Es muss ein Foto geben, das zeigt Anna Seghers unter tropischen Bäumen sitzend mit ihrem Notizbuch auf dem Schoß, aufgenommen 1963 im Garten des Dichters Jorge Amado in Brasilien. Man verbindet ja den Namen Anna Seghers meist nur mit ihren großen Erfolgsroman „Das siebente Kreuz“. Aber mit seiner Erzählung erinnert der New Yorker Schriftsteller Robert Cohen auch daran, welche wichtige Rolle Südamerika im Leben von Anna Seghers spielte.

Nur scheinbar eine ganz einfache Geschichte

Es ist eine nur scheinbar ganz einfache Geschichte, wie er da versucht, Anna Seghers’ Aufenthalt bei Jorge Amado minutiös zu schildern, ihre Gedanken einzufangen und jenen Moment, der in den üblichen Berichten über den Osten und seine Schriftsteller/-innen fast immer verschwindet. Augenscheinlich schon automatisch wegretuschiert, bevor heute die maßgebende Texte zu Osten veröffentlicht werden.

Der Wikipedia-Beitrag zu Anna Seghers gehört in dieselbe Kategorie und scheint – über 30 Jahre nach dem Ende der DDR – mit trockener Engstirnigkeit das Bild noch einmal zu bestätigen, das die offizielle DDR-Literaturgeschichte von ihren „sozialistischen Schriftstellerpersönlichkeiten“ gemalt hatte. In diesem Bild ist Anna Seghers längst zur Literaturfunktionärin erstarrt, die willig den Parteiauftrag als Vorsitzende des Schriftstellerverbandes erfüllte und ansonsten ordentliche proletarische Literatur schrieb.

Als Walter Janka der Prozess gemacht wurde, hat sie geschwiegen? Als Heiner Müller aus dem Schriftstellerverband geschmissen werden sollte, hat sie dagegen gestimmt? Und sonst?

Bücher vor der Kulisse Süd- und Mittelamerikas

Sonst war da nichts? In der sozialistischen Parteipresse sowieso nicht. Wenn man die zum Maßstab nimmt, hatte die DDR-Literatur weder Brisanz noch Weltläufigkeit, hatten alle Schriftsteller dieselbe parteiliche Einstellung (bis auf die „Abweichler“). Und niemand diskutierte öffentlich alternative Möglichkeiten zu leben. Dabei hat Anna Seghers reihenweise Bücher geschrieben, in denen Süd- und Mittelamerika die Bühne bieten.

Und das nicht nur, weil ihre Zeit im Exil in Mexiko noch nachwirkte. Denn sie unterhielt auch intensive Beziehungen zu Schriftstellerkollegen wie Jorga Amado – der zeitweilig selbst wieder im europäischen Exil leben musste.

Wer einmal ein wirklich aussagekräftiges Buch über die vielen Exile des 20. Jahrhunderts schreiben wollte (das 21. Jahrhundert ist ja gerade dabei, neue Exil-Geschichten zu schreiben), würde eine Welt zeigen, die in dieser Vielfalt und Dichte nicht erwartbar ist, wenn man alle diese platten Wikipedia-Artikel liest, in denen das Menschliche irgendwie völlig verschwindet.

Brasilien: Alles ist so anders

„Transit“, „Überfahrt“, „Das wirkliche Blau“ oder „Drei Frauen aus Haiti“ heißen die Bücher, in denen Anna Seghers die faszinierende Welt Süd- und Mittelamerikas lebendig werden ließ und die auch allesamt in der DDR erschienen. Die auch ihre Leser/-innen fanden. Und die auf ihre Weise natürlich den Gedanken wach hielten, dass die Welt nicht alternativlos ist und die kleine DDR gar der Nabel der Welt.

Und hier setzt Cohens Erzählung an, der seine Heldin tagelang darüber grübeln lässt, ob sie die Gelegenheit einfach nutzt und da bleibt, in Brasilien eine neue Heimstatt sucht. Denn das Land und seine Bewohner faszinieren sie. Hier fühlt sie sich auf andere Art heimisch, ist beeindruckt von der Lebensfreude selbst der Armen.

Und einen Moment lang sieht es ganz so aus, als würde das kleine, kalte Land da im Norden den Abwägungsprozess verlieren und die auch weltweit gelesenen Autorin beschließen, nicht mit dem polnischen Frachtschiff „Joseph Conrad“ zurückzukehren.

Anna Seghers und Franz Kafka

Bis sie sich vergegenwärtigt, dass sie auf diese Weise auch Freunde verlieren würde. Denn kalt und abweisend wirkt das kleine Land da oben eigentlich nur, wenn man nur die offizielle raue Schale betrachtet, aber vergisst, dass es unter dieser Schale durchaus herzliche und menschliche Beziehungen gibt.

Sogar Wärme, was Cohen ausgerechnet an Seghers’ Beziehung zu Kafka deutlich macht. Der Wikipedia-Text zu Anna Seghers verschweigt ihre Teilnahme an der Kafka-Konferenz 1963 in Liblice genauso wie der Artikel zur Kafka-Konferenz selbst. Auch so zensiert man Geschichte und trägt über Wikipedia die Spiegelfechtereien politischer Immer-Rechthaber aus.

Aber Cohen legt es Seghers ja regelrecht in den Mund, wenn er sie zum erträumten Kafka sagen läst: „Die Taxonomien engen uns ein. Scheibe ich als Deutsche? Als Jüdin? Als Kommunistin? Als Mutter? Als Exilantin? Schreibe ich als Frau?“

Und in gewisser Weise war das auch Streitthema auf der Kafka-Konferenz, die insofern wirksam wurde, als sie erstmals ernsthaft das Thema Entfremdung in der (sozialistischen) Gesellschaft diskutierte. Immerhin ein Begriff direkt von Karl Marx, der damit aber die Entfremdung im kapitalistischen Arbeitsprozess meinte. Und das nun auch im ach so fortschrittlichen Sozialismus?

Kafka und die DDR: keine gute Beziehung

Die Antwort lautete am Ende durchaus Ja, auch wenn das zu heftigen Implikationen führte in einer verordneten Gesellschaft, in der es offiziell keine Entfremdung mehr geben durfte. Parteibonzen glauben ja immer, dass sie so etwas nur anweisen müssen, dann ist das so. Der Prager Frühling von 1968 war ein sehr direktes Ergebnis der Kafka-Konferenz. So wurde Franz Kafka produktiv gemacht – und in der DDR jahrelang zur persona non grata.

Wofür weder Kafka noch die Konferenzteilnehmer etwas konnten, schon gar nicht Anna Seghers, deren Werk – das betont Cohen – viele Bezüge zum Werk Kafkas hat. Aber auf einer anderen Ebene als der der „Entfremdung“. Eigentlich gleich doppelt. Etwa wenn Cohen seinen Kafka sagen lässt: „Für Schuldfragen, das werden Sie mir zugestehen, Frau Seghers, bin ich Experte. Dass wir alle schuldig sind, weiß ich seit der Geburt. (…) Aber Sie meinen eine andere Schuld. In ihrem Werk zeigen Sie auf die Schuldigen.“

Cohen lässt Seghers zwar zustimmen. Aber wer ihre Bücher kennt, weiß, dass beides drin vorkommt. Dass ihre Held/-innen sehr wohl wissen, dass es eine simple Zuweisung von Schuld nicht gibt und jeder selbst mit seinem Gewissen zu kämpfen hat, mit seinem Gefühl, nicht gut genug gewesen zu sein.

Was wäre tiefer als Armut?

Und zwar gerade dann, wenn sich die Unmöglichkeit, Gutes zu tun, mit tatsächlich erlebter (oder auch nur gefühlter) Machtlosigkeit verbindet. Was Cohen dann wieder Kafka formulieren lässt: „Die meisten halten die Gegenstände, von denen meine Geschichten handeln, für eine Äußerlichkeit. Sie glauben, es sei mir nicht besonders ernst, wenn ich über ein armes Dorf schreibe, über Knechte und Tagelöhner, die von der Herrschaft kujoniert werden. Sie meinen, es gehe mir um Anderes, Tieferes. Ich wüsste nicht, was tiefer wäre als Armut, die herrschte zu meiner Zeit.“

Wer nicht zu den Mächtigen gehört, sieht anders auf die Welt. Und erlebt – das deutet dieser imaginierte Dialog zwischen Kafka und Seghers ja an – viele kafkaeske Zustände als Normalität. Ebenso wie die ratlosen K-Gestalten in Kafkas Werk, die nie wirklich erfahren, was „die Herrschaft“ nun will oder was man eigentlich falsch gemacht hat, dass man nun vor Gericht gezerrt wird.

Ihre Welt war nie schwarz-weiß

Und an dem Punkt merkt man, warum Cohen so von Anna Seghers und ihren Erzählungen fasziniert ist: Sie zeigte selbst in ihren späten Büchern nicht nur ihre Liebe zu den Armen, sah in der Armut den Reichtum an Menschlichem und verweigerte sich den harten Urteilen. Ihre Welt war nie schwarz-weiß.

Wie Kafka war ihr bewusst, dass die eigentlichen menschlichen Nöte und Freuden in der Zone dazwischen liegen. Was am Ende auch die Heldin in Cohens Geschichte zu einer Entscheidung bringt. Denn: „In diesen Zonen fehlt die Dämmerung, die Stunde entre chien et loup, die sie in Europa so liebt, diese Spanne, wo die Konturen allmählich verschwimmen, das Feste seine Festigkeit verliert, wo sich die Natur der Lebenden erbarmt.“

Das Leben in seiner Ungewissheit und Unperfektion zulassen

Man kann ihr ganzes Werk auch unter dem Stichwort „Erbarmen“ lesen. Und im Grunde erbarmt sie sich ihrer selbst, als sie in dieser Geschichte beschließt, doch wieder zurückzukehren in den Norden. Auch wenn sie ganz zum Schluss merkt, dass ihre eigentliche Heimat tatsächlich das Dazwischen ist: „Wenn sie wählen könnte, würde sie nur noch auf diesem Frachter schreiben, umgeben von Wasser, eine Tochter von Iemanjá, auf einem Schiff, das nie ankommt.“

Iemanjá erinnert hier an eine Wahrsagung, die Seghers während ihres Aufenthalts bekommen hat und über die sie ebenfalls grübelt. Aber irgendwie stimmt sie ja: Es ist das vielleicht stimmigste Bild für eine, die versucht, das Leben in Geschichten einzufangen. Das sich ja nicht einfangen lässt, es sei denn, man lässt es in seiner Ungewissheit, Rätselhaftigkeit und Unfertigkeit zu.

Cohens Jorge Amado betont noch, was für ein Glück es für ihn als Autor ist, „zehntausend Kilometer von euren Problemen entfernt“ zu leben, „nicht im Zentrum des Kalten Krieges, wie ihr, unablässig ausgesetzt dem Hass und der Angst vor einem neuen Krieg“.

Das Leben in Deutschland? Dürftig!

Was einen so beiläufig auf den Gedanken bringt: Haben wir 1990 eigentlich vergessen, den Kalten Krieg zu beenden? Tobt der nicht weiter in all der Ignoranz auch der Literatur aus dem Osten gegenüber? Diesem Zurechtschnippeln der Schablonen, wie man all das bitteschön zu betrachten hat?

Was dabei herauskam, fasst Seghers in dieser Erzählung mit den Worten zusammen: „Im Vergleich zu den Erfahrungen, die ich hier mache, kommt mir mein Leben in Deutschland dürftig vor. Es ist ja nicht dürftig, aber es kommt mir so vor, wenn ich es an eurem messe.“

Auch deshalb reist man ja: um den Reichtum des eigenen Lebens wieder zu sehen. Dazu braucht es auch die Sicht von draußen, den Vergleich und das Nachdenken darüber, was einem wirklich nah und wichtig ist im Leben.

Fazit: ein einfühlsames Plädoyer nicht nur für eine Schriftstellerin

So wird Cohens Erzählung, die er schon 2013 / 2014 schrieb, zu einem einfühlsamen Plädoyer nicht nur für eine unvergessene deutsche Schriftstellerin und ihre Geschichten, sondern auch für die ozeanüberspannende Freundschaft mit Amado und damit die Fähigkeit, die Welt mit menschlich-weitem Blick zu betrachten, nicht mit dem der Grals- und Grenzhüter, die leider auch viel zu oft die Lexikoneinträge schreiben.

Leute, die nie aufgebrochen sind, um mehr von der Welt zu sehen als ihr kleines Kleckerdorf. „Ich glaube, ich ziehe das Leben auf einem Schiff dem Leben auf dem Festland vor“, lässt Cohen seine Anna Seghers in Amados Garten denken. Ein Lebensmotto, das man einfach mitnehmen kann aus diesem Buch.

Robert Cohen Anna Seghers im Garten von Jorge Amado, Faber & Faber, Leipzig 2021, 20 Euro.

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