Da fiel auch Jonathan Hoffboll augenscheinlich sofort die bekannte Fassade der Alice-Salomon-Hochschule Berlin ein, die 2017 zum Spektakel in den Medien wurde, weil der Asta der Hochschule das auf der Fassade angebrachte Gedicht Eugen Gomringers als frauenfeindlich interpretierte. Ein Gedicht, das eigentlich von Bewunderung für Frauen erzählt und sie mit Blumen vergleicht. Und eine Blume spielt auch in Wolfgang Borcherts „Die Hundeblume“ die zentrale Rolle.
Im Ergebnis der seltsamen Asta-Entscheidung ist Gomringers Gedicht heute mindestens dreimal im Stadtraum von Berlin auf Hausfassaden zu lesen. Und lädt damit natürlich erst recht ein dazu, darüber nachzudenken, welche Gedanken- und Gefühlswelten sich in den Bildern von Gedichten auftun.Jonathan Hoffboll studiert Illustration im Master an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg und hat das Motiv einer mit einem poetischen Text beschriebenen Hausfassade als Illustration von Borcherts „Die Hundeblume“ aufgegriffen. Hier fließt der Text über die Fassade der Haftanstalt, in der der Erzähler der Geschichte jeden Tag seine Runden läuft mit den anderen Gefangenen.
Immer um ein winziges Stück grauen Rasens herum, auf dem eines Tages eine Hundeblume wächst, die für den Inhaftierten zur Manie, zur Liebe und zu einer betörenden Begegnung mit der lebendigen Welt wird, die er innerhalb der Gefängnismauer nicht mehr sehen kann. Darin stecken natürlich auch Borcherts eigene Gefängniserfahrungen, die er in dieser Geschichte noch einmal in all ihrer Intensität niedergeschrieben hat.
Es passiert eigentlich nicht viel in seinen Kurzerzählungen. Aber so gestaltet er gerade das intensive Erleben, das meistens an uns vorbeiweht, kaum bemerkt, unwichtig, klein. Obwohl es uns tief berührt, das anspricht, was uns unter aller anerzogenen Schale erleben lässt, dass wir noch Menschen sind, fähig zu Gefühl und Mitgefühl.
So wie der Onkel des Erzählers in der Kurzerzählung „Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels“, die scheinbar nur eine kleine banale Handlung in einem Biergarten vorführt, aber darin eben auch sichtbar macht, wie Ausgrenzungen, Abwertungen und Verachtung unter der bürgerlichen Oberfläche allgegenwärtig sind. Und gleichzeitig zeigt Borchert, dass solche Begegnungen nie so fein artikuliert wie im Theater passieren, sondern voller Irritationen, Verunsicherung und der ganz akuten Unfähigkeit zur klaren Artikulation sind.
Das Manko der beiden Helden wird geradezu symptomatisch für die Unfähigkeit einer ganzen Gesellschaft, über ihre Schwächen und Verletzungen reden zu können. Gerade dadurch wird die Szene auch für den kleinen beobachtenden Jungen so bedrückend und schambehaftet, weil er das augenscheinlich genauso gelernt hat: Schwächen niemals zugeben, stets die Fassade aufrechterhalten und eigentlich auch: sich nicht über andere Menschen lustig machen.
Eine Gemengelage, die viele Kinder vor und nach den diversen deutschen Kriegen anerzogen bekommen haben dürften: sich ja nie so benehmen wie das Kind in „Des Kaisers neue Kleider“.
Aber warum eigentlich nicht? Kann es sein, dass dieses Vertuschen, Drucksen und Verheimlichen genau denen in die Hände spielt, die erst die Verletzungen, Verkrüppelungen und Abwertungen produzieren? All das Zeug, das dicht unter der Oberfläche wabert und am Ende vor allem nach Macht über andere giert?
Borcherts Kurzgeschichten haben es in sich. Neben „Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels“ und „Die Hundeblume“ hat Hoffboll auch die „Lesebuchgeschichten“ illustriert, kleine Lesetexte, die auf den ersten Blick harmlos wirken, eben so harmlos wie die von staatlichen Auguren in der Regel erwünschten Erstlesetexte zur Bildung der Schüler.
Aber in den Texten führt Borchert genau diese Welt der autoritären Selbstgerechtigkeit ad absurdum, all die Scheinheiligkeiten der Mächtigen, die Kinder eigentlich nur als künftiges Kanonenfutter betrachten, das man bei der nächsten Gelegenheit wieder verheizen kann.
Die Texte kommen so einfach daher, dass man erst nach dem Lesen richtig stutzt und merkt, wie ein Autor, der selbst Krieg, Verwundung und Verurteilung erlebt hat, die Denkweise der Leute bloßlegt, die Menschen nur als Material und Kapital betrachten, Menschenmaterial und Humankapital. Letzteres Wort ja heute sogar noch wissenschaftlich verbrämt, weil die Leute, die es verwenden, nicht einmal mehr fühlen, wie falsch sie denken und sprechen.
Hoffboll nutzt im Grunde Comic-Elemente, um diese Geschichten zu illustrieren. Teilweise erinnert das an den begnadeten Illustrator Hans Tichy, auch wenn Hoffboll doch eher auf die Polish Poster School bezieht. Aber das beißt sich nicht, denn beides greift auf dieselben Traditionslinien zurück und lebt geradezu von den starken satirischen Elementen, die in diesem Fall auch sichtbar machen, wie bitterscharf die Satire auch in Wolfgang Borcherts Geschichten ist, auch wenn man beim Lesen selbst oft das Gefühl hat: eigentlich ist das nicht auszuhalten, zu intensiv.
Was ja einer der Gründe dafür ist, dass die meisten Menschen sich heutzutage gar nicht mehr auf ein wirklich intensives Erleben der Welt einlassen, sondern alles tun, um sich abzulenken, ja nur jede Minute mit irgendetwas zu füllen, das verhindert, dass sie sich der Intensität des Augenblicks stellen müssen.
Sie sind wie der Junge in der „Schischyphusch“-Geschichte, möchten am liebsten gar nicht dabei sein und sich aus lauter Scham unterm Tisch verkriechen, obwohl vor ihnen etwas Unerhörtes geschieht, das sich gerade in seiner gefühlten Heftigkeit als etwas zutiefst Beglückendes erweist – aber erst im Nachhinein, wenn auch der Junge begreift, wie diese Begegnung alle Beteiligten zutiefst aufgewühlt hat.
Das ist jetzt Band zwei in der von Faber & Faber begonnenen Reihe „Edition de Bagatelle“, in der Kunststudierende aus Leipzig und Hamburg Texte der Weltliteratur illustrieren und damit zeigen können, dass die Buchillustration in Deutschland nicht wirklich tot ist, sondern in der grafischen Ausbildung weiterhin gepflegt wird. Und auch ihre Liebhaber findet, die Bücher auch deshalb kaufen, weil sie eindrucksvoll illustriert sind.
Wolfgang Borchert Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels, Faber & Faber, Leipzig 2021, 20 Euro.
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