Kaum hatte Frank Freyer sein erstes Erinnerungsbuch โ€žSagt, was hat mir diese Welt verfilzt, als ich plรถtzlich erwachsen war?โ€œ verรถffentlicht, kam die Corona-Pandemie auch nach Leipzig. Eine Zeit, in der nicht nur Leute nachdenklich wurden, die vorher all die nervenden Gedanken mit eifriger Geschรคftigkeit verdrรคngt hatten. Und Frank Freyer fรผhlte sich gedrรคngt, seine Lebensgeschichte noch einmal neu zu erzรคhlen.

Es dominieren die bekannten Erzรคhlmuster

Nicht vรถllig anders. Das Genie, den Blick auf das eigene Leben in eine vรถllig neue Perspektive zu verlagern, haben wirklich nur die begnadetsten Schriftsteller/-innen. Aber Freyer bemerkte etwas beim Schreiben, was vielen Autobiographen oft gar nicht auffรคllt: dass das eigene Erzรคhlen oft wie selbstverstรคndlich den dominierenden Erzรคhlmustern folgt, die sowieso schon etabliert sind.

Von Medien, Politikern, Talkshowgรคsten, selbst Historikern, die sich โ€“ meist unbewusst โ€“ auf eine gรผltige Erzรคhlperspektive und leicht handhabbare Standards einigen, auch wenn darรผber nie wirklich diskutiert wird, hรถchstens mal in legendรคren Historikerstreits.

Irgendwann wird das Alte infrage gestellt

Aber die Historikerstreits passieren meist erst ein, zwei Generationen spรคter, dann, wenn sich die Verkรผnder der bis dato gรผltigen Variante nicht mehr aus autoritรคrer Position wehren kรถnnen und die Jรผngeren genug Standing haben, die alten Thesen und Scheuklappen infrage zu stellen.

Denn Geschichtsbilder sind oft nur Krรผcken, mit denen sich Zeitgenossen auch schรผtzen. Man mag die ganze Wahrheit nicht sehen, also ab damit unter den Teppich. Oder โ€“ was natรผrlich auch immer eine Rolle spielt: Die โ€žSieger der Geschichteโ€œ mรถchten ihre Interpretation des Geschehenen nicht infrage gestellt sehen.

Ein Thema, mit dem sich ja auch Rainer Eckert beschรคftigt โ€“ aus einer vรถllig anderen Perspektive als Freyer. Aber das ist normal. Geschichte ist weder ein roter Faden noch eine โ€žGesetzmรครŸigkeitโ€œ, nichts hat so werden mรผssen, wie es wurde. Was am Ende dabei herauskommt, ist immer das Produkt von tausenden widerstreitenden Interessen, Egoismen, Nรถten und elementaren Blindheiten.

Denn โ€“ das wurde ja schon in Freyers erstem Buch deutlich โ€“ der einzelne Mensch reagiert meist nur auf โ€ždie Umstรคndeโ€œ, die Zwรคnge und Erwartungen der Gesellschaft, in die er hineingeboren wurde. Im Guten wie im Schlechten. Er passt sich an oder rebelliert.

Chancen: Die DDR war auch kein Vorbild

Er macht was aus seinen Mรถglichkeiten oder aus seinen Fรคhigkeiten oder aus beidem. Was meist nicht mรถglich ist. Denn gerade in hierarchisch geschichteten Gesellschaften sind die Zwรคnge zu Entscheidungen im Leben vรถllig ungleichmรครŸig (und natรผrlich unfair) verteilt. Das war selbst in der DDR so, wo doch die offizielle Verkรผndung lautete, dass alle die gleichen Chancen und Mรถglichkeiten hรคtten. Jeder nach seinen Fรคhigkeiten โ€ฆ Haha.

Wer das konsequent wagte, war schnell drauรŸen, wurde zum Staatsfeind und zum geheimdienstlich bearbeiteten Element. Ein Geheimdienst als groรŸer Gleichmacher. Auf so eine Idee muss man erst mal kommen.

Freyer und die NVA

Aber das war nicht Freyers Thema, der zwar in seiner Jugend โ€“ wie fast alle anderen Jungen in der DDR โ€“ ein groรŸer Rebell war und durchaus kurz davor war, sich schon mit den Lehrern in seiner Schule anzulegen. Aber irgendwann traf er die vรถllig irrationale Entscheidung, sich fรผr 25 Jahre als Offizier bei der NVA zu verpflichten, fรผr einen Beruf also, fรผr den er vรถllig ungeeignet war โ€“ viel zu schรผchtern, nicht durchsetzungsstark, schon gar nicht befehls- und machtsรผchtig.

Schon im ersten Buch erzรคhlte er ja, was fรผr ein Glรผck es fรผr ihn war, dass er aus dem Truppendienst befreit wurde und als Ausbilder auf einen Posten kam, auf dem er auf einmal akzeptiert und geachtet wurde. Ein Umweg, der ihm also klarmachte, wo eigentlich seine Fรคhigkeiten lagen, die ja nun einmal eng mit der eigenen Persรถnlichkeit verquickt sind. Der Mensch wird normalerweise krank, wenn er sein Leben nicht entsprechend seinen Persรถnlichkeitsmerkmalen leben kann.

Warum unsere Gesellschaft so kaputt ist

Das ist noch lange nicht Wissensstand unserer Gesellschaft, die โ€“ genauso wie die 1990 abgewickelte โ€“ davon lebt, dass sie Millionen Menschen in Arbeits- und Lebensverhรคltnisse drรผckt, die nichts mit ihren Fรคhigkeiten und ihren Lebenswรผnschen zu tun haben.

Und damit sind nicht nur all die in ihrem Bildungsweg Benachteiligten gemeint, die dieser goldigen Gesellschaft den Hintern wischen mรผssen, sondern auch Hunderttausende in quรคlenden Bรผro- und Verwaltungsjobs, in โ€žeffizientenโ€œ Karrieren mit Lebenszielen, in denen sich alles auf die Prestigegรผter einer Konsumgesellschaft fixiert, die persรถnlichen Bedรผrfnisse, Sehnsรผchte und Lebenswรผnsche aber ignoriert werden.

Ersetzt durch allerlei Drogen und Sรผchte. Allein wenn man dieses Feld begutachtet, merkt man schon, wie kaputt unsere Gesellschaft ist.

Und mancher wird das auch im Corona-Lockdown so richtig gemerkt haben. Was passiert, wenn die โ€žPlombeโ€œ mal weg ist und sich die verdrรคngten Wรผnsche alle auf einmal zu Wort melden?

Freyer fand den Weg zum Traumberuf

Freyer hatte Glรผck, er hatte schon sechs Jahre zuvor eine Partnerin gefunden, die sein Leben wieder bereicherte. Und mit dem nach der โ€žWendeโ€œ eingeschlagenen Weg hin zum Ausbilder fรผr Buchhaltung hatte er auch berufsmรครŸig zu dem gefunden, was ihm persรถnlich tatsรคchlich lag.

Das war und ist nicht jedem gegeben, nach langem Suchen (wie es vielen in den 1990er Jahren ging) und einer heftigen Rumpelstrecke im Arbeitsleben, doch noch auf eine Stelle zu kommen, auf der man sich nicht nur geachtet, sondern auch kompetent fรผhlt. (Ein Ur-Problem aller hierarchischem Gesellschaften, wie es schon Laurence J. Peter und Raymond Hull in โ€žDas Peter-Prinzipโ€œ beschrieben.)

Hierarchien: Der Einzelne bleibt auf der Strecke

Hierarchien haben das Problem, dass die Menschen darin nicht nach ihren Fรคhigkeiten genau auf die Posten gelenkt werden, wo sie genau goldrichtig sind und mit gutem Gewissen richtig gute Arbeit machen kรถnnen, sondern kafkaeske รผbergeordnete Instanzen befรถrdern willkรผrlich oder nach Schema F. oder โ€žlenkenโ€œ, wie das im DDR-System hieรŸ, Hauptsache, die Quote und der Plan werden erfรผllt.

Wie viele Menschen in der DDR fanden sich da eigentlich auf dem falschen Posten, in der falschen Position, im falschen Leben wieder? Und wie viele litten darunter? Nur so als Anregung. Denn das hat wirklich noch keiner untersucht. Womit wir wieder bei den oben genannten Historikern und den blinden Flecken in ihrer โ€žGeschichtstheorieโ€œ wรคren. Denn natรผrlich geraten die Verhรคltnisse in Bewegung, wenn immer mehr Menschen das Gefรผhl haben, in ihrem Leben beschnitten zu sein. Nur lรคsst sich das weder planen noch steuern.

Auch die Friedliche Revolution begann nicht mit einer Vision, wo alle hinwollten, sondern mit dem Feststellen von Fehlstellen und Missstรคnden. Wobei Freyer nicht zu den Dissidenten gehรถrte. Immerhin hatte er ja eine Arbeit gefunden, in der er sich respektiert und geachtet fรผhlte und auch die Lehre verinnerlicht hatte, dass es eine kampftรผchtige Armee brauchte, um den heiligen Sozialismus zu sichern.

Viele glaubten die SED-Phrasen bis zum Schluss

Und zur Wahrheit gehรถrt eben auch, dass in der DDR viele Menschen bis zum Schluss an solche Phrasen glaubten, ohne zu hinterfragen, was tatsรคchlich dahintersteckte und ob die Behauptungen auch stimmten. Oder ob diese Losungen eigentlich nur dazu da waren, die Diskussionen im Land einfach abzubรผgeln. Wo wรคre die DDR eigentlich hingekommen, wenn โ€ždas Volkโ€œ tatsรคchlich mal รผber die Notwendigkeit der Nationalen Volksarmee (NVA) und den Wehrdienst hรคtte diskutieren kรถnnen, dรผrfen, wollen?

Nur so als Frage. Das hat nicht mal die Friedensbewegung in der DDR so diskutiert, obwohl sie schon mutig ihre Kritik an SS-20-Raketen und Aufrรผstung formulierte.

Freyer und sein widersprรผchliches Leben in der DDR

Wobei Freyer natรผrlich auch nicht in diese Diskussion einsteigt. Ihn beschรคftigte nach seinem ersten Buch erst so richtig die Frage nach der Widersprรผchlichkeit seines Lebens in der DDR. Denn dass er aus fรผr ihn selbst unerfindlichen Grรผnden einen Beruf ergriff, der so vรถllig seinen eigenen Interessen und Fรคhigkeiten zuwider lief, verlangt eigentlich nach einer Erklรคrung.

Und er findet sie nicht, auch nicht in der Selbstbeschwรถrung, dass er damals seine Eltern nicht enttรคuschen wollte oder der Angst davor, schmachvoll den Abschied zu nehmen. Hinter dem ganzen zweiten Band schimmert diese Frage durch und dieses Gefรผhl, etwas 13 Jahre lang durchgehalten zu haben, was so รผberhaupt nicht zum eigenen Gefรผhl des Richtigen passen will.

Der Mensch agiert nicht immer rational

Wobei ja auch seine Suche nach einem Neuanfang nach dem Abschied aus der Armee davon erzรคhlt, dass man auch dann oft irrational handelt, Chancen nicht nutzt, obwohl einem ein Gefรผhl sagt, dass es vielleicht genau die eine Chance wรคre, auf den richtigen Weg zu kommen, oder Umwege geht, bei denen man sich Dinge zumutet, die ebenso wenig zu den tatsรคchlichen Wรผnschen ans Leben gehรถren.

Insofern war er ein Glรผcklicher, dass er am Ende dennoch an einem Ort landete, wo er mit seinen Fรคhigkeiten als Lehrer genau richtig war. Auch das durchaus eine wichtige Lebenserfahrung: Wie kommt man da hin als Mensch, wenn einen gesellschaftliche Zwรคnge oder gesellschaftliche Umbrรผche wie 1989/1990 in eine Situation bringen, in der man รผberhaupt nicht mehr weiรŸ, welche jetzt die weniger schlechte Entscheidung wรคre?

Denn letztlich geht es im Leben ja genau darum: zu sich selber zu finden. Und manchmal hat man auch bei Freyers Geschichte das Gefรผhl, es kรถnnte viel mehr mit unbewussten Entscheidungen zu tun haben, die uns zu Menschen bringen, die uns nicht nur akzeptieren, sondern auch sehen, was wir selbst nicht sehen: was wir kรถnnen, was wir ausstrahlen. Wo wir uns รถffnen und auf einmal Vertrauen und Lebendigkeit zeigen. Also zeigen, dass wir uns verstanden fรผhlen.

Zeit fรผr eine Vision!

Das letzte Kapitel schrieb Freyer just im Mรคrz/April 2020, im ersten Lockdown, als wir alle auf einmal die seltsamsten Verhaltensweisen unserer Mitmenschen erlebten. Aber noch etwas wurde sichtbar, was nicht nur Freyer registrierte: Wie zerrissen unsere Gesellschaft schon lange war.

Die Risse wurden nur noch schรคrfer sichtbar โ€“ die zwischen Arm und Reich, die zwischen โ€žOstโ€ und โ€žWestโ€œ, die zwischen den politischen Extremen, die zwischen Jung und Alt. Wobei ich Ost und West bewusst in GรคnsefรผรŸchen gesetzt habe. Denn dieselben Risse gehen auch durch die Gesellschaften im Osten wie im Westen, nur prozentual anders verteilt, weil rechtsradikale Netzwerker sich den Osten zum Experimentierfeld fรผr ihre politischen Spielchen erkoren haben.

Was auch mรถglich ist, weil sie hier auf eine zutiefst verunsicherte Gesellschaft treffen. Denn so glรผcklich wie Freyer waren die meisten Ostdeutschen nicht, sonst wรคre dieses Gefรผhl, nur โ€žBรผrger 2. Klasseโ€œ zu sein, nicht bei vielen so prรคsent. Es ist ein ungutes Gefรผhl. Und eines, das man manipulieren kann. Und es erzรคhlt davon, dass eben doch erstaunlich viele Menschen die Gewissheit haben, ihr eigenes Leben nicht zu leben. Nicht leben zu kรถnnen.

Offenkundig, so Freyer, wurde auch die politische Alternativlosigkeit. โ€žEine Vision! Es wรคre an der Zeit!โ€œ

Wilder Konsumrausch statt Menschsein

Denn das Problem steckt in unserem Denken, im โ€žungezรผgelten Konsum und der damit einhergehenden Verschwendungssuchtโ€œ und dem fehlenden โ€žachtsamen Umgangโ€œ nicht nur mit Nahrungsmitteln (obwohl das sehr symptomatisch ist fรผr unsere dominierende Gedankenlosigkeit).

Denn eigentlich geht es noch weiter, als es Freyer zuletzt mit vielen Hoffnungen und Fragezeichen beschreibt: Die Achtlosigkeit im Umgang mit den Ressourcen erzรคhlt von unserer Achtlosigkeit im Umgang mit der Natur โ€ฆ Und letztlich mit uns selbst.

Denn wenn der Mensch nur im wilden Konsum Befriedigung findet, aber nicht im Menschsein, dann lรคuft gewaltig etwas schief. Und dann ist fรผr die Meisten eben die Frage nicht beantwortet, die Freyer sich die ganze Zeit selber stellt: Habe ich in all den Wirrnissen zu mir selbst gefunden oder nicht? Oder stehe ich schon wieder neben meinen Schuhen?

Eine Geschichte, die Mut macht, zu sich selbst zu stehen

So richtig โ€žJaโ€œ sagen mag er nicht, wรผnscht sich aber, dass es doch so ist. Was schon eine Menge ist, wenn man mit 60 Jahren eine Bilanz zieht, die zwar ab und zu in groรŸe politische Fragen abdriftet. Aber die wirklich wichtigen Fragen muss jeder fรผr sich selbst beantworten โ€“ oft an wirklich unรผbersichtlichen und chaotischen Stellen im Leben. Ohne zu wissen, wohin einen das fรผhrt, wenn man mal eine Gelegenheit beim Schopfe packt. Darf man das?

Auch das ist eine schรถne Frage, die einem Lehrer, Vorgesetzte und andere Autoritรคten immer so gern mit โ€žNeinโ€œ beantworten. Aber die Wahrheit ist: Wer immer nur auf das โ€žDas darfst du nichtโ€œ hรถrt, wird ein unglรผcklicher, verbiesterter alter Mann, der nicht mal den Mut hat sich einzugestehen, dass er sein eigenes Leben nicht gelebt hat, sondern nur das irgendwelcher anderer Leute โ€“ und das ist dann zwangslรคufig mรคchtig in die Hose gegangen.

So gesehen auch eine kleine Geschichte vom Mut, doch mal sich selbst was zuzutrauen, die Freyer nun in Variante 2 erzรคhlt. Und mit noch mehr Fragen. Denn so ein Zweifel nagt da immer: War das wirklich richtig richtig? Oder nur fast?

Das Leben kann einen schon ganz schรถn in Verwirrungen stรผrzen.

Frank Freyer Zwischen den Zeilen, EINBUCH Verlag, Leipzig 2021, 13,90 Euro.

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