Wie fรคngt man die Besprechung so eines Buches am besten an? So vielleicht: Gott schickte seine zehn Gebote per WhatsApp auf Moses' Smartphone und mahnte: โGib das weiter an deine Follower! Wichtig!โ โ Oder besser so: โUnd Paulus schrieb eine Mail an die verirrten Schafe in der digitalen Wรผste: Das Meeting findet heute offline statt. Bringt Brot und Wein mit. Es gibt echte Menschen.โ
So ungefรคhr. Es ist durchaus mรถglich, dass die eine und der andere, als sie von der Kammer fรผr soziale Ordnung der Evangelischen Kirche gebeten wurden, das eine oder andere Kapitel fรผr dieses Buch zu รผbernehmen, so etwas รhnliches gedacht hat. Es schimmert zumindest durch. Und die Idee ist ja herzallerliebst, die รผber 2.500 Jahre alten Gebote, die Moses vom Berg mit herunterbrachte, nicht nur in die Gegenwart zu transferieren, sondern sie auch auf alle unsere Probleme in der digitalen Welt umzudeuten. Was eigentlich nicht dumm ist.Das zeigt der jeweilige Interpretations-Einstieg in jedes Kapitel, der erst einmal darauf eingeht, in welche Zeit die Gebote entstanden, auf welche Gesellschaft sie zielten und welche befreiende (man kann auch sagen: entlastende) Funktion sie im frรผhen jรผdischen Glauben fรผr die Menschen bedeuteten.
Eigentlich ist das ein eigenes Buch wert. Vielleicht gibt es das auch schon. Immerhin haben sich ja Dutzende Autor/-innen (nicht nur Theolog/-innen) bei Gelegenheit des 500. Jahrestages des Thesenanschlags zu Wittenberg 2017 auch mit Luthers โFreiheit eines Christenmenschenโ beschรคftigt und mit seinem Befreiungsmoment im Turm, als bei ihm die Einsicht zรผndete, warum das Wirken von Paulus vor 2.000 Jahren als so befreiend empfunden wurde und zum Zรผnder fรผr die entstehende christliche Religion wurde.
Das ist wirklich ein Thema fรผr unsere Zeit und es offenbart erstaunliche Tiefen, wenn die โ namentlich nicht genannten โ Autor/-innen erst einmal erlรคutern, wie ausgerechnet diese Zehn Gebote (die die meisten Glรคubigen ja als Verbote begreifen) im Kern tatsรคchlich Freiheit ermรถglichen. Allein schon fรผr diese Erlรคuterungen lohnt sich dieses Buch. Denn es regt an, รผber den scheinbar bekannten und simplen Text hinauszudenken. Was wir heutzutage selten noch tun.
Unsere Kommunikation โ und erst recht die digitale โ ist geradezu zu Oberflรคchlichkeit verkommen. Wer kรคme auf die Idee, hinter dem Gebot โDu sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nรคchstenโ eine Freiheit zu suchen? Eine Freiheit, die in dem eigentlich auffรคlligen Schlรผsselwort โNรคchstenโ steckt, denn wer anfรคngt รผber seinen Nรคchsten nachzudenken, darรผber, wer das eigentlich ist, der gibt seinem Gegenรผber ein Gesicht, der erรถffnet Rรคume, weil er aufhรถrt, gegen Masken und Avatare zu kรคmpfen, und stattdessen beginnt, im Nรคchsten auch sich selbst zu erkennen.
Wenn ich aber im anderen mich selbst erkenne, werde ich sorgsamer, achtsamer im Sprechen. Ich erlebe, dass Sprechen immer zwei Richtungen hat und erst wirklich intensiv und aufregend wird, wenn zwei Menschen miteinander respektvoll ins Gesprรคch kommen. Das โwiderโ verschwindet aus der Begegnung und es entsteht โ Freiheit. Eine eigentlich unerhรถrte Freiheit, bei der man sich fragt: Wieso merken das so viele Menschen nicht mehr, die in der Anonymitรคt des Internets wรผten und trollen, haten und verachten? Was fehlt ihnen eigentlich? Oder verleitet dieses anonyme Medium geradezu dazu, sich asozial zu verhalten? (Asozial auch in dem Sinne von bindungslos und einsam.)
Eine Frage, die natรผrlich auch das Kapitel zum 9. Gebot nicht ausdiskutieren kann. Das Buch sowieso nicht, das natรผrlich auch ein paar Geburtsfehler hat, auch wenn man ahnt, warum die Evangelische Kirche es fรผr dringend angeraten hielt, so einen Leitfaden fรผr ihre Schรคfchen und Hirt/-innen herauszubringen. Denn mit den Corona-Einschrรคnkungen war natรผrlich auch die Kirche gezwungen, einen Groรteil ihrer tรคglichen Arbeit ins Internet zu verlegen: Seelsorge, Gottesdienste, Gemeindetreffen, Beratung usw.
Und da beginnt das Problem, das in diesem Buch unรผbersehbar wird: Von welcher Kirche ist eigentlich die Rede? Das weiร โdie Kircheโ nรคmlich auch nicht (mehr). Wobei ich nicht weiร, ob sie es je wusste oder wissen wollte, seit sie sich in der spรคtrรถmischen Zeit institutionalisiert und professionalisiert hat.
Mit Folgen, รผber die ja nicht nur Luther heftigst ins Grรผbeln kam. Denn eigentlich ist offenkundig, dass die Institution Kirche mit ihren Angestellten, Verwaltungen, Sozialeinrichtungen usw. etwas vรถllig anderes ist als die Gemeinschaft der Glรคubigen (die auch wieder nicht wirklich mit der Gruppe der Kirchensteuerzahler/-innen identisch ist). Und die Gemeinschaft der Glรคubigen ist wieder nicht identisch mit der Gemeinde, in der Glรคubige ihre Kirche erleben. Und die Institution wieder ist nicht identisch mit dem Korpus EKD, der sich irgendwie doch als der politische Kopf der evangelischen Kirche(n) versteht.
Und das geht im Buch munter drunter und drรผber, was augenscheinlich damit zu tun hat, dass sich die Autor/-innen der verschiedenen Kapitel jeweils vรถllig unterschiedlichen Manifestationen der Kirche zugehรถrig fรผhlten.
Wobei es verblรผfft fรผr einen Auรenstehenden, dass es innerhalb der religiรถs definierten Kirche auch noch erstaunliche Manifestationen einer Kirche gibt, die sich zuallererst als Sozialverwaltung versteht, und auch noch eine, die sich regelrecht als politische Partei begreift. Was immer dann auffรคllt, wenn die Autor/-innen versuchen, Lรถsungen fรผr die Probleme zu formulieren, die sie im Umgang mit dem Internet und seinen Fehlentwicklungen ausgemacht haben.
Denn die Bilanz ist klar: Auch wenn man die Zehn Gebote ganz gegenwรคrtig interpretiert, bietet das Internet insbesondere mit seinen โsocial mediaโ, der aufdringlichen personalisierten Werbung, der Datenausspรคhung, den allgegenwรคrtigen Fakenews, den Radikalisierungen, der Pornographie, Gewaltdarstellung und Gewaltspielen ein geradezu apokalyptisches Bild. Man hรคtte sich ganz und gar nicht gewundert, wenn einige Autor/-innen in biblische Predigttรถne verfallen wรคren. Aber das sind sie nicht. Aber die meisten haben auch ihre Chancen nicht genutzt. Was eben an der eigentlich elementaren Frage liegt: Wer spricht hier eigentlich zu wem?
Denn es ist ein ganz anderes Sprechen, wenn Kirchenleitungen miteinander beraten, wie man Seelsorge und Gottesdienste digital erlebbar machen kann und wie man damit umgeht, dass sich digitale Gemeinschaften vรถllig anders zusammenfinden als die lokalen Gemeinden in der analogen Welt, als wenn sich Kirchenmenschen darรผber Gedanken machen, wie man sich gegen die kapitalistische Rรผcksichtslosigkeit der Tech-Giganten wehren und seine persรถnliche Autonomie bewahren kann.
Und wieder anders stellen sich die Probleme, wenn Ratsuchende sich an ihre Seelsorger wenden mit Fragen zur (digitalen) Untreue, zur Nutzung von Pornographie, zu Shitstorms und digitalem Mobbing.
Auf einmal hat man die komplette Wirrnis der Gegenwart auf dem Tisch. Und dann klingt es geradezu sozialdemokratisch, wenn die Autor/-innen empfehlen, man mรผsse dazu in einen Austausch kommen, man mรผsste beraten und der Gesetzgeber mรผsste dies und jenes รคndern.
Was er aber nicht tut. Man kann ja dabei zuschauen, dass es die Gesetzgeber nicht die Bohne interessiert, wie die Tech-Giganten nicht nur alle mรถglichen Daten abgreifen und die Nutzer gezielt zu Konsum anstiften, regelrecht anheizen, jetzt mit dem letzten Euro ums Goldene Kalb zu tanzen und es anzubeten. Mal so ganz beiseite gesagt: Das ist aktuell das Lust- und Lebensprinzip unserer Gesellschaft, die ihre Seele verkauft, nur um das Goldene Kalb Wachstum anzubeten und damit die Zerstรถrung der Schรถpfung zu betreiben.
Man merkt schon: Auch die Zehn Gebote gehen eigentlich ans Eingemachte. Und dann kommt da so ein sanfter Rat: Man mรผsste โฆ
Da wรผrde auch ein Paulus rasend werden. Weil das die Verantwortung wieder an andere delegiert, obwohl die Zehn Gebote (das wird ja sehr sinnhaft analysiert) gerade das Gegenteil bedeuteten: Sie halfen den Menschen ihrer Zeit aus der รberforderung heraus. Einer รberforderung, die wir heute sehr gut wieder nachempfinden kรถnnen, denn das, was uns die Apologeten des Wildwuchses da die ganze Zeit als Informationsflut verkaufen, ist in Wirklichkeit eine geplante รberforderung und รberwรคltigung durch jene gigantischen IT-Konzerne, die Disruption zu ihrem Geschรคftsfeld gemacht haben.
Und damit zerstรถren sie nicht nur die Geschรคftsfelder klassischer Unternehmen (wie es Amazon mit den Handelsunternehmen macht, mit Verlagen und Buchhandlungen) und auch nicht nur die Geschรคftsgrundlage klassischer Medien (wie es Facebook und Google machen), sondern auch die Grundlagen unserer Gesellschaft.
Denn auch wenn manch Unglรคubiger sagen wird โWas gehen mich die Zehn Gebote an?โ, zeigt schon der vorsichtige Blick in unsere juristischen und gesellschaftlichen Verhรคltnisse, dass diese Zehn Gebote (oder besser: das, wofรผr sie stehen) fest eingebaut sind in unser Verstรคndnis von Recht und Gesetz, Moral und Selbstbestimmung. Das vergessen auch โdie Kirchenโ gern, dass sie eigentlich Teil eines nun seit 2.500 Jahren anhaltenden Emanzipationsprozesses waren und sind, in dem Menschen sich Regeln geschaffen haben, die ihnen das Leben in einer sie รผberfordernden Welt erleichtern, indem sie โchaotische รbergriffeโ minimieren.
Das beginnt mit dem zum Sabbat erklรคrten siebenten Tag, der zuallererst mal die Arbeiter, Bauern und das liebe Vieh davor schรผtzt, jeden Tag rund um die Uhr ausgebeutet zu werden. Das geht mit dem Schutz von Besitz weiter โ dem Fleckchen Land, das ein armer Mann besitzt und das der reiche Groรgrundbesitzer nur zu gern zur Arrondierung (ein Lieblingswort der Immobilienwirtschaft) seines Besitzes okkupieren mรถchte, geht aber in Gebot Nr. 10 weiter: โDu sollst nicht nach dem Haus deines Nรคchsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nรคchsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nรคchsten gehรถrt.โ
Eigentlich ein ganz zentrales Gebot, das aber die disruptiven Konzerne rรผcksichtslos niederwalzen. Gleichzeitig befeuert mit der Schaffung immer neuer Wรผnsche in ihre Kunden, die eigentlich Opfer sind und letztlich Mitverschworene, weil sie aus dem Mรผhlrad des Begehrens nach Dingen, die sie nicht haben, nicht wieder herausfinden.
Und auch nicht mehr verstehen, dass sie in einer Welt der Manipulation und der falschen Prothesen gelandet sind, wo ihnen die Erfรผllung all ihrer Wรผnsche versprochen wird, obwohl selbst die angebotenen Gรผter wieder nichts als Prothesen sind, virtuelle Surrogate fรผr all das, was sich im realen Leben nicht mehr finden lรคsst. Auch deshalb nicht, weil man die Freiheit des realen Lebens einbรผรt, wenn man sich in der virtuellen Welt verliert.
Und dann ist da ja noch das so verwirrende Gebot Nr. 9: โDu sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nรคchstenโ, das im Text sehr erhellend als ein Ur-Grundsatz der Rechtsprechung erlรคutert wird, der aber Folgen hat bis heute. Bis in den Journalismus hinein, der nicht nur deshalb unter Druck geraten ist, weil im Internet jeder zum Publisher werden kann, sondern auch, weil die berรผhmten Algorithmen der โsocial mediaโ eben nicht die tiefgrรผndigen und gut recherchierten Artikel bevorzugen, sondern all das, was fรผr Aufregung sorgt, egal, woraus die besteht โ Katastrophen, Skandale, Shitstorms, Lรผgen, Verschwรถrungsmythen usw.
Ein Punkt, an dem unรผbersehbar wird, wie diese disruptiven Geschรคftsmodelle auch ganz gezielt den gesellschaftlichen Konsens zerstรถren und Dinge befeuern, die die Nutzer der digitalen Netzwerke wieder in jenes seelische Chaos stรผrzen, das die groรen Religionen eigentlich mit aller Mรผhe gebรคndigt hatten. Und es ist niemand da, der in der Lage wรคre, diese zรผgellose Entfesselung von Wut und Hass zu bรคndigen. Denn sie stecken im Kern der groรen Konzerne, die nicht nur die volle Kontrolle (und damit auch die absolute Macht) รผber das haben wollen, was auf ihren Plattformen als โGesprรคchโ stattfindet, sondern auch รผber den gesamten gesellschaftlichen Diskurs.
Da merkt man, dass an dieser Stelle wohl einige Autor/-innen mitgeschrieben haben, die fรผr diverse Kirchenmedien tรคtig sind und sich die Diskussionen zum Qualitรคtsjournalismus der vergangenen Jahre sehr zu Herzen genommen haben und meinen, mehr Transparenz in den klassischen Medien und mehr Fehlerkultur kรถnnten die Sache bessern.
Aber das ignoriert die Marktmacht der groรen Konzerne, die eben auch die Distributionswege zerstรถrt haben und allein mit ihrer Monopolstellung dafรผr sorgen, dass sich die Diskussionen verรคndern, Fakenews verbreitet werden, Misstrauen in klassische Medien geschรผrt wird und Menschen immer mehr das Gefรผhl haben, nicht mehr durchzublicken, weil ihnen seriรถse Meldungen genauso prรคsentiert werden wie Postings aus Verschwรถrernetzwerken, Trash aus dem Boulevard und Influencer-Spots. Oft sogar nur noch der Trash, weil die Algorithmen nicht nach Seriositรคt filtern, sondern nach Klicks und Aufregung.
Und da schaltet man da innerlich um: Was wรคre das eigentlich fรผr ein Buch geworden, wenn sich die Autor/-innen darauf geeinigt hรคtten, einen Leitfaden fรผr die Sinnsuchenden zu schreiben, die sich der Kirche vielleicht verbunden fรผhlen, vielleicht auch nicht. Menschen, die tatsรคchlich die Freiheiten der Zehn Gebote verinnerlicht haben und sich trotzdem verloren fรผhlen in einer (digitalen) Welt, in der praktisch alle diese Regeln mit Fรผรen getreten werden, weil sie beim Geschรคftemachen stรถren.
Denn man darf eben auch nicht verkennen, dass es hier um eine รถkonomische Frage geht (eigentlich genauso wie in Israel und Judรคa vor 2.500 Jahren) und der nicht-mรคchtige Mensch eigentlich Schutz sucht vor der รbergriffigkeit derer, die nicht bereit sind, die Wรผrde der zu โKundenโ gemachten Menschen zu wahren.
Was macht man mit einem digitalen Netz, in dem die Rรคuber ungestraft rauben kรถnnen, das aber so allgegenwรคrtig (und damit mรคchtig ist), dass keiner sich einfach ausloggen kann?
Und wie schafft man es als zutiefst moralischer Mensch, die in den Zehn Geboten steckenden Freiheiten zu bewahren und zu verteidigen? Wie kann man das auch online tun? Ich denke, das Buch wรคre konsequenter geworden, hรคtten sich die Autor/-innen genau darauf einigen kรถnnen.
Dann hรคtte es sogar eine richtig starke Denkschrift werden kรถnnen, die man auch den zustรคndigen Politiker/-innen auf den Tisch hรคtte legen kรถnnen: Als Diskussionsgrundlage, wie eine digitale Welt eigentlich aussehen muss, wenn man nicht die Freiheit der Rรคuber schรผtzt, sondern die Freiheit der Menschen. Jene Menschen, fรผr die die Zehn Gebote auch ein moralischer Kompass sind. Stoff zum Nachdenken, wรผrde ich sagen.
Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.) Freiheit digital, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2021, 9 Euro.
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