den Stoff, von dem sie träumen konnten, das Bild einer Vergangenheit, die niemals stattgefunden hat, und den schönen Glauben daran, dass einem im Leben auch mal was großartig Romantisches passieren könnte.
Vielleicht sogar eine Stunde der Bewährung, in der man aller Welt zeigen könnte, was eigentlich in einem steckt, was man nur nie rauslassen durfte, weil man irgendeinen öden Verwaltungsjob hatte oder nur das sechste Kind einer Tagelöhnerfamilie war.
Träumen darf man ja mal. Auch als Mädchen, das den großen Jungs nur zu gern mal zeigen würde, dass es mit Technik besser umzugehen versteht als sie. Aber wann darf man das schon mal, außer im Roman, wenn die Sache wirklich völlig aussichtslos ist und keiner mehr weiterweiß? Dann dürfen auch die Mädchen mal zeigen, was sie können.
Carsten Steenbergen Florance Bell und die Melodie der Maschinen, Ueberreuter Verlag, Berlin 2021, 17,95 Euro.
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