Was macht man eigentlich so als Messegesellschaft, wenn die Messen und Kongresse coronabedingt ausgefallen sind? Man setzt sich hin und konzipiert ein Buch. Zum Beispiel, über – Messe. Oder eins, das eigentlich schon seit vier Jahren überfällig war. Denn 2017 schon feierte Leipzigs Messegesellschaft 100 Jahre Doppel-M.
Damals mit einer goldenen „100“ am Messesignet auf dem Wintergartenhochhaus. Das wurde da oben schon 1972 montiert und dreht sich seitdem immerfort, mittlerweile auch mit heutiger LED-Technik ausgerüstet. Das Doppel-M ist zum Markenzeichen der Leipziger Messe geworden. Und es ist ein schönes Beispiel für die Wirkung von Krisen, die auch altehrwürdige Institutionen auf Trab bringen können, die sonst noch ein paar Generationen vor sich hin gewerkelt hätten, um dann vielleicht ihren Geist aufzugeben.Denn das Signet mit den zwei übereinandergestellten M für Muster und Messe war ein Kriegskind, 1917 beim Leipziger Grafiker Erich Gruner (1881–1966) in Auftrag gegeben, um ein schlagkräftiges Bildsymbol für die Leipziger Messe zu bekommen, die – kriegsbedingt – tief in der Krise steckte. Dabei hatte man sich gerade berappelt und die Mustermesse als attraktive neue Form der Messe etabliert.
Und das auch nach einer ganzen Zeit der Selbstfindung. „Zu spät, zu eng, zu teuer“ ist eines der Kapitel überschrieben, die sich mit dem doch nicht so ganz kurzen Weg von der alten Warenmesse zur Mustermesse beschäftigen. Denn schon Jahrzehnte vor der ersten Musterlagermesse 1895 in Leipzig hatte der Wandel begonnen, sahen es viele der modernen, industriell produzierenden Unternehmen gar nicht mehr ein, ihre Produkte mit riesigem Aufwand zu irgendwelchen Warenmessen zu verfrachten, um sie dort zu verkaufen.
Sie schickten lieber ihre Handelsvertreter mit Musterkoffern herum. Denn das Typische für die Industrieproduktion ist nun einmal, dass ein Produkt dem anderen gleicht. Wer eins vor Augen hat, weiß, wie alle anderen aussehen.
Was logischerweise auch Leipzigs Messe weit vor dem Jahr 1895 in die Krise stürzte. Aber da die Stadt und die Handelskammer beide ein enormes Interesse daran hatten, die Leipziger Messe(n) zu retten, taten sie sich 1892 zusammen, gründeten eine gemeinsame Messegesellschaft und die entwickelte dann das Modell der Mustermessen für Leipzig.
Und so krempelten sie dann im Grunde auch gleich noch die ganze Stadt um. Denn das deutet dieses Büchlein nur an, wenn es das Städtische Kaufhaus erwähnt, dessen Bau 1893 als erstes Mustermessehaus der Stadt begann. All die berühmten Messehäuser, die ja (in völlig anderer Nutzung) heute die Innenstadt prägen, entstanden nach dieser kleinen Revolution.
Die alte Innenstadt mit ihren prächtigen Barockhäusern verwandelte sich in eine riesige Baustelle, die binnen weniger Jahre hunderte historischer Gebäude, ganze Häuserblocks verschlang, um an ihrer Stelle riesige Messepaläste entstehen zu lassen. Gebäude, in denen man ganze Industriebranchen versammeln konnte und durchorganisierte Rundgänge schuf.
Natürlich veränderten sich jetzt auch die Aussteller und das Publikum. Für die Leipziger in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts muss das geradezu atemberaubend gewirkt haben. Denn zu den neuen Mustermessen kamen ja nicht nur die Händler wie früher. Jetzt reiste auch neugieriges Messepublikum aus aller Welt an. Also schossen auch noch all die gigantischen neuen Hotels aus dem Boden, von denen das „Astoria“ nur das berühmteste war.
Das alles steht nicht in diesem Büchlein, auch wenn es auf die Vorgeschichte der Mustermesse eingeht, auf ihre Wirkung und ihren Erfolg und die neuen Zugzwänge, die jetzt auftauchten. Denn jetzt hielt die Stadt eine gewaltige Infrastruktur bereit, die genutzt werden musste, um nicht ebenso gewaltige rote Zahlen zu produzieren. Auf einmal wurde jede Krise zu einem Drama. Der Erste Weltkrieg zeigte es exemplarisch, denn auf einmal war die halbe Welt zum „Feind“ geworden, beschickte und besuchte also Leipzig nicht mehr. Im Gegenteil.
In „Feindes“-Städten wie London, Bordeaux und Lyon zog man jetzt selbst eigene Mustermessen hoch. „Feind“ natürlich konsequent in Gänsefüßchen gesetzt, denn es sind nicht die Völker, die sich Feinde erfinden, sondern von Macht und Allmacht besoffene Männer in Führungspositionen. Die auch meist nicht die geringste Ahnung haben von Handel und Warenaustausch. Unfähig, die Kosten eines Krieges jenseits gekaufter Militärgüter zu berechnen.
Für Leipzig bedeutete das den ersten Knacks in einer langen, bislang sehr erfolgreichen Geschichte, die ja gern an das kaiserliche Messeprivileg von 1497 geknüpft wird, als Leipzig erstmals – per Privileg – die konkurrierenden Handelsplätze in Mitteldeutschland aus dem Feld schlagen konnte. 1917 freilich ging es um eine völlig andere Dimension – um den Weltmarkt und die Attraktivität für alle ex- und importierenden Länder.
Nichts ist dafür so sehr Gift wie ein Krieg. Und so gab man – mitten im Krieg – dieses Signet in Auftrag, das fortan zum Markenzeichen der Leipziger Messe werden sollte. In guten wie in schlechten Zeiten. Und es gab noch etliche schlechte Zeiten in diesem von Narren regierten 20. Jahrhundert – von der Weltwirtschaftskrise angefangen über die Zeit der Nationalsozialisten, die es als erste schafften, die Leipziger Messen ab 1942 tatsächlich kriegsbedingt ausfallen zu lassen, bis zur kurzen und harten Phase der Neuorientierung zwischen 1990 und 1992, als klar war, dass Leipzig mit der deutschen Einheit seine Rolle als Drehscheibe zwischen Ost und West eingebüßt hatte.
Kurz und heftig wurde da diskutiert, ob Leipzigs Messe eine Chance haben könnte, sich mit westlichen Branchenmessen in einer Konkurrenz zu behaupten, die das schon seit Jahrzehnten geübt hatten. Und Bund und Land und Stadt sagten: „Ja.“ Und in Leipzig lief die Diskussion ja sogar so, dass jeder Gedanke, das Messegeschäft endgültig einzustellen, geradezu unaussprechlich war.
Offiziell sieht man ja immer nur die Ergebnisse und die Fotos mit stolzen Politikern, wie sie Verträge unterschreiben, Geldschecks überreichen und dann zur Eröffnung kommen und Schampus-Reden halten, so wie 1996, als im Leipziger Norden das neue Messegelände eingeweiht wurde.
Scheinbar war ja nur darüber diskutiert worden, ob man auf dem alten Messegelände an der Prager Straße weitermacht oder irgendwo neu baut. Und für die Leipziger war dieser Norden geradezu Ausland, jenseits der Stadt, irgendwo auf dem Acker. Auch das wird nicht gestreift: Wie diese neue Messe als Zündfunken für das neue Industrie- und Gewerbegebiet im Leipziger Norden funktionierte.
Ganz augenscheinlich sind alle diese Geschichten schon so tief in der Erinnerung abgesackt, dass man das Ungewöhnliche des Vorgangs auch im Haus der Leipziger Messe nicht mehr spürt. Ein Vorgang, der in seiner Dimension dem Schritt zur Mustermesse 1895 in nichts nachstand.
Nur dass man diesmal kein neues Signet in Auftrag geben musste, denn nach vielen Anpassungen wirkte das Doppel-M immer noch, war weltweit bekannt, war zugkräftig auch in Regionen, in denen die westeuropäischen und amerikanischen Messen zuvor keinen Fuß fassen konnten. Ein „sozialistisches“ Erbe, von dem Leipzigs Messe bis heute noch zehrt.
Denn das 1925 vom Wiener Grafiker Hans Neumann entworfene, die Kontinente überspannende Doppel-M funktioniert weiter. Es funktionierte in der DDR-Zeit, als Leipzig tatsächlich zweimal im Jahr die Brücke zwischen West und Ost schlagen konnte. Und es wirkt heute weiter mit den internationalen Aktivitäten der Leipziger Messe, die sich in den letzten 30 Jahren immer mehr zum Dienstleister entwickelt hat.
Denn in der Gründung der Mustermesse steckte auch ein Eingeständnis: Die Machtgleichgewichte hatten sich verschoben. Nicht mehr Kaiser bestimmten mit Messeprivilegien, welche Stadt zur blühenden Messestadt werden durfte, sondern die neuen Industrieunternehmen mit ihren zunehmend schlagkräftiger werdenden Branchenverbänden.
Man konnte fortan keine Messen mehr gegen die Branchenverbände machen. Und heute ist es endgültig so: Ob Messen groß und erfolgreich werden, bestimmen die teilnehmenden Branchenverbände – und zwar schon im Vorfeld, wenn neue Messen „erfunden“ werden und ein Konzept verpasst bekommen, das in der Regel international leicht zu duplizieren ist.
Natürlich ist auch das ein Thema, das den kleinen Band sprengt, der sich letztlich vor allem darauf konzentriert, die Anwendung des Doppel-M im Messemarketing über die Jahrzehnte zu beschreiben, seinen kleinen und großen Verwandlungen und auch seiner identitätsstiftenden Wirkung. Mal abgesehen davon, dass Gruner einst auch noch ein drittes M für das Messeamt mitgedacht hatte, das zu seiner Zeit noch eine neue Erfindung war – und mit der Deutschen Einheit natürlich auch verschwunden ist.
Mustermesse sind im Grunde heute alle Ausstellermessen. Nur ist das kein Alleinstellungsmerkmal mehr, genauso wenig, wie Leipzig nicht mehr die Nr. 1 unter den Weltmessen ist, woran aber die Leipziger Messemacher nicht schuld sind, sondern die deutschen Stiefel- und Ordensträger.
Wer sich also für Messegeschichte interessiert, bekommt hier einfach mal die kleine Spezialgeschichte des Messe-Signets in die Hand, erfährt, was hinter dem doppelten M steckt und wo man in der Stadt (und natürlich am Messegelände) das Doppel-M in seiner klassischen Form bewundern kann. Denn es leuchtet ja nicht nur nachts überm Wintergartenhochhaus, man kann es auch durchschreiten und durchfahren, wenn man mag. Und selbst da merkt man kaum, dass es eigentlich schon eine 100-jährige Geschichte hat.
Leipziger Messe GmbH (Hrsg.) MM wie Mustermesse, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2021, 14 Euro.
Hinweis der Redaktion in eigener Sache
Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.
Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.
Vielen Dank dafür.
Keine Kommentare bisher
Es dringt ja langsam ins Bewusstsein, dass Leipzig die alte vorgründerzeitliche Bebauung nicht überbaut, sondern zielstrebig flächig abgerissen hat. Aus diese Vorzeit gibt es nicht mehr viel… mir fällt nur noch das Mendelssohnhaus ein, und… genau!… und bis 2005 – jawohl, Herr L D! – die Kleine Funkenburg,
Für mich neu aus diesem Artikel ist, dass auch schon in der Innenstadt massiv für die Wirtschaft (eben die Messe) abgerissen wurde und diese unselige Leipziger “Tradition” also schon deutlich länger als erst seit dem Weltkrieg besteht.
(Die Kleine Funkenburg wurde allerdings für den Autoverkehr abgerissen, Leipzig sollte ja ein Stuttgart/München des Ostens werden, irgendwie sowas.
Ein halbes Jahr später zeigte sich an den wieder “angelegten” Parkplätzen in der inneren Jahnallee überdeutlich, wie unnötig und kurzsichtig der Abriss eines intakten, 150 Jahre alten Hauses gewesen war!)