Wenn wir jetzt nicht wirklich zu doof zum Rechnen sind, müssten Leipzigs Straßenbahnen in diesem Jahr eigentlich mit Flaggen und Girlanden durch die Stadt fahren. Denn 1896, vor 125 Jahren, begann die Elektrifizierung der zuvor mit Pferden betriebenen Straßenbahn, ging offiziell auch die Große Leipziger Straßenbahn in Betrieb. Aber dergleichen ist nicht zu sehen. Selbst in den 1980er Jahren hatten die LVB mehr Sinn fürs Feiern. Na ja, damals gab es ja auch noch Netzerweiterungen.
Nur die Stadt sah wesentlich trister, grauer und kahler aus. Was nur bedingt am Filmmaterial liegt, mit dem die Straßenbahnverrückten damals jede Veränderung im Wagenpark und im Gleisnetz der Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) fotografierten. In einer Zeit, von der man eigentlich denkt, da hätte es nichts Fotografierenswertes gegeben. Waren doch eh nur die alten Tatra-Bahnen unterwegs. Aber was uns heute alt vorkommt, auch weil es auch einige Medien immer wieder wie alten Rumpelschrott titulieren, waren damals moderne Fahrzeuge, robust sowieso.Und die LVB kauften fleißig, um ihren Wagenpark zu erneuern und zu erweitern. Denn so manche und so mancher werden sich noch an die späten 1980er Jahre erinnern, als teilweise noch Straßenbahnen aus der Vorkriegszeit durch Leipzig fuhren – Pullman-Wagen und Gothaer, von denen man einige liebevoll restaurierte Exemplare im Historischen Straßenbahnhof besichtigen kann. Dort freilich sind sie oft gar nicht wiederzuerkennen, weil sie von den Straßenbahnfreunden in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt wurden.
Auch davon findet man Fotos in diesem reich bebilderten Buch, Fotos, die auch daran erinnern, dass die Arbeitsgemeinschaft Historische Nahverkehrsmittel in dieser Zeit ihre Ursprünge hat und damals auch mit Unterstützung der LVB begann, historische Fahrzeuge zu retten und wieder fahrtüchtig zu machen.
Aber das Buch, für das die AG die schönsten Bilder aus den Archiven ihrer emsigsten Fotografen ausgewählt hat, ist nicht nur eine Sammlung von lauter schnuckeligen Tatra-Wagen im blassgelben Design der 1980er Jahre, die natürlich gewaltig schüchtern aussehen gegen die bunt-beklebten Gefährte, mit denen die LVB heute durch die Stadt fahren. Es ist auch eine fast beiläufige Betriebsgeschichte, die zeigt, dass die 1980er Jahre für die LVB ganz und gar keine Zeit des Stillstands waren. Nicht nur der Wagenpark wurde systematisch erneuert und tauglich gemacht für Messen, Sportfeste und Fußballspiele.
Es wurden auch etliche Kilometer neue Gleise und Gleisschleifen verlegt, um zu Beispiel Grünau und Paunsdorf ans Netz anzuschließen – Grünau erst, nachdem schon die meisten Wohnblöcke standen und bezogen waren, Paunsdorf schon vorsorgend. Und das unter erschwerten Bedingungen. Denn damals fehlten Leipzig auch die Bauleute. Auch die Bautrupps der LVB waren eigentlich in Berlin eingesetzt, um dort Marzahn ans Netz zu bekommen.
Berlin ist sowieso so ein Stachel im Fleisch, denn auch die modernere Version der T4D-Tatras musste erst einmal an die Hauptstadt der DDR abgegeben werden. Was dazu führte, dass die LVB noch mehr der bewährten Tatra-Züge bestellten, die dann – die Fotos zeigen es – mit dem Zug von Prag nach Leipzig–Heiterblick angeliefert wurden. Deswegen hatte Leipzig 1989 so viele davon, viele nagelneu, sodass die Rufe nach Abwracken damals viel zu früh kamen.
Auch wenn der Grund natürlich ersichtlich war. Die Fahrzeuge waren schlicht nicht barrierefrei und ein Foto zeigt sogar stolz, wie geübt die Leipziger damals waren, Kinderwagen in die Bahn zu heben. Aber nicht nur die Bahnen waren nicht barrierefrei. Es gab auch keinen einzigen barrierefreien Bahnsteig, nirgendwo, nicht am Hauptbahnhof, nicht am Karl-Marx-Platz (Augustusplatz) und nicht am Friedrich-Engels-Platz (Goerdelerring).
Es sind nicht nur die veränderten Platz- und Straßennamen, die einem zeigen, wie viel sich seit 1990 tatsächlich verändert hat. (Oder der schöne Blick auf die Demonstrierenden 1989 vom Blauen Wunder herab, die die feststeckenden Straßenbahnen friedlich umströmen.) Es sind eben auch die völlig veränderten Haltestellensituationen. Das mit dem Fahrermangel ist auch nicht neu, können die Autoren des Buches feststellen. Auch damals schon gab es emsige Werbeaktionen um Fahrpersonal.
Wobei man nicht vergessen darf: Mit dem hier vorgestellten Wagenpark transportierten die LVB damals doppelt so viele Fahrgäste wie heute. Die Straßenbahn war tatsächlich noch das Verkehrsmittel Nr. 1, denn wer zur Arbeit wollte, fuhr in der Regel mit der Bimmel. Weshalb es damals noch Dutzende Linien gab, die seitdem komplett aus dem Liniennetz verschwunden sind. Zwei Liniennetzpläne von Anfang und Ende der 1980er Jahre machen die Entwicklung auch für Nachgeborene nachvollziehbar.
Und bei einigen Linien fragt man sich heute zu Recht, warum sie in einwohnerschwachen Zeiten (nämlich zur Netzreform 2000) einfach abgeschafft wurden. Hatten die Planer bei den LVB mit der „Wende“ jedes strategische Denken eingebüßt, das sie in den letzten zehn Jahren der DDR eindeutig noch hatten?
Ja, haben sie.
Klingt hart und wird in manchem Büro wohl auch nicht nachvollziehbar sein. Aber jeder Rechenschaftsbericht der LVB an den Stadtrat belegt es. Man baut nicht (mehr) Strecken auf einen strategischen Bedarf hin, sondern wartet, bis sich die nötigen Bedarfe rechnerisch ergeben haben.
Damit ist man damals in Grünau mächtig auf die Nase gefallen. Dort hat man zu spät (und trotzdem verblüffend schnell) mit dem Gleisbau begonnen. Aber damals gab es ja auch noch nicht die frei verfügbaren Pkw, auf die die fleißigen Werktätigen einfach so umsteigen konnten.
Heute rechnen ÖPNV-Planer einfach damit, dass die Leute sich schon ein Auto zulegen werden, wenn Bus und Bahn bei ihnen nicht (mehr) fahren oder so geizig getaktet sind, dass man sich lieber nicht drauf verlässt.
Wie sähe eigentlich ein Straßenbahnnetz aus, das einfach so geplant wird, als hätten die Leipziger keine Möglichkeit, schnell mal auf Trabi und Skoda umzusteigen? So wie das von 1989. Vielleicht ein bisschen gestraffter, denn damals empfand die LVB-Spitze das alte Netz der Betriebsbahnhöfe auch nicht mehr als praktikabel.
Da war noch ein halbes Dutzend der alten Straßen- bzw. Pferdebahnhöfe aus der Anfangszeit der Leipziger Straßenbahn in Betrieb, ausgelegt für Wagenreihungen, die nicht im Ansatz den Erfordernissen des späten 20. Jahrhunderts genügten. Einige dieser Betriebshöfe – wie der in Leutzsch – mussten sogar extra wieder in Betrieb genommen werden, um Platz für abgestellte Tatra-Wagenzüge zu schaffen.
Und Glück für die Straßenbahnfreunde war auch, dass viele der alten Wagen aus den 1920er Jahren zwar nicht mehr im Personentransport eingesetzt wurden, aber als Arbeitspferde in den Betriebshöfen, als Fracht-Straßenbahn oder als Weichenspülfahrzeug oder Sandtransporter. Die Mitarbeiter in der Betriebswerkstatt mussten schon einfallsreich sein und die meisten dieser Spezialfahrzeuge – bis hin zum Hebekran – selbst konstruieren und zu bauen, denn es gab sie ja schlicht nicht zu kaufen.
Es ist ein Buch, das nicht nur Straßenbahnfreunde faszinieren wird, auch wenn es natürlich ein ganz besonderes Kapitel ist, das hier endlich einmal auch mit einem Bildband gewürdigt wird, nachdem es solche Bücher schon zu den 1950er, 1960er und 1970er Jahren gab. Es ist auch ein Buch, das ein Kapitel der Leipziger (Wirtschafts-)Geschichte zeigt, das viel zu selten in den Fokus gerät. Die Wirtschaft der DDR wird ja fast immer nur von ihrem Ende und von der tiefroten Bilanz des Herbstes 1989 her betrachtet.
Trotzdem hat das Land funktioniert, wurde investiert und sorgten auch einfallsreiche Könner der Improvisation dafür, dass die Straßenbahnen rollten, dass das LVB-Netz 1989 von den Leipzigern ganz und gar nicht als marode empfunden wurde, auch wenn binnen weniger Jahre neue Standards, neue Rechenmethoden und Erwartungen Einzug hielten.
Und ab 1996 – also pünktlich zum 100-jährigen elektrischen Jubiläum – die neuen Niederflurwagen. Und natürlich die Priorisierung des Automobils auch in der Leipziger Verkehrspolitik, aus der sich Planer, Parteien und Interessenverbände einfach nicht lösen können.
Und für manchen älteren Leipziger werden beim Durchblättern auch tief vergrabene Erinnerungen wach, etwa an das Ratschen des Entwerters, wenn man seinen Fahrschein für 20 Pfennige darin durchlöcherte, oder das kraftvolle Ziehen an den Türen des Gotha-Wagenzugs, die man noch von Hand öffnen musste. Dass die aussortierten Wagen dann freilich in einer Sandgrube bei Lützschena abgefackelt wurden, dürfte den meisten Lesern neu sein. Mit Umweltschutz nahmen es die LVB damals sichtlich nicht genau.
Ein Buch, das auf jeden Fall Lust macht, beim nächsten Tag der Offenen Tür wieder zum Historischen Straßenbahnhof zu pilgern und an den angebotenen Fahrten mit den liebevoll restaurierten Fahrzeugen teilzunehmen. Da lohnt sich dann immer der Blick in die Fahrerkanzel, wo meist ein gestandener Straßenbahner sitzt und stolz wie Bolle mit Fahrzeugen durch Leipzig fährt, die vor 100 oder 50 Jahren das Werk verlassen haben.
AG „Historische Nahverkehrsmittel Leipzig“ e. V. Die Leipziger Straßenbahn, Sutton Verlag, Erfurt 2021, 19,99.
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