Schon vor drei Jahren hat Julius Fischer ein Buch mit dem herzerweichenden Titel โIch hasse Menschenโ vorgelegt, damals mit dem Untertitel โEine Abschweifungโ. Das war so eine Art Reiseroman auf die Fischersche Art. Nun folgt ein entsprechender Liebesroman, der eigentlich auch eine Art Reiseroman ist. Denn diesmal verschlรคgt es den Helden Julius Fischer direkt nach Ostsachsen. In ein Nest namens Sucknitz.
Das liegt bei Untermeuthen, das man natรผrlich auf der Landkarte genau sowenig findet. Da kann wenigstens keiner klagen wie seinerzeit ein groรer deutscher Verlag, als Fischer sich erdreistete, โDie schรถnsten Wanderwege der Wanderhureโ zu beschreiben. Die Wanderwege stรถrten den groรen Verlag nicht, sondern die Wanderhure. Irgendjemand hatte dort im Marketing nicht begriffen, dass auch Persiflagen Werbung sind fรผr schon bekannte Buchtitel. Oder einfach die Zeit verpennt, denn noch in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts war es durchaus รผblich und populรคr, wenn Autoren die hohe Kunst der Persiflage beherrschten.Aber seitdem ist etwas Fรผrchterliches passiert: Die Deutschen haben auch noch den letzten Rest ihres Humors verloren, haben sich in Immerrechthaber, Belehrer und Beschรคmer verwandelt, als hรคtten sie allesamt einen Stock im Rรผcken und die Richtigkeit mit groรen Lรถffeln gefressen. Selbst wenn sie sich selbst parodieren, tun sie das mit der grimmigen Miene von Leuten, die noch im Parodieren immer die Besten sein wollen. Lauter Musterknaben.
Dann doch lieber nach Ostsachsen mit einem vom Leben gebeutelten Julius Fischer, dem seine Frau gerade den Laufpass gegeben hat, Wohnung und Auto abgeschwatzt hat, sodass er ziemlich bald ziemlich blank ist, denn wรคhrend sein etwas umtriebiger Agent fรผr ihn nicht mal eintrรคgliche Lesungen organisiert bekommt, starten seine Kumpels Kilian (mit dem er eben noch eine Band hatte) und Enrico (der einfach mal den Zeitgeist erfasst und ein anspruchsloses Buch รผber fitte Sachsen geschrieben hat) durchstarten, die Karriere machen, die dem Buch-Julius nicht beschieden ist.
Es gibt leichte Berรผhrungspunkte mit dem echten Julius Fischer, der sich freilich nicht so einfach ausknocken lรคsst, sodass er am Ende ohne alles dasteht und aus lauter Verzweiflung dann auch noch das Erbe seines Uropas annimmt, der ganz dahinten in Ostsachsen einen Gasthof besaร mit dem wohlklingenden Namen โDeutsches Hausโ.
Und weil das mit der Bรผhnenkarriere fรผr den Buch-Julius augenscheinlich gerade vรถllig vor die Hunde ging, fรคhrt der also mit dem Bus in diese Ecke, in die sich auch Staatsoberhรคupter lieber nicht verirrten. Dafรผr sind dort die Straรen mit AfD-Wahlplakaten gepflastert und die Thoralfs brettern mit SUVs รผber die Landstraรen. Und so richtig in Betrieb war der Gasthof des Uropas auch schon lange nicht mehr. Der Held der Geschichte merkt schon bald, dass das eigentlich ein wahnwitziges Vorhaben ist, das alte Haus wieder flottzumachen.
Aber woher nimmt er den Antrieb dafรผr? Er hasst doch Menschen? Er hasst nicht nur Menschen, sondern auch alle mรถglichen anderen Dinge. Aber er hasst sie so, wie man heute allgemein seine antrainierte Menschenscheu auslebt. Und das tun sehr viele Menschen. Manche im Extrem โ als Hater-Extremisten, die glauben, indem sie selbst Angst verbreiten, wรผrden ihnen vielleicht noch ein bisschen Allmacht und innere Kraft erwachsen. Aber wer Angst macht, hat nicht wirklich Freunde.
Und die Macht ist stets gefรคhrdet, denn da drauรen gibt es immer einen, der noch mehr Angst machen kann. Dafรผr hat Julius durchaus ein Gespรผr, auch wenn er sich vorgenommen hat, ganz unvoreingenommen in diese Gegend hinter Bautzen zu fahren und die Menschen so zu nehmen, wie sie sind. Was sogar leidlich gelingt, bis er eben jenem Thoralf ins Gehege kommt, der nicht wirklich Thoralf heiรt.
Aber wer in einem bestimmten Milieu der Boss sein mรถchte, der braucht auch einen bossigen Namen. Den Akteuren dieses Milieus ist durchaus bewusst, dass alles vor allem Show ist. Wer Schwรคchen zeigt โ also menschliche Zรผge โ der kann darin nicht bestehen. Der ganze Laden lebt davon, dass man mit Hass und Gewaltandrohung alle anderen Menschen einschรผchtert.
Das schwingt mit in dieser Geschichte, in der der Held trotzdem beschlieรt, nicht zu versumpfen und den Kampf mit den Umstรคnden aufzunehmen, die ihm eigentlich zehn Nummern zu groร sind โ er war ja niemals Gastronom, die Einrichtung ist eigentlich nur noch zu verschrotten, und dann ist da noch die Begegnung mit dem in seinem Amt vermotteten Herrn Schnieder, der durchaus eine deftige Persiflage auf das ist, was in deutschen Amtstuben tatsรคchlich zu erleben ist, wenn die Amtswalter keine wirkliche Lust haben, ihres Amtes zu walten, und ihr Amt vor allem darin begreifen, die chaotischen Antragsteller daran zu hindern, irgendwas zu รคndern am wohligen Status quo.
Man merkt schon: Dieser Julius Fischer flucht zwar gerne vor sich hin, aber hinter seinem โHassโ steckt vor allem eine ganz menschliche Verzweiflung รผber den Zustand der Welt und das Verhalten mancher Mitmenschen. Und auch รผber sich selbst, denn wie so viele Leidensgenossen weiร er um seine Unzulรคnglichkeiten und darum, dass er eigentlich immer auch darauf angewiesen ist, dass die anderen ihren Job beherrschen und die Regeln einigermaรen einhalten, damit man selbst wenigstens einigermaรen durchkommt. Aber schon im Bus zeichnet sich ja ab, wie introvertiert viele unserer Zeitgenossen lรคngst geworden sind.
Die Jungen dabei nicht die Bohne besser als die Alten. Keine guten Vorzeichen fรผr den Start in Sucknitz, der sich zwangslรคufig sehr schwer anlรคsst, nicht nur wegen des fehlenden Geldes und der handwerklichen Unfรคhigkeiten des Helden. Das kommt dann quasi noch obendrauf. Denn eigentlich kรคmpft dieser Held auch mit seinen gepflegten Unsicherheiten. Denn wenn man all das, was einem querkommt, einfach verbal โhasstโ, rettet man zwar sein verunsichertes Ich auf ein kleines Rettungsfloร, aber man kommt aus der Verkettung heikler Zustรคnde nicht wirklich heraus.
Und so richtig der Typ, sich ins Schneckenhaus zurรผckzuziehen, ist dieser Julius Fischer auch nicht. Er geht trotzdem los, will die Nachbarn kennenlernen und wissen, welcher seiner Freunde ihm wirklich hilft. Denn das ist das, was wirklich aus dem echten Julius Fischer in seiner Kunstfigur steckt: die Tapferkeit, die Menschen zu nehmen, wie sie sind, egal, wie sie sind.
Und Leute zu suchen, mit denen man so schrรคge Dinge wie The Fuck Hornisschen Orchestra, die Lesebรผhne Schkeuditzer Kreuz oder eine Fernsehshow mit Olaf Schubert auf die Beine stellen kann. Lauter verrรผckte Sachen, wo es eigentlich nur darauf ankommt, dass man stรคndig neue Einfรคlle hat, das stรคndige Unterwegssein nicht scheut und vorn auf der Bรผhne gibt, was man geben kann. Meistens ist das Publikum dankbar.
Auch weil es sich selbst wiedererkennt โ nicht nur bei Fischers berรผhmten Bรผhnenkollegen Olaf Schubert oder Andrรฉ Herrmann, sondern auch in diesem Julius Fischer, der im Grunde auch die ganz heutige Verzweiflung jรผngerer und รคlterer Deutschlandbewohner zu zeigen wagt an der eigenen Unpassendheit, dem Leiden an der Nicht-Perfektion und dem Nicht-Genรผgen all den schrillen Maรstรคben einer von Perfektion, Ruhm und Status besessenen Gesellschaft gegenรผber.
Darunter leiden wir alle. Und nur wenige wagen es so trocken zuzugeben wie Julius Fischer und sein Held Julius Fischer. Genau an diesem Punkt beginnt nรคmlich Satire, weshalb sie ja laut Kurt Tucholsky alles darf, denn sie ist die Sprache der Underdogs, derer, die ganz genau wissen, dass sie niemals so zynisch und korrupt werden kรถnnen wie die eitlen Fettaugen auf der deutschen Wassersuppe. Das liegt ihnen nicht. Das verstรถรt gegen all ihre Prinzipien, ihre gute Erziehung und ihr menschliches Mitgefรผhl.
Es gibt sie noch. Sie sind mitten unter uns, diese Mitfรผhlenden, die immer gleich fรผr die anderen mitdenken: Wie wรผrde ich mich fรผhlen in der Situation?
Auch wenn das Fischer beim emsigen Schreiben im langen Lockdown vielleicht selbst nicht bewusst war, aber indem er diesen rรผcksichtslosen Thoralf nicht nur zum ziemlich rechtsruckigen Gastronomen machte, sondern auch zum rรผcksichtslosen Unternehmer, dem die โHeimatโ und seine promoteten โOstdeutschenโ letztlich vรถllig egal sind, zeigt er das Janusgesicht unserer Gesellschaft.
Denn die Menschenverachtung im Faschismus ist genau dieselbe, die auch in der entfesselten Marktwirtschaft steckt. Die Zรคhmung des โMarktesโ ist vor allem eine Zรคhmung des Inhumanen, Asozialen und Menschenverachtenden, das sich aus dem Mund eitler Manager nur ein bisschen anders anhรถrt als aus dem Sprechchor eines rechten Mobs.
Das hรคtte gut Anlass sein kรถnnen, den Kampf um das โDeutsche Hausโ in Zynismus abgleiten zu lassen, ein groรes Scheitern an den Umstรคnden, die ein kleiner gestrandeter Autor nicht รคndern kann. Aber Julius Fischer hat lieber den Weg ins Mรคrchen gewรคhlt. Ein Mรคrchen, an das nicht nur er mit aller Kraft glaubt, weil man ohne diesen Glauben an das Gute im Menschen in Sachsen kein soloselbststรคndiger Kรผnstler sein kann.
Noch so ein stiller Ton aus dem Corona-Jahr. Aber es sind genug kreative und unternehmungslustige junge Sachsen und Sรคchsinnen gescheitert. Auch an Bรผrokraten wie Schnieder, die genau wissen, mit welchen Paragraphen man Menschen aus dem Rennen kickt: โEin Stempel fehlt? Eine Bรผrgschaft? Ein Einkommen? Tut uns leid. Sie sind raus โฆโ
Auch davon handelt diese Geschichte aus der Provinz. Denn wo die Bรผrokratie nicht mehr den Menschen dient, unvoreingenommen und ohne Ansehen der Herkunft, da entstehen die korrupten Netzwerke von ganz allein. Dann รถffnen sich die Tรผren fรผr die Leute, die wissen, wie man sich das Wohlwollen der hohen Amtlichkeit erkaufen kann. Dann gibt es die mit dem direkten Zugang und die, die sich von der Sekretรคrin einen Termin in vier Wochen geben lassen mรผssen. Und sage keiner, das sei nur in Ostsachsen so.
Nein, Julius Fischer weiร genau, dass man tatsรคchlich nur รผberlebt, wenn man Freunde findet, und zwar richtige, die einen auch nicht im Stich lassen, wenn man ganz unten aufgeschlagen ist.
Und so wie der echte Julius Fischer das seit Jahren in Bรผhnenprรคsenz erfolgreich praktiziert, hat auch sein Buch-Julius solche Freunde โ manche mit linken Hรคnden wie Max, manche aber auch mit der Cleverness des Straรenjungen, der weiร, dass die meisten Leute รผberhaupt nicht anspruchsvoll sind und auch lieber Bรผcher mit ganz einfachem Inhalt haben mรถchten โ zu so schรถnen Themen wie Bier zum Beispiel. Und wenn sein Jugendfreund Julius anruft, lรคsst er ihn nicht abwimmeln, sondern packt mit an, weil er weiร, dass nur Anpacken hilft. Rumdrucksen hilft niemandem.
Und so bekommt dieser zu Literatur gewordene Julius Fischer, nachdem er einen wirklich gefรคhrlichen Wanderweg mit sehr eigentรผmlichen Namensgebungen hinter sich gebracht hat, auch alle Hilfe, die er braucht, den Gasthof wieder auf Vordermann zu bringen. Und eine โArt Liebesgeschichteโ noch obendrein, weil man eben selbst hinter Bautzen noch Menschen findet, die eigentlich von etwas anderem trรคumen als der รผblichen Gechรคftemacherei auf Kosten anderer.
Die durchaus merken, dass hinter diesem unsicheren Burschen aus Leipzig jemand steckt, der seine Mitmenschen gerade deshalb ernst nimmt, weil er so hรคufig โIch hasse โฆโ sagt. Denn zu diesem โIch hasse โฆโ kommt man wirklich nur, wenn man sich das Dasein der Mitmenschen nicht wirklich vom Leib halten kann, wenn man immer auch halb in deren Kopf steckt und sich fragt: Warum tun die das? Oder: Muss ich jetzt eingreifen? Darf ich jetzt ehrlich sein?
Eine ganz verzwickte Frage in einer Gesellschaft, in der eine Menge Kraftmeier meinen, sich auf Kosten anderer durchsetzen zu mรผssen. Die auch entsprechend aggressiv reagieren, wenn man ihnen sagt, dass sie sich rรผcksichtslos und egoistisch verhalten. Manche kommen dann mit ihren Bodyguards, andere mit ihrem Anwalt.
Man merkt schon, mit welcher Lust der Autor Julius Fischer am Ende den rรผcksichtslosen Thoralf scheitern lรคsst. Da wird seine Geschichte zum Mรคrchen. Denn dass der sรคchsische Verfassungsschutz einen rechtsradikalen Unternehmer von offener Bรผhne weg verhaften wรผrde, das kann kein Mensch glauben. Das passiert nur im Mรคrchen. Aber trรคumen darf man ja mal. Denn eigentlich wรคre das nur ein menschlicher Wunsch an einen Staat, der sich immer nur zu gern weggeduckt hat, wenn es um diese Herren mit dem Haifischgrinsen ging.
Und trotzdem ist Fischers Roman auch eine kleine Liebeserklรคrung an Ostsachsen und die Ostsachsen, denn niemand hat all diese Thoralfs verdient. Aber Ostsachsen hat sie bekommen, auch weil der Landstrich aus Dresdner Sicht immer ein bisschen unwichtig und abgelegen wirkte, eine Ecke, um die man sich nicht kรผmmern muss. Aber genau das zieht Leute wie Thoralf an, die sich nur zu gern kรผmmern und dafรผr sorgen, dass alle kuschen.
Nur bei Julius Fischer ist er da an den Falschen geraten. Denn das mit der Persiflage beherrscht er aus dem Effeff. Zynismus hat er gar nicht nรถtig. Und manchmal darf man ja trรคumen, dass auch in den abgehรคngten ostdeutschen Landschaften wieder da und dort ein mutiges Pflรคnzchen wรคchst an wirklichem Selbstbewusstsein, das nicht aus (Selbst-)Verachtung erwรคchst, sondern aus dem Vertrauen in die eigene Phantasie. Wรคre ja gelacht, wenn nur noch die Thoralfs und Schnieders bestimmen, woโs langgeht in East Germany.
Julius Fischer Ich hasse Menschen, Voland & Quist, Dresden und Berlin 2021, 15 Euro.
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Vielen Dank dafรผr.
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