Darf der denn das? Der Bursche ist doch kein Historiker! - Zum Glück. 2017 schon erklärte er den Deutschen, warum ihre Geschichte mit dem Aufkommen Preußens so völlig aus dem Gleis geriet. Jetzt hat er sich auch die eigene, englische Geschichte vorgeknöpft. Mit dem Blickwinkel eines Mannes, dem die tradierten Erklärmuster studierter Historiker völlig schnuppe sind.

Menschen in der Politik benehmen sich wie Stämme

Denn jeder Blick in die Zeitung sagt ihm, dass sich Menschen in der Politik wie Stämme benehmen. Und zwar wie uralte Stämme. Vergessen wir jetzt also alle Parteifarben, alles Lechts-und-Rinks-Geklapper?Es würde auf jeden Fall helfen zu verstehen, warum Menschen sich selbst in einer Demokratie irrational verhalten und zum Beispiel solchen Bockmist unterstützen wie den Brexit, den Hawes, nachdem er seine Leser/-innen mitgenommen hat in 2.000 Jahre Inselgeschichte, ganz trocken einen Putsch nennt. Den Putsch einer südenglischen Elite, für die, wenn es um Geld und Machterhalt geht, völlig egal ist, welche Schäden sie damit anrichtet.

Erstaunlich, dass in Deutschland so wenig über Eliten diskutiert wird. Und damit ist nicht das Gemunkel in den ganzen Querdenker-Gruppen gemeint, die irgendwo da oben in den „alten Parteien“ eine Elite herbeiphantasieren. Eliten, die abgewählt werden können, sind keine Eliten. Eliten zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Erstzugriffsrechte auf Macht, Reichtum und Einfluss haben.

Wo ist eigentlich die deutsche Elite?

Auf Minister und Gesetzgebung, auf die entscheidenden Posten in Justiz, Hochschulen, Aufsichtsräten. Wer die deutsche Elite sucht, sollte lieber nicht im Deutschen Bundestag danach suchen. Dort sitzen – zumeist in konservativen Parteien, bestenfalls die Kofferträger und Erfüllungsgehilfen der wirklich Reichen und Mächtigen.

Die Liste ihrer Spender und der großen Vermögen führt da schon weiter. Und wer die diversen Karten zu Wohlstand und Armut, Einkommen und Reichtum in Deutschland aufruft, die es im Netz in unterschiedlichster Form gibt, sieht die Antwort vor Augen, warum Ostdeutschland in der Bundespolitik nicht auf Augenhöhe mitspielt, warum es bestenfalls wie der arme Verwandte aus dem Osten behandelt wird und nie dabei ist, wenn die wirklich wichtigen Gesetze gemacht werden.

Im Osten gab es keinen Elitenwechsel

Der Grund ist simpel: Im Osten wurden die kompletten alten Eliten (die im Westen nach wie vor die tonangebenden sind) an 1945 vertrieben, enteignet, ausradiert. Deswegen war das, was ab 1990 passierte, auch kein Elitenwechsel, obwohl es gern so interpretiert wird, denn im Vergleich mit den alten einflussreichen Eliten des Westens waren die SED-Funktionsträger bestenfalls Angestellte, arme Würstchen ohne echte Macht.

Das nur mal so als Ausflug. Denn so wird etwas verständlicher, warum es dem deutschen Osten im großen deutschen Suppenkessel seit 75 Jahren eigentlich genauso geht wie dem englischen Norden. Was das ist, erklärt James Hawes sehr lebendig. Für alle, die das britische Drama nur über deutsche Medien verfolgen, dürfte auch dieses Buch des Dozenten für Deutsch und Creative Writing sehr erhellend sein.

Das eine England gibt es nicht…

Schon in „Die kürzeste Geschichte Deutschlands“ hatte er seinen Leser/-innen die Augen dafür geöffnet, wie prägend frühe kulturelle Überformungen für ein Land sind, auch dann, wenn die Leute da scheinbar alle dieselbe Sprache sprechen, die einen aber ihren Eintritt in die moderne Zivilisation als Kolonialisierte im Römischen Reich erlebten (der Süden und Westen Deutschlands) und die anderen erst viel später dazukamen und dann auch noch durch andere Einflüsse geformt wurden. Wie es das Deutschland bis heute in Nord und Süd teilt, in Protestanten und Katholiken, arme Würstchen und reiche Snobisten, kann man dort nachlesen.

Dass die Römer auch ihre Aktie daran haben, dass es das eine, homogene England nicht gibt, das erfährt man bei Hawes in herrlich leichter und erzählfreudiger Weise. Denn der von den Römern geprägte englische Süden ist bis heute in jedem Wahlergebnis für das Unterhaus ablesbar. Aber auch in den Namen der politisch einflussreichen Politiker, in den Einkommen und in den glühendsten Brexit-Befürwortern.

Denn natürlich nützt der Brexit jemandem. Man muss eigentlich nur fragen: „Wem?“ Und dann versteht man auch, warum ein scheinbar so stocknüchternes und demokratieerfahrenes Land derart auf die schiefe Bahn geraten konnte.

…und auch nicht das eine Englisch!

Und natürlich, was das mit Macht, Reichtum und Einfluss zu tun hat und welche Rolle dabei spielt, dass England Jahrhunderte lang von einer aus Frankreich importierten Elite regiert wurde, die auch zu Robin Hoods Zeiten nur Französisch sprach. Und bis heute ein eigenes Englisch spricht, das durchsetzt ist mit französischen und lateinischen Lehnworten.

Es ist die sogenannte Received Pronunciation (RP), die südenglische Aussprache, an der sich Mitglieder der Elite genauso erkennen wie am richtig geschnittenen Anzug, den besuchten Schulen und Universitäten und den Umgangsformen. Die RP wurde 1922 zur Normsprache der BBC, womit dann auch noch im letzten Dorf zu hören war, wer im Land den Ton angab.

Was natürlich aus deutscher Sicht etwas überraschend ist: Ist denn Englisch nicht ein und dasselbe? Ist es nicht, teilt einem nun Hawes mit, der seine Landsleute ja kennt und der weiß, dass das eigentliche Englisch im Norden gesprochen wird, dort, wo es vor anderthalb Jahrtausenden Angeln und Sachsen gelang, ihre Königreiche zu errichten (und wo die Städte noch heute sächsische Namen tragen). Und verblüffenderweise klang dieses Sächsisch noch tausend Jahre später fast genauso wie das Sächsisch der (Nieder-)Sachsen in Deutschland.

Warum die Engländer Hollywood lieben

Und Hawes schildert einen sehr schönen Effekt, wenn er von der Begeisterung der Engländer für Filme aus Hollywood erzählt, denn in den amerikanischen Filmen sprechen die Guten das Englisch des einfachen Volkes und die Bösewichter das snobistische Englisch der südenglischen Upperclass.

Was natürlich seine Gründe darin hat, dass es ab dem 16. Jahrhundert die armen Hungerleider waren, die in der Neuen Welt eine Zukunft und einen Neuanfang suchten. Das hatten ja die südenglischen Eliten nicht nötig, die gerade mit den so genannten Einhegungen dafür sorgen, dass die reichen Landlords noch mehr Grund und Boden bekamen und die armen Pächter und Bauern zu Tausenden von ihren kleinen Feldern und Allmenden vertrieben wurden und zu jenem Lumpenproletariat (mit gesetzlich verordneter Arbeitspflicht) gemacht wurden, aus dem die englische Elite dann das billige Arbeitsheer für den aufkommenden Kapitalismus machte.

Marx wusste genau Bescheid

Marx lässt grüßen. Er hat das Ganze nicht ganz grundlos direkt in London an der Quelle untersucht, nur scheinbar völlig übersehen, dass die ganz spezielle englische Variante, der so genannte Manchesterkapitalismus, von der normannischen Rücksichtslosigkeit einer Elite erzählte, die jahrhundertelang nicht nur durch Sitten und Gebräuche vom gewöhnlichen Volk getrennt war, sondern auch durch ihre Sprache und Bildung. Und dass der englische Norden (mit Manchester) auch deshalb derart rücksichtslos ausgebeutet und in eine Landschaft verwandelt wurde, die bei Tolkien dann nicht ganz zufällig als Mordor auftaucht.

Die rücksichtslose Plünderung der Rohstoffe, die Zerstörung der Natur, die Ausbeutung rechtlos gemachter Billiglöhner, Globalisierung und Freihandel waren von Anfang an die Grundmuster dieser besonders (neo-)liberalen Spielart des Kapitalismus – und sie stecken auch in all den so genannten Klassikern der englischen Ökonomie, die Marx rezipierte.

Und sie bestimmten von Anfang an die Politik jenes England, das die Stabilisierung seiner inneren Konflikte zwischen dem reichen normannischen Südengland und dem armen Nordengland dadurch suchte, dass es über diesen „Stammeskonflikt“ ein größeres Britannien setzte, sich also auch noch Wales, Irland und Schottland einverleibte, sodass künftig nicht mehr von England die Rede war, sondern von Großbritannien.

Nord-Süd-Konflikt auf der Insel

Was für Außenstehende immer wieder den Blick darauf verstellt, dass das Ganze immer nur ein Projekt der südenglischen Elite war (genauso wie der Aufbau des britischen Kolonialreichs im 19. Jahrhundert), der eigentlich immer recht egal war, was in „Randengland“ geschah, so lange man in London den Zugriff auf Geld und Macht hatte. Das Mehrheitswahlrecht hat diese Konflikte regelrecht zementiert.

Hawes schreibt: „In den 1950er-Jahren verfestigte sich das Zwei-Parteien-System, Englands Nord-Süd-Konflikt, endgültig. Die Spaltung wurde durch das Mehrheitswahlrecht, das die Macht lokaler Mehrheiten auf die Spitze trieb, noch vergrößert. (…) Stattdessen wurde das Vereinige Königreich zwischen zwei Stammesparteien zerrieben, die in kulturell und wirtschaftlich verschiedenen Landesteilen ihren Ursprung hatten.“

Und während der industrialisierte Norden im 20. Jahrhundert zunehmend seine Wettbewerbsfähigkeit einbüßte, weil England mit dem billigen Pfund lieber billig einkaufte in der Welt, nahm das Übergewicht von London als zunehmend dereguliertem Finanzplatz immer weiter zu. Und den Marktradikalen und englischen Nationalisten war dann jede Einbindung Großbritanniens in die EU von Anfang an ein Dorn im Auge, denn gemeinsame Regeln störten beim entfesselten Deal-Machen in London. Nur hatten die Austrittsbefürworter lange Zeit keine Mehrheit. Die schafften sie erst nach der Unterzeichnung des Mastrichter Vertrags.

Shakespeares Königsdramen und die moderne Politik

Und während die meisten Europäer begrüßten, dass sich die europäische Integration jetzt verstärkte, planten die radikalen „Krieger der Anglosphäre“ ab 1993 den Brexit, gründeten die UKIP und formten auch eine „rebellische Tory-Elite“, die die eigentlich einmal europafreundliche Partei zunehmend unter Druck brachte und sich am Ende in die Führungsämter putschte. Dass die Labour-Partei selbst keine stabilisierende Rolle spielte, liegt an ihrer geradezu nationalistischen Sicht auf Europa.

Und auf einmal wird natürlich deutlicher, warum all die Königsdramen, die einst Shakespeare auf die Bühne brachte eigentlich dieselbe alte Geschichte erzählen wie die heutigen politischen Dramen im englischen Parlament. „Die Anti-EU-Bewegung entstammte keinem aufgestauten öffentlichen Zorn, sondern der Ideologie einer rebellischen Tory-Elite, sie war keine Massenbewegung, sondern das Vehikel für eine kleine Gruppe obsessiver, wohlhabender Individuen“, schreibt Hawes.

Der auch zeigen kann, wie dahinter noch der etwas abgewrackte Traum vom britischen Empire durchschimmert. Nur führt diese innenpolitische Überwältigung dazu, dass Großbritannien droht auseinanderzufallen – in Nordirland sind die einst unter Labour befriedeten Konflikte wieder aufgebrochen, in Wales und Schottland wird über Unabhängigkeitsreferenden nachgedacht.

Und wo man denkt, das müsste doch aus Londoner Sicht schlimm sein, zeigt Hawes’ Blick, dass genau das in Wirklichkeit das alte Tory-Südengland stärkt, denn die Nationalismen in Randengland entziehen Labour, das dort seine größten Wahlsiege feierte, die Machtbasis. Während der römisch-normannisch geprägte Süden stabil die Torys wählt und damit seine Macht stärkt.

Kleinnationalismen in der westlichen Demokratie

Nur für das große Ganze sieht das nicht so gut aus, stellt Hawes fest: „Die Engländer, gespalten wie immer und bald schon zum ersten Mal seit Jahrhunderten allein auf der Welt, sollten jetzt sehr klar darüber nachdenken, was vergangen ist, was verschwindet und was kommt.“

Aber werden sie das? Der Blickwinkel, mit dem Hawes sich die ganze 2.000-jährige Geschichte seit den Römern auf der Insel anschaut, macht eigentlich sehr deutlich, wie stark die uralten Kleinnationalismen die Politik heutiger Demokratien bestimmen. Ganz bestimmt könnte Hawes solche „kürzesten Geschichten“ auch noch über Frankreich, Spanien, Italien schreiben.

Geschichten, die sichtbar machen würden, wie uralte Eliten auch in der Demokratie ihre Vorteile suchen und finden und wie sie die scheinbar unabhängigen Parlamente dazu bringen, die obskursten Entscheidungen zu treffen, und das oft genug im Wissen, dass damit Probleme nicht gelöst werden und nur die Interessen kleiner, reicher und einflussmächtiger Gruppen bedient werden.

Auf einmal werden andere Logiken sichtbar als die, die in wohlgefälligen Polit-Talks durchgekaut werden. Und man lernt doch einiges darüber, wie sehr demokratische Wahlen noch immer alten Stammeskriegen ähneln, wenn auch zumeist wesentlich friedlicher ausgetragen, auch wenn es im Ergebnis um fast dieselben Dinge geht: Steuern, Land, Macht und ein paar schöne Kriegstrophäen für die guten Freunde daheim.

James Hawes Die kürzeste Geschichte Englands, Ullstein Verlag, Berlin 2021, 10 Euro.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür. 

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar