Sind Linke zu naiv? Zu blauäugig? Zu sehr überzeugt davon, dass man mit Inhalten Wahlen gewinnt und Machtverhältnisse ändert? Sind Linke also blauäugige Demokraten? Den Eindruck darf man durchaus bekommen, wenn man sich durch Stefan Daniel Krempls kleine Bestandsaufnahme zum asozialen Zustand unserer Gesellschaft liest. Aber: Hilft da eigentlich mehr direkte Demokratie? Die Antwort dürfte „Nein“ lauten.
Immerhin ist das die Empfehlung, die der Nürnberger Soziologe am Ende gibt, quasi als verheißungsvollen Ausblick nach einer niederschmetternden Bilanz. Von „wissensbasierter direkter Demokratie“ spricht er, in der nicht nur die Streiter um die Macht mit belegbaren Argumenten für ihre Position werben müssen, sondern Wähler/-innen auch nur mitmachen sollten, wenn sie sich vorher wirklich über die Argumente informiert haben.Aber wer sollte so einen Mechanismus einführen, wenn genau die Leute, die vom aktuellen Zustand unserer Gesellschaft profitieren, sich dagegen sowieso schon mit aller politischen Kunst verwahren?
Denn im Grunde ist Krempls Sammlung eine Beschreibung politischer Macht-Ungleichgewichte und der Verblüffung darüber, wie es dem 1 Prozent der Superreichen in Deutschland gelingt, ihre Interessen durchzusetzen und auch all diejenigen zu ihren Wählern zu machen, die bei dieser Art Politik stets die Angemeierten sind, die, die mit steigenden Mieten, miesen Löhnen, sinkenden Renten, steigenden Abgaben und überhöhter Steuerlast dafür bezahlen, dass sich die wirklich Reichen im Land die Konten füllen und immer weniger beitragen zum Wohlergehen der Mehrheit. Man könnte auch sagen: der Armen und Ausgeplünderten.
Im Grunde hätte sich Krempl auch erst einmal auf die ökonomische Analyse beschränken können, denn Zahlen lügen nun einmal nicht, sondern sie zeigen, wie eigentlich all diese nur scheinbaren sozialen Regeln im deutschen Finanzsystem dafür sorgen, dass die Schlecht- und Mittelbezahlten die Hauptlast des Sozialstaats und aller „Reformen“ zu tragen haben.
Hier geht es um Steuerfreibeträge, um Beitragsbemessungsgrenzen, um Pendlerpauschalen, Abrwack- und Elektroprämien, Steuervorteile für Leute, die sich Immobilien und neue Autos leisten können, und die Barrieren für Mieter, die die Last der steigenden Immobilienpreise bezahlen, selbst aber nie auch nur die Chance bekommen, selbst zu Immobilienbesitzern zu werden.
Das alles ist nicht unbekannt. Aber Krempl hat fleißig gesammelt, sodass auch all jene, die sich immer nur gewundert haben, warum sie bei allem Fleiß und allen „tollen Lohnerhöhungen“ doch immer nur arm bleiben, nie Geld auf der hohen Kante haben und für alles draufzahlen, weil sie sich weder Waschmaschinen noch ein neues Auto schnell mal cash kaufen können, nie auf einen grünen Ast kommen oder das Hamsterrad mal aufhört.
Krempl zeigt sehr schön, dass das alles mit Geldflüssen zu tun hat, mit Zinspolitik und lauter seltsamen Regeln, die Banken das Schöpfen von Geld ermöglichen, Haus- und Garagenbesitzer bevorteilen, Gutverdiener von Krankenkassenkosten entlasten und ihnen bessere Möglichkeiten zur Steuerminimierung geben. Und Krempl ist durchaus bewusst, dass das damit zu tun haben muss, dass die Unter- und die Mittelklasse in der Politik praktisch nicht vertreten sind.
Was auch wieder mit politischen Laufbahnen zu tun hat, die man sich leisten können muss, mit Auslesemechanismen in Parteiapparaten, aber auch mit Auslesemechanismen, die schon in der Schule beginnen und Menschen aus finanziell benachteiligten Familien den beruflichen Aufstieg schon frühzeitig verhageln. Nicht nur, weil sie das Geld für Privatschulen nicht haben und meist an Brennpunktschulen landen.
Sondern auch, weil spätestens nach dem Abitur die Frage steht, ob die Eltern sich das noch leisten können. Denn das BaFÖG reicht schon lange nicht mehr, ein Vollzeitstudium zu finanzieren. Schon gar in den wirklich beliebten Universitätsstädten, wo die Preise für eine Studentenbude in der Regel das Komplettgehalt eines Malochers übersteigen.
Eigentlich alles Baufehler, die längst bekannt sind. Aber trotzdem gewinnen konsequent immer wieder Parteien, die weitere Steuerkürzungen versprechen, den Sozialstaat für zu fett erklären und den Wähler/-innen immer wieder ein Weiterso versprechen. So wie jetzt gerade. Und da staunt man natürlich, dass Krempl auch noch Springer-Chef Matthias Döpfner zitiert, der wiederum den Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger zitierte, der wieder eine Studie von Weischenberg, Malik & Scholl ausgewertet hatte.
Das alles stammt aus dem Jahr 2005, als sich dann alle über die Parteipräferenzen der 1.500 befragten Journalisten und Journalistinnen wunderten. Denn das klang ja geradezu nach linker Brille, wenn 36 Prozent der Befragten angaben, die Grünen zu präferieren, 25 Prozent die SPD und nur 11 Prozent CDU/CSU.
Ein Ergebnis, das nicht nur Springer-Chef Döpfner genüsslich wiederholte. Das aber 2010 durch eine ähnliche Erhebung unter Politikredakteur/-innen bestätigt wurde.
Und da grübelt man schon. Denn während rechtsradikale Politiker daraus eine links-grün dominierte Medienmacht definieren, zeigt jeder Blick in die meinungsprägenden großen Medien, dass hier alles Mögliche vorherrscht, nur eher selten ein linker kritischer Geist.
Aber auch Krempl übernimmt diese seltsame Interpretation, obwohl er wenig weiter anmerkt, dass auch und gerade in den großen deutschen Medien eine straffe Auslese passiert. Denn die Medienpolitik bestimmen nicht die Journalisten. Die wird von den Besitzern bestimmt. Die durchaus auch wissen, welchen Einfluss schlagkräftige Zeitungen und Sender haben, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen.
Gerade wieder schön ablesbar an der durchaus konzertierten Demontage der grünen Spitzenkandidatin Annalena Baerbock. Denn wie Kampagnen funktionieren, weiß man in diesen Häusern. Skandalisierung erhöht jede Auflage und sorgt für Aufmerksamkeit.
Das ist heute selbst in den Zählsystemen jedes Online-Auftritts ablesbar. Die tiefgründigen, sachlichen Artikel, die sich mit den Inhalten von Politik beschäftigen, erreichen viel weniger Leser/-innen als die, in denen den Lesern ein Showdown, ein Skandal, eine menschliche Demütigung versprochen werden.
Das funktioniert nicht nur in Boulevardmedien (die daraus übrigens eine enorme Macht generieren), das funktioniert so auch in der politischen Berichterstattung der sogenannten seriösen Medien, die oft nicht einmal wissen, auf welcher Grundlage sie funktionieren.
Natürlich fehlt diese Hinter-den-Kulissen-Betrachtung bei Krempl. Er ist ja kein Journalist. Die lange Quellenliste im Anhang seines Buches aber beweist, dass er emsig Medien aller Art konsumiert. Aber eben vor allem als Nutzer, der erst einmal nicht fragt, wo ein Matthias Döpfner seine Zahlen herhat. Das hat auch das Kommentarmedium „Übermedien“ nicht getan, als man dort meinte, die Zahlen irgendwie erklären zu müssen.
Als müsste man das tun, als müssten sich Journalist/-innen dafür rechtfertigen, dass sie sich schon von Berufs wegen eher „links“ einordnen. Wobei der Begriff irreführend ist. Denn Journalismus ist, wenn er ernst genommen wird, von Natur aus „links“, weil er nun einmal vom Aufklären, Erhellen, Kritisieren lebt. Er ist nicht die „vierte Macht“, weil er mit Kampagnen Einfluss auf Politik nimmt (was leider viele Medien trotzdem machen), sondern weil er das Gegebene nicht als gegeben nimmt, sondern in der möglichst umfassenden Information der Leser/-innen und Zuschauer/-innen seine zentrale Aufgabe sieht.
Womit wir viel näher an dem Punkt sind, warum rechtsradikale Akteure die „Mainstreammedien“ nicht mögen, denn „rechts“ mag keine Aufklärung, keine Tiefenrecherche, keine nachgeprüften Fakten. Da mag man eher Verschwörungstheorien.
Aber Krempl hat auch recht, wenn er auf den sozialen Hintergrund der meisten Redakteur/-innen eingeht: Sie stammen fast alle aus wohlhabenden Akademikerelternhäusern. Denn für den Journalismus gilt genauso wie für alle anderen geisteswissenschaftlichen Berufe: Man muss sich Ausbildung und Berufseinstieg leisten können. Denn der ist lang und führt in der Regel über eine Menge schlecht bezahlter Praktika und Volontariate. Was übrigens auch in „Die Souffleure der Mediengesellschaft. Report über die Journalisten in Deutschland“, von Siegfried Wischenberg, Maja Malik und Armin Scholl steht, das die von Kepplinger zitierte Studie enthält.
Journalisten haben zumindest ein Gefühl dafür, wie Medien funktionieren. Aber sie können den Regeln nicht entkommen. Auch wenn sie es versuchen und jede Menge Sympathien für sozial gesinnte Parteien haben, die sehr gut erklären können, warum sie welche Reformen umsetzen möchten. Und es sind nun einmal linke Parteien, die über – soziale – Veränderungen nachdenken. Was Parteien des wohlhabenden Bürgertums nicht nötig haben. Warum auch? Sie würden ja ihre Wählerschaft und ihre Spender verprellen, wenn sie ihnen Veränderungen zumuten würden, gar Verzicht.
Und trotzdem gewinnen sie Wahl um Wahl und bekommen auch noch die Stimmen der armen Socken, die hinterher doch wieder nicht mehr verdienen, sich dumm und dämlich zahlen im Supermarkt, wo sie eine völlig andere Inflationsrate haben als die Gutverdiener. Oder sie wählen gleich rechtsradikale Parteien, weil sie dort eins ihrer Hauptprobleme benannt sehen: Die unerbittliche Konkurrenz um die Billigjobs, um die sie sich nämlich nicht nur mit den anderen Armen und Schlechtausgebildeten prügeln, sondern auch mit den Migranten, die nach Deutschland kommen.
Ich gebe es zu: Das Kapitel zu Flüchtlingen und Abschiebepolitik ist ziemlich ungenießbar, weil Krempl offensichtlich doch wieder auf die Argumentation von konservativen Abschottungspolitikern hereingefallen ist. Aber im Kern benennt er etwas Wichtiges: Dass das Benutzen von ausländerfeindlichem Vokabular auch ein politisches Instrument des „Teile und Herrsche“ ist. Denn wer die Malocher dazu bringt, gegen ihre dunkelhäutigen oder anderssprachigen Kollegen zu wüten und zu giften, sorgt dafür, dass sie als Wähler für linke Parteien ausfallen.
Denn die so Aufgestachelten sehen ihren Feind im „Flüchtling“ und sehen nicht, dass der Mensch neben ihm, der noch schlechter bezahlt ist, genau deshalb noch schlechter bezahlt wird, weil man so alle Billigjobs weiter unter Druck bringen kann. Denn wer da unten in jenem Drittel leben muss, das vom Wirtschaftsaufschwung seit über 20 Jahren nichts mehr gemerkt hat, der findet sich in einer unerbittlichen Konkurrenz um Arbeitsplätze wieder, die allesamt so schlecht bezahlt sind, dass auch für die Kinder und Enkel nicht an einen gesellschaftlichen Aufstieg zu denken ist.
Und natürlich landet er in einer Welt, in der man sich nur noch das Nötigste leisten kann, sich schlechter ernährt, gesundheitlich schlechter versorgt wird und eigentlich keine Möglichkeit hat, einfach mal ein Sabbat-Jahr einzulegen, eine Kur oder eine Weltreise. Nicht mal mit den hochsubventionierten Flugzeugen und Kreuzfahrtschiffen, in denen sich die Reichen so wohlfühlen.
Da bieten sich die Grünen natürlich geradezu an als Projektionsfläche, weil ausgerechnet die Wahlkämpfer, die sowieso schon reich sind und weitere Steuersenkungen wollen, den Grünen vorwerfen können, diese würden die Lasten des Klimaschutzes ausgerechnet bei den Wenigverdienern abladen. Genau das, was jetzt vier konservative Regierungen stets mit Lust und Laune gemacht haben – ohne die Klimawende auch nur anzupacken.
Aber dafür beherrschen konservative Parteien einen Trick, den die eher linken Parteien bis heute nicht begriffen haben. Denn wer keine Inhalte hat, muss auch nicht mit diesen Inhalts-Freaks über Inhalte diskutieren. Warum auch, wenn Inhalte in den Medien nur einen kleinen Bruchteil der Menschen erreichen?
Es ist doch viel wirkungsvoller, wenn man seine Möglichkeiten vollkommen dazu nutzt, den politischen Gegner persönlich fertigzumachen. Das, was schon Aristoteles kannte und was die moderne Soziologie Ad-hominem-Argumente nennt und was Wikipedia auf diese schöne Gleichung gebracht hat:
„Der Gegner behauptet, dass p.
Der Gegner ist inkonsequent/dumm/unfähig/unwahrhaftig/selbstsüchtig.
Daher:
p ist abzulehnen.“
Und jetzt zitiere ich einfach mal den Einstieg in einen frischen „Spiegel“-Beitrag, dann wissen Sie, wie das geht: „Politisch unbedarft, strukturell überlastet. Darum entgleitet den Grünen der Wahlkampf“.
Diskutiert irgendjemand über die Inhalte der Grünen (die übrigens den Großteil von Annalena Baerbocks Buch „Jetzt!“ ausmachen)? Nein. Man diskutiert lieber über nicht gekennzeichnete Zitate. Und natürlich die Kandidatin, die aus Sicht eines hochakademischen Klientels damit „unfähig“ wird. Und damit zur Lieblingszielscheibe zahlreicher Kommentatoren, die sich darüber auslassen, wie unmöglich diese Frau als Spitzenkandidatin ist.
Womit ich natürlich wieder beim Selbstbild der Journalist/-innen bin, die sehr wohl in ihrer Laufbahn eingetrichtert bekommen, welche Geschichten „ziehen“ und wie man Politik auf die Personen zuspitzt. Und damit auch die gesamte politische Berichterstattung. Ohne sich überhaupt jederzeit bewusst zu sein, woher die ihnen gelieferten Nachrichten, Statements, „Studien“ und Kampagnen eigentlich stammen.
Denn natürlich haben die Reichen auch noch jede Menge Geld, um ihre „Think Tanks“ zu füttern, Lobbyarbeit zu finanzieren, Politiker zu bestechen und mit schönen Jobs nach Ende der politischen Laufbahn zu beschenken. Geld, das Bürgerbewegungen, Initiativen und auch Umweltvereine nicht haben. Wer am Ende jedes Monats glücklich ist, dass das Konto nicht im Minus steht, der hat kein Geld, um sich Politiker gefällig zu machen, Anzeigenkampagnen zu bezahlen oder Rechtsanwälte, die einem auch nur das Recht verschaffen, das einem eigentlich als Bürger zusteht.
Auch das Kapitel hat Krempl nicht ausgelassen: die Deformation unseres Rechtssystems dadurch, dass man – um Recht zu bekommen – sich auch hochbezahlte Anwälte und mehrere Gänge vor Gericht leisten können muss. So nach und nach reißt das schöne heile Deutschland-Bild auf, auch weil Krempl konsequent von „Wir“ spricht und sich radikal mit all den Menschen solidarisiert, die beim Mieten genauso abgezockt werden wie beim Lohn, bei der Steuer, der Rente und der Mobilität.
Den Menschen, die – je nach Betrachtung – ein Drittel oder die Hälfte unserer Gesellschaft ausmachen, von denen die meisten schon lange nicht mehr wählen gehen, weil am Ende trotzdem nichts für sie dabei herausgekommen ist.
Oder die aus lauter Frust rassistische Parteien wählen, weil der scheinbare Arbeitsplatzkonkurrent viel greifbarer ist als der lächelnde Herr Dr., der die besten Beziehungen zum jeweiligen Minister hat und natürlich tausend bessere Zugänge zu den Medien, die in Deutschland das Bild von einer Wirklichkeit erzeugen, die mit der erlebten Realität ganz unten im Mustopf wenig zu tun hat. Und schon gar nicht mit den Leuten, die auch dann noch abgezockt werden, wenn sie unverschuldet in Schulden geraten sind, aus der Krankenversicherung geflogen oder gar aus der Wohnung.
Während Banken, die den Staat um Steuern betrogen haben, auch noch gerettet und hofiert werden, Aktienspekulationen geduldet werden, Vermögen nur minimal besteuert werden, riesige Konzerne ihre Gewinne fast unversteuert außer Landes schaffen. Usw. Die deutsche Politik trägt durchaus die Handschrift derer, die sie sich gekauft haben. Was dann das schöne Wort „asozial“ im Titel begründet. Aber hier steht es einmal goldrichtig. Denn mit sozial hat diese Politik nicht mehr viel zu tun.
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