Es passiert den Kaninchen wie den Bรผchern: Da schickt uns der Klett Kinderbuch Verlag die neuen, liebevoll erarbeiteten Titel aus dem Herbstprogramm. Doch da der Paketbote spรคt kam, lag das Paket des abends unbeaufsichtigt im Haus der Demokratie und neugierige Zeitgenossen rissen es auf und entfรผhrten alle darin verpackten Kinderbรผcher. Bis auf eins, dieses hier. Ausgerechnet das mit dem verschwundenen Kaninchen Hannibal.
Oder gerade das, weil es sich ganz hinten im Paket besonders gut versteckt hatte. Man sollte erfahrene Kaninchen nicht unterschรคtzen. Sie wissen, wie man รผberlebt in einer Welt, in der es alle auf einen abgesehen haben.Aber die Heldin und Erzรคhlerin der Geschichte ist natรผrlich Maya, der ihre Eltern das Kaninchen Hannibal nach langer Debatte geschenkt hatten, obwohl sich Maya schon zwei Mal auf ihrem Weihnachtswunschzettel ein Axolotl gewรผnscht hat. Schon an der Stelle merkt man: Man hat es mit besonderen Kindern zu tun.
Also so besonders, wie Kinder sind, wenn sie sich von einer vรถllig verblรถdeten Werbung nicht zu Bussibรคr-Kindern machen lassen. Kinder sind klug, neugierig, wollen alles genau wissen und auch ernst genommen werden von ihren Eltern, den Nachbarn, den Lehrer/-innen sowieso.
Trotzdem geht die Sache natรผrlich schief. Aber mehr aus Zufall, Hektik und Stress. Denn in Mayas Familie ist der Stresspegel sowieso schon hoch im Frรผhjahr 2020. Was jetzt passiert, passiert nicht zufรคllig. Und man merkt, dass sich Anna Maria Praรler wirklich Gedanken gemacht hat im ersten Corona-Lockdown, in dem ja bekanntlich die halbe Republik durchdrehte.
Und in Mayas Familie kommt das eh alles zusammen, denn Mayas Mutter ist Oberรคrztin, hat jetzt natรผrlich erst recht richtig Stress auf Arbeit, wรคhrend ihr Vater โ Kameramann von Beruf โ auf einmal zu Hause festhรคngt, die Arbeitsreise nach Prag fรผr den Kafka-Film fรคllt flach. Mit seinen Kollegen kann er nur noch per Skype verhandeln.
Und so ganz nebenbei reagiert er, wie damals viele Menschen (nicht nur in Deutschland) reagierten: Er hamstert und legt erst einmal ein riesiges Lager mit Nudeln, Pesto und Toilettenpapier an.
Und weil er damit rechnet, auf lange Zeit auch nicht mehr in den Park zu kommen, bestellt er auch noch einen Hometrainer, der natรผrlich gerade dann angeliefert wird, wenn er mit einem mordswichtigen Film beschรคftigt ist und Mayas Schwester Odette sich das Kaninchen Hannibal gerade ausgeliehen hat, um mit ihm ein paar medizinische Experimente durchzufรผhren.
Und der Paketbote โ ja, die Burschen fallen einem so langsam auf โ bietet sich auch noch voreilig an, den Hometrainer gleich auszupacken und die Verpackung wieder mitzunehmen. Ergebnis: Chaos im Flur, Aufregung und โ schwupps โ nutzt Hannibal die Gelegenheit zur Flucht.
Womit dann das Tableau schon mal bereitet ist, das die jรผngeren und รคlteren Leser/-innen die nรคchsten Stunden in diesem Kinderroman fesseln wird. Denn natรผrlich beschรคftigt Maya fortan die Suche nach Hannibal, der ja irgendwo in der Gegend abgeblieben sein muss. Und dazu muss sie auch mehrmals aus der Wohnung, obwohl das doch im Lockdown vรถllig verboten ist. Aber sie lรคsst sich nicht abhalten.
Wer jetzt freilich lauter Rรคuberpistolen erwartet wie in den รผblichen ausgedachten Kinderbรผchern, der lernt etwas ganz anderes: Mit Maya lernt er nรคmlich ihre kleine Welt kennen, das Haus und den Hinterhof in Berlin, wo sie wohnt, die sie aber vorher gar nicht so erkundet hat wie jetzt.
Womit sie auch erstmals richtig begreift, dass ja mit Nico einer ihrer Mitschรผler gleich im Hinterhof wohnt mitsamt seiner kleinen Familie (und drei Axolotls). Doch daraus wird โ zum Glรผck โ keine neue Emil-und-die-Detektive-Geschichte. Was auch unmรถglich ist. Man merkt es geradezu nebenbei: Zu Erich Kรคstners Zeiten gehรถrten die Straรen von Berlin noch den Kindern.
Sie konnten sich da drauรen kennenlernen und Banden bilden. Heutzutage wรคre das viel zu gefรคhrlich, auch wenn im ersten Lockdown die Straรen wie verlassen waren und all die gehetzten Autofahrer/-innen mal zu Hause blieben. Dafรผr eroberten die Tiere die Stรคdte โ in Berlin bekanntlich Fรผchse und Wildschweinhorden.
Auch nicht ganz ungefรคhrlich fรผr geflรผchtete Kaninchen. Aber von Hannibal keine Spur, sodass nach und nach die halbe Hausgemeinschaft in Verdacht gerรคt, die alte Frau im Hinterhof, die jeden zweiten Tag โmit ihren Leutenโ verschwindet, die Frau mit den lila Haaren, die sich auf dem Hof so seltsam benimmt, und natรผrlich der seltsame Herr Wuttke, der in seiner Wohnung schon seit Jahren Lebensmittel hortet und sich jetzt auch noch lauter Bรผcher zum Jagen und Schlachten bestellt.
Dabei wirdโs โ wie im richtigen Leben โ immer wieder auch mal peinlich, wenn Maya und Nico auf der falschen Spur sind und merken, dass sie nur deshalb falsch lagen, weil sie die wichtigsten Dinge รผber ihre Nachbarn gar nicht wussten. Dinge, die so mancher im ersten Lockdown erfahren haben dรผrfte.
Denn das war ja wohl die grรถรte Entdeckung in diesen ersten Wochen: Dass da nebenan keine wildfremden Menschen lebten, vor denen man am besten alle Zugbrรผcken hochzog. Im Gegenteil: Man merkte erst einmal, wie anonym man sonst so in einer Groรstadt nebeneinander herlebt und wie viele menschliche Bekanntschaften man so bislang vermieden hatte. Auch wie viel Verstรคndnis und Hilfsbereitschaft.
Dass in dieser Erkenntnis eine ganze Bibliothek von guten Geschichten steckt, hat man schon gemerkt. Aber dieses Buch ist eigentlich das erste, das dieses Thema tatsรคchlich aufgreift, ohne gleich wieder in philosophische Hรถhenflรผge abzuheben, was uns denn nun Corona 2020 eigentlich gelehrt hat. Die Wahrheit ist wohl ziemlich simpel: nicht wirklich viel.
Eher war es ein Jahr der allgemeinen Lernverweigerung, der schรถnen Sonntagsklatschereien und der verbissenen Ignoranz. Geรคndert hat sich nicht wirklich viel. Auch nicht in der Arbeitswelt von Mayas Mutter, die dann tatsรคchlich noch das Pech hat, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Da ist dann Quarantรคne angesagt. Und auch Maya erkrankt. Und schon ist man mittendrin in so einer Quarantรคne-Familie, in der das eh schon wochenlange Zuhausebleiben nun erst recht zum kleinsten Lebensraum schrumpft.
Aber davon bekommt Maya gar nicht so viel mit, denn selbst im Fieber lรคsst sie der Gedanke an den verschwundenen Hannibal nicht los. Und als dann gar ein verzweifelter Anruf von Nico kommt, der augenscheinlich in den Fรคngen der Frau mit den lila Haaren gelandet ist, merkt Maya erst recht, wie sehr das Leben mit lauter Missverstรคndnissen gespickt ist, wenn die Menschen verschiedene Sprachen reden.
Aber zum Glรผck beherrscht ihr Vater auch Italienisch. Ganz bewusst hat Anna Maria Praรler auch diesen Aspekt des Groรstadtlebens mit eingebaut, die Herkunfts- und Sprachenvielfalt, die auch in Berliner Hinterhรถfen allgegenwรคrtig ist.
Die uns auch mit Menschen verbindet, die anderswo in der Welt leben und dort โ wie in Norditalien โ mitten in Krisen geraten, von denen wir mittlerweile sicher annehmen kรถnnen, dass solche Krisen auch zu uns kommen werden. Dass auch ein gefรคhrliches Virus mit unseren Flugzeugen um die Welt reist, wissen zumindest die Munteren unter uns. Die klugen Kinder sowieso.
Kinder wie Maya, die sich auch nicht einfach abspeisen lรคsst mit dem Spruch, das Kaninchen sei bestimmt schon tot. Woran selbst ihre Eltern nicht wirklich glauben, denn beim Ausdrucken der Suchaufrufe helfen sie trotzdem mit. Und auch Mayas Vater kommt doch immer wieder runter, obwohl man merkt, wie ihm die Folgen des Lockdowns als Selbststรคndiger zu schaffen machen.
Wir schauen also mit Anna Maria Praรler einer kleinen Familie mitten im Lockdown zu, in der sich einige der Stรถrstellen zeigen, wie sie 2020 offenkundig wurden. Auch wenn Mayas Familie noch glimpflich davonkommt. Nur der von Odette so hingebungsvoll gepflegte Sauerteig muss am Ende dran glauben, wรคhrend Hannibal tatsรคchlich wieder auftaucht.
Und dabei ist es nicht einmal der Krimi um das Kaninchen, der das Buch so aufregend macht. Es sind eher die vielen Momente, in denen man das eigene Erleben in dieser Zeit wieder in aller Intensitรคt vor Augen hat. Und es ist die Unverstelltheit der Kinder, wie sie Anna Maria Praรler gestaltet, Kinder, die spontan reagieren, sich aus ganzem Herzen รคrgern, aber auch fรผrchten und schรคmen kรถnnen.
Vielleicht ist es sogar genau das, was viele wirklich im Lockdown erstmals wieder auch an sich selbst erlebt haben: wie gewaltig Gefรผhle sein kรถnnen und wie intensiv kleinste menschliche Gesten. Das steckt in so simplen Sรคtzen wie โIch weine und lache gleichzeitig.โ Das erlebt Maya, als Hannibal wiedergefunden wird. Aber man ahnt auch, dass es den Erwachsenen um sie herum oft genauso geht, auch wenn die es gut รผberspielen kรถnnen.
Das Wรถrtchen โcoolโ taucht zwar รถfter auf, wenn die Kinder etwas gut finden. Aber eigentlich hat dieses maltrรคtierte Wort lรคngst seine ursprรผngliche Bedeutung eingebรผรt, auch wenn es รltere meist noch so benutzen โ als Ausdruck fรผr eine lรคssige Haltung, in der man so tut, als hรคtte man keine Gefรผhle und keine Selbstzweifel. Cool eben wie ein Eisschrank.
Aber die Kinder in diesem Buch benutzen es immer dann, wenn etwas sie besonders begeistert und auch die Erwachsenen zeigen, dass sie Gefรผhle haben und sich eigentlich genauso begeistern und hinreiรen lassen wie die Kinder. Also gar nicht โcoolโ sind, sondern ahnen lassen, dass wir alle wie Kinder sind. Nur darf man das aus irgendwelchen Grรผnden im โErnst des Lebensโ nicht mehr zeigen. Warum eigentlich?
Ist doch bekloppt, kรถnnte man meinen. Nach dem Lesen dieses Buches sowieso, in dem sich viele Kinder wiedererkennen werden. Und bestimmt auch viele Eltern, die ja nun wirklich die Hauptlast in all den Lockdowns tragen mussten. Und viele haben gerade da gezeigt, wie tapfer sie sein kรถnnen. Den Stress, den haben andere gemacht. Aber die kommen in diesem Buch nicht vor. Zum Glรผck.
Anna Maria Praรler Hinterhoftage, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2021, 15 Euro.
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