Wenn einer ein richtiger Journalist ist, dann geht er nach seiner beruflichen Karriere nicht einfach aufs Altenteil und versumpft dann geistig. Denn eigentlich wird man Journalist, weil man von Natur aus neugierig ist und Geschichten erfahren will. Thomas Mayer war von 1991 bis 2012 Chefreporter der LVZ und hat natürlich Geschichten gesucht und gefunden. Und seitdem erscheinen seine gefundenen Geschichten auch in Buchform. Das jüngste ist dieses Buch über Friedel Stern.
Vorher veröffentlichte er zum Beispiel die Biographie von Christoph Wonneberger „Der nicht aufgibt“, die „Helden der Friedlichen Revolution“ oder die „Helden der Deutschen Einheit“. Wohl wissend, das es immer Menschen sind, starke Persönlichkeiten, die Geschichte voranbringen und prägen. Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen und ihre Persönlichkeit nicht verleugnen.2005 besuchte Mayer die Karikaturistin Friedel Stern in Tel Aviv, die berühmteste Karikaturistin Israels und wohl über Jahrzehnte die einzige, die sich in dieser männlich dominierten Szene in Israel durchsetzen konnte. Im selben Jahr gab es auch eine Personalausstellung mit Arbeiten von Friedel Stern zur „Karicartoon“ in Leipzig.
Und mit Leipzig ist Friedel Stern zutiefst verbunden, auch wenn sie die Stadt erst im hohen Alter wieder besuchte. Die Stadt, in der sie 1917 geboren wurde und die Kunstgewerbeschule besuchte. Vor dem Haus Jahnallee 5 erinnern fünf Stolpersteine an Luise Stern und ihre Kinder Frieda, Heinz, Anna und Edith. Frieda ist Friedel.
Den vier Kindern gelang – oft über Umwege – die Flucht nach Erez Israel. Luise Stern hatte alles dafür getan, den Kindern diese Flucht noch zu ermöglichen. Sie selbst starb 1942, möglicherweise schon auf dem Transport ins Vernichtungslager durch die Nazis.
Im Adressbuch 1930 findet man auch noch Friedels Vater, den Kaufmann Feiwel Stern. Er starb noch vor der Ausreise der Kinder bei einem Autounfall. Das Buch enthält vor allem das große Gespräch, das Thomas Mayer mit Friedel Stern in Tel Aviv führte, ergänzt um zahlreiche Fotos und grafische Arbeiten. Im Gespräch ging es natürlich um Friedels Lebensgeschichte, die sich ja nicht in zwei Sätzen unterbringen lässt.
Selbst als sie schon in Erez Israel war, ermunterte sie ihre Mutter aus der Ferne, aus ihrem Talent etwas zu machen und Kunst zu studieren. Was sie auch tat – nur um sich dann, als auch Großbritannien in den Krieg hineingezogen wurde, freiwillig zum Einsatz zu melden und die britischen Truppen beim Vormarsch in Italien zu begleiten.
Und regelrecht Geschichte schrieb sie 1961, als sie den Eichmann-Prozess als Pressezeichnerin begleitete. Da war sie schon die bekannteste Karikaturistin des Landes, auch wenn ihr so mancher Kollege wohl vorwarf, sie sei nicht scharf und bissig genug, viel zu lieb. Aber ihre Karikaturen haben gerade deshalb immer eine zweite Ebene, sie sehen auf den ersten Blick ganz harmlos aus – so wie die Adam-und-Eva-Karikaturen, von denen einige auch im Band zu finden sind.
Aber nach dem ersten Stutzen merkt man, dass die Zeichnerin die freundliche Selbstgefälligkeit der Betrachter gekonnt auf die Schippe genommen hat. Touché, sagt man sich da, um gleichzeitig schamrot zu werden. Wir Menschen sind uns doch alle gleich, wir mit unseren moralischen Feigenblättern. Und nicht jeder hat so viele hübsche Feigenblätter wie Eva …
Kollegen verglichen ihren Zeichenstil mit dem von Walter Trier, der in Friedels Jugendzeit für die bekanntesten deutschen Satire-Blätter zeichnete. Aber man fühlt sich auch an einen Kollegen aus einem völlig anderen Genre erinnert: Ephraim Kishon. In seinen Geschichten handeln genau solche Zeitgenoss/-innen, wie sie Friedel fröhlich in ihre Zeichnungen gebannt hat.
Natürlich geht es im Gespräch auch um das Leben, das Überleben und das Sich-Durchsetzen in einer von Männern dominierten Gesellschaft. Wobei einmal mehr auffällt, dass Frauen, die es wirklich geschafft haben, sich nie die Bohne darum kümmerten, was die Männer dazu meinen und ob sie selbst genug männliche Eigenschaften gehabt haben, um sich nach oben durchzuboxen. Die wirklich klugen Frauen spielen diese dummen Männerspiele nicht mit, sondern verlassen sich auf ihr eigenes Selbstbewusstsein und ihr Können.
Fast hätte ich irgend so eine blöde Phrase wie „besser als die Männer“ hingeschrieben. Aber da säße ich schon wieder in der alten, dummen Vergleichsfalle. Wirklich klugen Frauen sind die Maßstäbe der Männchen herzlich egal. Sie wissen, dass sie selbst gut sind, dass sie ihr Handwerk beherrschen und es weit und breit niemanden gibt – egal welchen Geschlechts – der (oder die) ihnen irgendwas vormachen kann.
Im Gegenteil: Friedel Stern war selbst 30 Jahre lang Dozentin an der Kunstakademie. Und selbst ins gut ausgestattete Seniorenheim zog sie nichts. Es schreckte sie regelrecht ab, dort unter Nachbarinnen zu kommen, die geistig schon weit weg vom Leben waren. Das war wirklich nichts, was die hochbetagte Künstlerin reizen konnte.
Was einen natürlich nachdenklich macht beim Nachsinnen über unseren Umgang mit dem Alter. Und damit auch mit dem Leben. Denn der Mensch ist ja eigentlich nicht auf der Welt, um brav seine vorgegebenen Lebensabschnitte abzuspulen und sich dann gehorsam in die Ecke stellen zu lassen. Obwohl das irgendwie viele einfach so mit sich machen lassen.
So gesehen ein durchaus ermunterndes Buch auch mit einigen Fragen zum Eigentlichen im Leben. Das Wichtige steckt manchmal in ganz einfachen Sätzen wie diesen: „In meinem Leben habe ich gelernt, dass man sich nicht verstellen soll. Ich will immer so sein, wie ich bin. Über mich lächelt man. Ich habe damit vielen Leuten geholfen, ihre schlechte Laune zu überwinden.“
Stimmt schon: Solche Art, die Welt zu zeichnen, ist selten. Und ganz große Kunst. Es ist ein Buch geworden, das selbst wieder ermuntert. Und das auch zeigt, dass man Herzenswärme nicht verlieren muss, wenn das Leben einen hart angeht. Ein Besuch mit Friedel Stern in der Gedenkstätte Yad Vashem beschließt den Band. Und auch der endet mit einem selbstbewussten Blick „auf die Stadt aus Licht“.
Thomas Mayer Friedel Stern, Hentrich & Hentrich, Leipzig 2021, 17,90 Euro.
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